2018 – (K)EIN PESSIMISTISCHER AUSBLICK

Seien wir realistisch: Nichts wird im nächsten Jahr besser werden — Klimaerwärmung, globale Zerstörung der Lebensräume, Artensterben, Nationalismus, Fundamentalismus, Populismus, Radikalisierung und Spaltung der Gesellschaft… Warum sollte es auch besser werden? Gibt es denn irgendein Anzeichen, dass die Entscheidungsträger in Politik und Wirtschaft die Probleme grundlegend angehen? Dass sie — wenn überhaupt — mehr als nur kosmetische Lösungen verfolgen? Scheinlösungen, die die Symptome lindern wie eine Schmerztablette, die eigentliche Krankheit aber nicht angehen? In Wirklichkeit machen sie das Grundübel schlimmer — wie ein Zahn, der weiter fault, auch wenn er mit Aspirin weniger weh tut.

Es ist genau dieses Wegschauen und Schönreden der ökosozialen Probleme, die die Bürger mehr und mehr auf die Palme bringt. Aber es stimmt: Grundlegende Lösungen sind unpopulär. Einerseits laufen sie den Interessen der GeldMacht zuwider — jener unseligen Verbindung von Kapital und gesellschaftlichem Einfluss, die bislang alle ökosozialen Entwicklungen bestimmt und echte Veränderungen zu verhindern weiß. Andererseits kann man mit notwendigen Maßnahmen, die oft auch unerfreuliche Nebenwirkungen für die Menschen haben keine Wahlen gewinnen. (Noch brennt der Hut nicht genug. Noch tut es nicht weh genug. Aber das ist nur eine Frage der Zeit.) Und weil sich die Politik den Ast absägt, auf dem sie sitzt, wenn sie etwas beschließt, weswegen sie i.d.F. die Wahlen verliert kann sie gar nicht anders als einen Problemvermeidungskurs zu fahren. Demokratische Politik beruht auf Macht, Macht kommt ihr durch Wahlsiege zu, und Wahlen gewinnt man nicht mit unpopulären Maßnahmen. Augen auf: Demokratische Politik war seit jeher populistisch (schaut euch nur eines von Shakespeares Römerdramen an!). Populismus ist Teil ihres Wesens.

Es ist eine traurige Tatsache, dass echte Veränderungen erst stattfinden, wenn der Leidensdruck groß genug ist. Das heißt umgekehrt, je schlimmer es wird, desto größer das Veränderungspotential. „Wo aber Gefahr ist, wächst / Das Rettende auch” schrieb Hölderlin in seiner Hymne Patmos (1803). Was vielfach so missverstanden wurde als wüchse „das Rettende” schon von selber irgendwie, weshalb man sich zurücklehnen und entspannen könne. Niemand, der mehr bei Verstand ist als der derzeitige US-Präsident wird das heute noch ernsthaft in Erwägung ziehen. Nein, die eingangs erwähnten Entwicklungen sind allesamt vom Menschen verursacht und können nur durch einen Gesinnungswandel der Menschen verändert werden. Was bis dahin wächst, sind — außer diesen Gefahren selbst — der Leidensdruck durch diese Probleme, die mit einem Kurswechsel verbundenen Schwierigkeiten und Anforderungen, aber eben auch die Einsicht in die Verantwortung der Menschheit künftigen Generationen und der Erde gegenüber.

Es ist wiegesagt von entscheidender Bedeutung, dass nicht bloß symptomatische, sondern grundlegende Lösungen gesucht und umgesetzt werden. In früheren Beiträgen habe ich deshalb betont, dass die Veränderungen in die Systeme eingreifen müssen, die all die Probleme laufend hervorbringen — in die Strukturen und Abläufe, die mit der Gesetzmäßigkeit eines falsch programmierten Betriebssystems diese Probleme generieren. Wenn ein Betriebssystem wie Android durch seine grundlegende Konzeption hunderte kritische Schwachstellen für Hacks aufweist, dann sind Patches bloß symptomatische Lösungen: Flicken, die momentan die größten Löcher stopfen, aber nicht das grundlegende Problem des offenen Aufbaus lösen, der unweigerlich immer neue Angriffe provozieren wird. Ein solcher Kurswechsel, eine solche systemische Veränderung würde aber — und damit komme ich auf den Punkt — ein grundlegendes Umdenken erfordern, einen Paradigmenwechsel.

