FRAU? MANN? ENTWEDER-ODER? SOWOHL-ALS-AUCH? WEDER-NOCH? NICHTS VON ALL DEM? – Ein neuer Blick auf die Geschlechterfrage

Weniges ist zur Zeit gesellschaftlich so im Umbruch wie die Geschlechterfrage. Kaum ein Tag, jedenfalls keine Woche vergeht, ohne dass in den deutschsprachigen Leitmedien diese Frage thematisiert wird: das Selbstbild und die Rolle von Frau und Mann, ihre berufliche und sonstige soziale Gleichberechtigung, Ehe für alle, Hetero-/Homo-/Intersexualität, sexuelle Gewalt, #metoo… Alte Normen und Tabus werden auf den Müllhaufen der Geschichte geworfen und vielfach durch neue ersetzt; alte Gesetze revidert, neue beschlossen; die Toleranz wächst in Teilen der Gesellschaft offenbar im selben Maße wie in anderen die Intoleranz… Gerade die zunehmende Spaltung der Gesellschaft (zukunfts-/vergangenheitsorientiert, progressiv/konservativ, liberal/autoritär, urban/ländlich…) manifestiert sich in der Geschlechterfrage so deutlich wie in wenigen anderen Bereichen.

Ich möchte dieses Thema jetzt aus einer umfassenderen Perspektive betrachten als der des persönlichen Gutdünkens, der subjektiven Sympathien und Abneigungen.

Der amerikanische Philosoph Ken Wilber hat eine Betrachtungsweise entwickelt, die — meiner Überzeugung nach — wie keine sonst jeden Aspekt einer Sache aufzeigen kann. Wilber stellt einerseits Außen und Innen gegenüber — außen der Bereich des Objektiven, sinnlich Erfassbaren, des „Zählbaren, Messbaren und Wägbaren“ ; innen der Bereich des des Subjektiven, der Gedanken, Empfindungen, Willensimpulse… — Und zum Zweiten hat jede dieser beiden Seiten der Wirklichkeit einen individuellen und einen kollektiven / sozialen Aspekt, sodass sich vier Quadranten ergeben:

Sexualität hat wie alles andere vier Seiten:

  • Das biologische Geschlecht, erkennbar an den physischen Geschlechtsmerkmalen; es prägt das Fremdbild eines Menschen (Mann oder Frau), sowie die damit verbundenen Geschlechtszuschreibungen (jemand mit diesen und diesen Merkmalen „ist“…). / In der Grafik rechter oberer Quadrant (RO).
  • Meist identisch mit dem „objektiven“, biologischen Geschlecht ist auch das „subjektive“, das „empfundene Geschlecht“, das sexuelle Selbstbild mit den jeweiligen Geschlechtszuschreibungen. Meist ident, aber — wie zur Zeit immer öfter laut ausgesprochen wird — beileibe nicht immer. / Linker oberer Quadrant (LO).
  • Jede Kultur hat ihre eigenen Paradigmen bzgl. Sexualität, ihre expliziten und unausgesprochenen Rollen- und Verhaltenszuschreibungen, ihre Normen und Tabus (eine Frau / ein Mann kann / darf / muss… bzw. kann / darf / muss nicht…). Dieses „Wir“ bietet für die Mitglieder einer Gruppe einen Identifikationsrahmen, Orientierung und Sicherheit, sie engt aber dadurch auch ein und kann äußerst autoritär werden. / Linker unterer Quadrant (LU).
  • Dieser Konsens drückt sich in einer Vielzahl von geschlechtsspezifischen gesellschaftliche Strukturen aus (z.B. was Karrieremöglichkeiten und Einkommen betrifft), in Regeln, Gesetzen, Ge- und Verboten (z.B. Diskriminierungsverbote), sowie in diversen Einrichtungen (z.B. getrennten oder gemeinsamen Kirchenplätzen, Fußgeherampeln, geschlechterneutralen Sprachregelungen, öffentlichen Toiletten…). / Rechter unterer Quadrant (RU).

Wie erhellend diese vierfache Betrachtungsweise ist (und wie reduktionistisch die meisten anderen dagegen sind), wird auch beim Geschlechter-Thema sofort deutlich, wenn man die vier Aspekte der Sexualität in ihrem Zusammenspiel betrachtet. Wenn etwa nun in einer Reihe von Ländern die „Ehe für alle“ gesetzlich erlaubt wird (RU), so drückt sich darin ein Konsens aus (LU), der vor etlichen Jahren noch undenkbar gewesen wäre (wie die „Homoehe“ ja für viele Menschen nach wie vor ein rotes Tuch ist). Hier wird eine Gleichberechtigung gesetzlich festgeschrieben, die es nun gleichgeschlechtlichen Paaren gestattet, ihre Partnerschaft genau wie alle anderen auch verbindlich zu machen und zu sagen: „Wir sind verheiratet!“ (RO) — was für diese Menschen eine beglückende Befreiung darstellt (LO).

Die genannte Liberalisierung und Gleichstellung der letzten Jahrzehnte markiert einen hochinteressanten Umschwung: War es jahrhundertelang die Gesellschaft, mit ihren expliziten und stillschweigenden, dafür umso machtvolleren Spielregeln, Normen und Tabus (LU), die dem Individuum vorgeschrieben hat, wie es sich als Frau / Mann zu verhalten habe, so macht sich mehr und mehr das Individuum (LO) geltend und beansprucht, unabhängig von der Gesellschaft und ihren Zwängen so sein zu dürfen wie es sein will, und das nicht nur heimlich, sondern bei helllichtem Tage, für alle sichtbar (RO). Die unsichtbare Trennlinie, die die Gesellschaft heute spaltet wird etwa sichtbar, wo sich zwei Frauen oder zwei Männer öffentlich zu küssen trauen. (Übrigens, für die Jüngeren hier: ein öffentlicher Kuss war zu meiner Jugend generell tabu! Händchenhalten war das Äußerste des Tolerierten.)

Der österreichische Philosoph Rudolf Steiner hat diesen Umschwung in einem. Aufsatz („Freiheit und Gesellschaft“, 1898) als „soziologisches Grundgesetz“ beschrieben:

„Die Menschheit strebt im Anfange der Kulturzustände nach Entstehung sozialer Verbände; dem Interesse dieser Verbände wird zunächst das Interesse des Individuums geopfert; die weitere Entwicklung führt zur Befreiung des Individuums von dem Interesse der Verbände und zur freien Entfaltung der Bedürfnisse und Kräfte des Einzelnen.“

Anders ausgedrückt, das Kollektive, das WIR (die Traditionen, Normen, Tabus; LU), sowie die gesellschaftlichen Strukturen (RU) determinierten das Individuum:

Dies kehrt sich nun zunehmend um. Das Individuum befreit sich von gesellschaftlichen Zwängen; es strebt seine freie Entfaltung an und fordert sie unnachgiebig ein. Die Kultur orientiert sich zunehmend am Individuum anstatt umgekehrt, und auch die Gesetze tragen dem immer mehr Rechnung. Der Staat definiert sich nicht mehr über seine Macht über das Individuum wie es Theokratien und Diktaturen noch immer tun; er definiert sich über den Freiraum, den er den Individuen ermöglicht.

Wir haben es also auch beim Thema Sexualität mit einem Element der menschheitlichen Entwicklung zu tun, der Individuation.

Damit erscheint ein weiterer Aspekt des Geschlechterthemas in einem neuen Licht: die sexuelle Identität. „Ist“ eine Person ein Mann? eine Frau? beides? keins von beiden? Bislang schien es völlig klar, dass ein Mensch mit bestimmten Geschlechtsmerkmalen entweder Frau oder Mann war. Das Äußere (RO) determinierte aufgrund einer historisch gewachsenen Kultur der Sexualität (LU) das Innere (LO); die Gesellschaft mit ihren daran ausgerichteten Gesetzen (RU) steuerte das Individuum. Diese klare Orientierung ist offenbar dabei sich aufzulösen. Von der Norm abweichende sexuelle Identitäten werden nicht mehr tabuisiert und totgeschwiegen, sondern dürfen ihre Eigentümlichkeit aussprechen, neben die Mehrheitsidentität stellen und gleiche Rechte beanspruchen. Sogar von Kindern und Jugendlichen wird nun bekannt, dass nicht wenige von ihnen eine Geschlechtsidentität (LO) haben, die nicht mit ihrem Körper und ihren Geschlechtsmerkmalen (RO) korreliert. Sie müssen sich jetzt nicht mehr als minderwertig, fehlgebildet, abartig oder sonstwas empfinden; sie dürfen sein, was sie sind, und es ist OK so.