Ein solcher gesellschaftlicher Paradigmenwechsel wird auch notwendig sein, um die Systeme zu verändern, die die GeldMacht in den letzten Jahrhunderten geschaffen hat. Erst geschah das ohne gesellschaftliche Legitimation, seit dem 20. Jahrhundert, was die Politik betrifft, mit. Die mittlerweile größte GeldMacht jedoch, die der Märkte und ihre Entscheidungsträger, ist nach wie vor in keiner Weise demokratisch legitimiert. Darum (und weil doch für viele genug dabei abfällt) kann der Kapitalismus sein ökosoziales Zerstörungswerk bislang fortsetzen. Den ganz normalen Wahnsinn.

Also liebäugeln Kapitalismuskritiker — auch die klügsten unter ihnen — wieder vermehrt mit dem Sozialismus. Es muss ja nicht gleich wieder die stalinistische Hardcore-Version sein. Und seit jeher wird angesichts der katastrophalen Auswirkungen dieses Konzepts entschuldigend vorgebracht: Den echten Sozialismus habe es ja noch gar nie gegeben, der harre nach wie vor seiner Realisierung. Darum los, diesmal werden wir Gleichheit, Gerechtigkeit und Solidarität verwirklichen! — Dabei hat jeder Anlauf in einem mehr oder weniger großen Albtraum geendet. Wusste doch schon der Mathematiker und Philosoph Blaise Pascal (1623–1662):

Jamais on ne fait le mal si pleinement et si gaiement que quand on le fait par conscience. (Nie tut man das Böse so vollkommen und so freudig, als wenn man es im Einklang mit seinem Gewissen tut.)

Weshalb u.a. auch Sartre den GULAG als unumgängliche Vorstufe zum wahren Sozialismus rechtfertigte und nie ein Wort der Kritik über die UdSSR verlor. Was vollbringt man nicht alles aus Treue zu seinen Idealen! Für das Paradies auf Erden sind doch ein paar Millionen Tote, Terror, Unterdrückung, Folter, Zwangsarbeit, Zwangs-Psychiatrisierung… ein geringer Preis. – Auch diesbezüglich war Hölderlin hellsichtig: „Immerhin hat das den Staat zur Hölle gemacht, daß ihn der Mensch zu seinem Himmel machen wollte”, schrieb er in seinem Hyperion (1797).

Die verheerenden Folgen des Sozialismus lagen also nicht daran, dass die falschen Leute am Werk gewesen wären oder weil sie es falsch angepackt hätten, was logischerweise ein Freibrief für den nächsten Anlauf wäre. Nein, sein Grund-Ansatz war falsch. Wenn Marx seine Konkurrenz, die Anarchisten als „utopische” Sozialisten diffamierte und ihnen seinen Sozialismus als allein „wissenschaftlich” gegenüberstellte, sprach er damit seinen größten Irrtum aus: dass man die Gesellschaft wissenschaftlich erfassen und ihre Entwicklung prognostizieren könne. Dieser Irrtum beruhte auf dem wissenschaftlich-mechanistischen Denken, das im 19. Jahrhundert seinen Siegeszug feierte. Alles Nicht-Mechanische wurde auf seine mechanischen Aspekte reduziert („der Mensch ist nichts als…”) und dann quasi-mechanisch behandelt (vgl. die berühmte Fabrik-Szene in Charlie Chaplins Modern Times!).

Nein, der heute notwendige Paradigmenwechsel kann nicht in einer Reanimierung sozialistischer Utopien bestehen. Er darf in keinerlei Utopie bestehen. Denn jede Utopie ist eine idealisierte Zukunftsprojektion, und wenn die jetzigen Verhältnisse ihr nicht entsprechen, müssen sie eben zurechtgebogen werden („und bist du nicht willig, so brauch ich Gewalt!“). Dieser Ansatz tritt von außen auf die Gesellschaft zu und versucht sie von außen zu verbessern. Das ist sein folgenschwerer Kapitalfehler. Und ein weiterer ist es, bessere Menschen als die real existierenden vorauszusetzen (weniger egoistische, weniger gewaltbereite, weniger gierige…), damit die „neue Gesellschaft” funktioniert. Das kann man sich abschminken. Wenn ein Gesellschaftsmodell funktionieren soll, dann muss es mit den Menschen funktionieren so wie sie hier und jetzt sind.