Hierin scheint mir ein zweiter Evolutionsschritt sichtbar zu werden, der auf der Individuation aufbaut: die Emanzipation der individuellen Geschlechtsidentität von der Physis. Der Körper (RO) determiniert nicht mehr, ob sich jemand als Frau oder Mann oder was auch immer empfindet (LO). Entscheidend ist vielmehr umgekehrt die empfundene sexuelle Identität, die sexuelle Selbstzuschreibung — egal, wie der Körper beschaffen ist. Und – was von ungeheurer Bedeutung für diese Menschen ist – das wird gesellschaftlich zunehmend so akzeptiert, wo nicht sogar bejaht und unterstützt (LU) und gesetzlich als gleichberechtigt anerkannt (RU). Die Physis tritt gegenüber Seele und Geist in den Hintergrund und verliert ihre determinierende Bedeutung. Was nichts anderes heißt als Freiheit.

Es zeichnet sich also in den derzeit bewegten Geschlechterfragen ein Evolutionsschritt der Menschen ab, eine Individuation und Befreiung, sowohl von der Gesellschaft als auch von der Physis. Wenn dem so ist — und ich bin überzeugt davon –, dann ist diese Entwicklung nicht aufzuhalten. Dann mag es Menschen geben, die mit diesem Schritt noch nicht zurechtkommen weil er ewiggültige, unverrückbare Normen über den Haufen wirft und damit ihr psychisches und soziales Fundament ins Wanken bringt (was die intoleranten und oft rabiaten Reaktionen nachvollziehbar macht). Es wird hier noch viel Toleranz auf beiden Seiten notwendig sein, nicht nur bei denen, die dieser Entwicklung kritisch gegenüberstehen, sondern auch bei jenen, die sie vorantreiben (vgl. Karen Stenner!). Von entscheidender Wichtigkeit für die gesamte Geschlechterdiskussion ist jedenfalls die Einsicht, dass

  • das Geschlecht keine Frage von Organen, sondern eine Frage der Selbstzuschreibung ist, mit der jeder Mensch für sich in Freiheit umgehen können muss (LO);
  • jeder Mensch seine Identität auch ungehindert leben können muss (RO);
  • die Gesellschaft dem in einer Kultur der Toleranz und Akzeptanz freilassend gegenüberstehen sollte (LU); und dass
  • die sozialen Strukturen, Einrichtungen, Regeln und Gesetze das unterstützen und absichern sollten — nach dem Prinzip der unterschiedslosen Gleichheit vor dem Recht (RU). Justitia trägt nicht ohne Grund eine Augenbinde; sie muss auch ohne Ansehen des Geschlechts, d.h. der sexuellen Identität entscheiden.

Hieraus folgt die völlige Unhaltbarkeit jeglicher rechtlichen oder sonstigen strukturellen Diskriminierung aufgrund des Geschlechts. Die Stunde der Befreiung der Geschlechter und der vorbehaltlosen Gleichberechtigung nicht nur von Frau und Mann, sondern aller geschlechtlichen Identitäten hat geschlagen.


[Diese in kürzeren Abständen erscheinenden Beiträge setzen sich mosaikartig zu einem neuen Gesamtgesellschaftsmodell zusammen. Sie sollen dessen organische Konsistenz und universelle Anwendbarkeit zeigen. Ihr eigentlicher Sinn und Zweck ist jedoch die Umsetzung dieses Modells – im Kleinen wie im Großen. Dafür müssen Sie weiter verbreitet werden. Vielen Dank im Voraus!]

Read more

ZUR VERTEIDIGUNG DES RECHTSSTAATS

ZUR VERTEIDIGUNG DES RECHTSSTAATS

Am 19. Februar 2025 haben sechs Bürgerrechtsorganisationen eine gemeinsame Erklärung zur anstehenden Bundestagswahl veröffentlicht: "Gegen die Angriffe auf den demokratischen Rechtsstaat!" Die dort geäußerten Sorgen um die Rechtsstaatlichkeit teile ich ohne Einschränkung: die Infragestellung der Grund-/Menschenrechte, martialische Law-and-Order-Forderungen, exekutiven Ungehorsam (also die Strategie, Gerichtsentscheide schlicht zu ignorieren)

By Hanspeter Rosenlechner