Der grundlegende Paradigmenwechsel besteht darin, hinzuschauen, was in der Gesellschaft von innen, aus den Bedürfnissen der Menschen selbst werden will und deshalb früher oder später werden wird. Es gibt nur drei solche gesellschaftlichen Grundbedürfnisse:

  • das Bedürfnisse nach FREIHEIT— es hat sich unaufhaltsam in allen liberalen Gesellschaften durchgesetzt und lebt dort als Pluralismus, Toleranz, Individualismus…
  • das Bedürfnis nach GLEICHHEIT— es hat sich unaufhaltsam in allen Demokratien durchgesetzt und lebt dort durch eine konsequente Trennung von Regierung, Gerichten und Parlament (Gewaltenteilung). Und
  • das Bedürfnis nach BRÜDERLICHKEIT. Damit ist kein sozialromantisches „Alle Menschen werden Brüder” gemeint, sondern ganz konkrete wirtschaftliche Verhältnisse, die ermöglichen, dass die Menschen das zum Leben haben was sie brauchen. Das Streben nach einem brüderlichen (sozialen, Gemeinwohl-orientierten) Wirtschaften konnte sich bislang noch am wenigsten ausleben. Das liegt keineswegs am Egoismus der Menschen, sondern daran, dass nur ein kleiner Teil von ihnen diesen Egoismus ausleben kann! Womit der Kreis sich wieder schließt: Die GeldMacht hat bislang erfolgreich verhindert, dass auch in der Wirtschaft das Recht des Stärkeren durch demokratische Grundregeln ersetzt worden wäre. Aber wenn schon Egoismus, dann für alle! Auf Entwicklungen, die sie existenziell betreffen müssen alle Einfluss haben! – Damit meine ich nicht, dass Hinz und Kunz an operativen Management-Entscheidungen beteiligt werden sollten, von denen sie keine Ahnung haben. Nein, das soll nur bedeuten, dass alle Betroffenen an wirtschaftlichen Richtungsentscheidungen mitwirken können müssen, durch eigene Wirtschafts-Parlamente, die von Parteipolitik, ja: vom Staat überhaupt völlig unabhängig sind.

FREIHEIT! GLEICHHEIT! BRÜDERLICHKEIT! – den Menschen die Möglichkeit zu verschaffen, diese ihre drei gesellschaftlichen Grundbedürfnisse auszuleben – wird die drei Hauptprobleme der modernen Gesellschaft auflösen:

  • FREIHEIT wird der ideologischen Radikalisierung (Nationalismus, Fundamentalismus…) die Nahrung entziehen,
  • GLEICHHEIT dem Populismus und der Regression zu “illiberalen Demokratien”, und
  • BRÜDERLICHKEIT der „kannibalischen Weltordnung” (Jean Ziegler), der Spaltung der Menschheit in Reich und Arm, GeldMacht und Ohnmacht.

Das wird in gewissem Sinn eine Revolution — aber keine überstürzte und gewaltsame. Ich nenne sie darum rEvolution, denn sie ist der unausweichliche und anstehende gesellschaftliche Evolutionsschritt moderner Gesellschaften. Die Einsicht und die Bereitschaft, diesen Schritt zu tun — „das Rettende” — wird mit zunehmendem Leidensdruck wachsen. Sie kann aber (und das sollte sie besser) auch aus Einsicht entstehen. Darum diese meine Essays, darum FGB. Darum sehe ich 2018 trotz allem Pessimismus auch zuversichtlich entgegen.

Das wünsche ich auch euch, und dazu wollte ich hiermit einen kleinen Beitrag leisten — als Ermutigung für das große Werk, das uns nur gemeinsam gelingen wird. Gehen wir’s an!

[Diese in kürzeren Abständen erscheinenden Beiträge setzen sich mosaikartig zu einem neuen Gesamtgesellschaftsmodell zusammen. Sie sollen dessen organische Schlüssigkeit und universelle Anwendbarkeit zeigen. Ihr eigentlicher Sinn und Zweck ist jedoch die Umsetzung dieses Modells – im Kleinen wie im Großen. Dafür müssen Sie weiter verbreitet werden. Vielen Dank dafür im Voraus!]

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ZUR VERTEIDIGUNG DES RECHTSSTAATS

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By Hanspeter Rosenlechner