BRAUCHEN WIR EINE NATIONALHYMNE?

"Brauchen wir eine neue Nationalhymne?", las ich gestern in ZEIT online. Gegenfrage: Brauchen wir überhaupt eine?
Ich vergegenwärtige mir mal die Anlässe, bei denen so eine Hymne gespielt wird – Staatsempfänge und andere besondere staatliche Ereignisse, internationale Sport-Wettkämpfe…: Was geht dabei in den Menschen vor? Was wird dabei angesprochen – Gedanken? Emotionen? Willensimpulse?
Die Antwort ist ziemlich klar: Die Nationalhymne wirkt – wie Musik überhaupt – primär auf das Gefühlsleben. Eine besondere Note erlangen diese Hymnen durch ihre Verbindung mit bestimmten Texten, die heutzutage wohl in jedem anderen Kontext als nicht mehr zeitgemäß beurteilt würden:
- "Auf, Kinder des Vaterlandes, / Der Tag des Ruhmes ist gekommen! / Gegen uns ist der Tyrannei / Blutiges Banner erhoben. / Hört ihr auf den Feldern / Diese wilden Soldaten brüllen? / Sie kommen bis in eure Arme, / Um euren Söhnen, euren Gefährtinnen die Kehlen durchzuschneiden. / Zu den Waffen, Bürger, / Formiert eure Truppen, / Marschieren wir, marschieren wir! / Unreines Blut / Tränke unsere Furchen!" (La Marseillaise)
- Gott schütze unsere gnädige Königin! / Lang lebe unsere edle Königin, / Gott schütze die Königin! / Lass sie siegreich, / Glücklich und ruhmreich sein, / Auf dass sie lang über uns herrsche! / Gott schütze die Königin! / O Herr, unser Gott, steh ihr bei, / Zerstreue ihre Feinde, / Und bring sie zu Fall; / Vereitle ihre Winkelzüge, / Durchkreuze ihre schurkischen Pläne! / Auf Dich setzen wir unsere Hoffnungen. / Gott schütze uns alle!" (God Save The Queen)
- "Trittst im Morgenrot daher, / Seh’ ich dich im Strahlenmeer, / Dich, du Hocherhabener, Herrlicher! / Wenn der Alpenfirn sich rötet, / Betet, freie Schweizer, betet! / Eure fromme Seele ahnt / Eure fromme Seele ahnt / Gott im hehren Vaterland, / Gott, den Herrn, im hehren Vaterland." (Schweizerpsalm)
- "Helden der See, edles Volk, / Tapfere und unsterbliche Nation, / Erhebet heute aufs Neue, / Die Pracht Portugals! / Aus den Nebeln der Erinnerung, / O Vaterland, fühlt die Stimme / Deiner ehrwürdigen Vorväter, / Die Dich zum Siege führen werden! / Zu den Waffen, zu den Waffen! / Über Land, über See, / Zu den Waffen, zu den Waffen! / Für das Vaterland kämpfen, / Gegen die Kanonen marschieren, marschieren!" (A Portuguesa)
- "Wir singen ein Lied, ein Soldatenlied / In jubelndem, feurigem Chor / Während wir uns um die lodernden Feuer scharen, / Den sternenklaren Himmel über uns; / Ungeduldig harrend des kommenden Kampfs, / Und während wir das Morgenlicht erwarten, / Werden wir hier in der Stille der Nacht / Ein Soldatenlied singen." (Amhrán na bhFiann)
- "Brüder Italiens, / Italien hat sich erhoben, / Und hat mit Scipios Helm / Sich das Haupt geschmückt. / Wo ist die Siegesgöttin Victoria? / Sie möge Italien ihr Haupt zuneigen, / Denn als eine Sklavin Roms / Hat Gott sie erschaffen. / Lasst uns die Reihen schließen, / Wir sind bereit zum Tod, / Wir sind bereit zum Tod, / Italien hat gerufen! / Lasst uns die Reihen schließen, / Wir sind bereit zum Tod, / Wir sind bereit zum Tod, / Italien hat gerufen! Ja! […]" (Il Canto degli Italiani)
- "Erwache Rumäne, aus deinem Schlaf des Todes, / In welchen Dich barbarische Tyrannen versenkt haben! / Jetzt oder nie, webe Dir ein anderes Schicksal, / Vor welchem auch Deine grausamen Feinde sich verneigen werden! / Jetzt oder nie, senden wir Beweise an die Welt, / Dass in diesen Adern noch Römerblut fließt, / Dass wir in unseren Herzen stets mit Stolz einen Namen tragen, / Den Sieger seiner Kämpfe, den Namen von Trajan! […]" (Deșteaptă-te, române!)
Und so weiter. Im Jahr Zweitausendachzehn (!).

DIE GIFTIGE FRUCHT DES NATIONALISMUS
Es ist nicht zu übersehen, dass diese Hymnen in stürmischen Zeiten entstanden sind – geboren während des "Freiheitskampfes" der Völker, in Momenten des Volkszorns, der patriotischen Erregung. Militärmärsche, aufpeitschendes Blaskapellen-Tschingderassabum, das mit schier religiöser Inbrunst den Krieg und den Tod für die "Freiheit" der eigenen Nation verherrlicht. Sie sind großteils die giftigen Früchte des Nationalismus und des Chauvinismus des 19. Jahrhunderts. Die psychologische Wirkung dieser Musik entspricht dem genau: Stolz auf die eigene Nation – oft verbunden mit Geringschätzung jeder anderen –, Sentimentalität, Erhebung, Verbrüderungsgefühle… Markant ist also vor allem die de-individualisierende Wirkung von Nationalhymnen. Man fühlt sich nicht mehr als kleines Ich, sondern als großes Wir. Das kritische Denken wird von den Emotionen überwältigt. Das passiert natürlich nicht zufällig oder versehentlich; es ist völlig beabsichtigt. Genau das soll mit dem Singen von Nationalhymnen erreicht werden. Sie schüren nicht etwa nur bei Menschen mit entsprechender Schlagseite Nationalismus und Chauvinismus, sondern bei allen, mehr oder weniger. Sie sind ein Instrument der Gruppen- und Autosuggestion.
ZEIT FÜR EINE NEUE NATIONALHYMNE?
Es ist also naheliegend, sich wie in dem o.g. ZEIT-Artikel zu fragen, ob es nicht Zeit für eine neue Nationalhymne sei. Wolf Biermann hatte das 2006 in einer Ansprache begründet, und er hatte auch einen Vorschlag: Brechts "Kinderhymne".
Daß die Völker nicht erbleichen
Wie vor einer Räuberin
Sondern ihre Hände reichen
Uns wie andern Völkern hin.
Und nicht über und nicht unter
Andern Völkern wolln wir sein
Von der See bis zu den Alpen
Von der Oder bis zum Rhein.
Und weil wir dies Land verbessern
Lieben und beschirmen wir's
Und das Liebste mag's uns scheinen
So wie andern Völkern ihrs.
Auch mir gefällt dieser Text und seine Botschaft. Ich frage mich aber, ob eine Hymne wie diese die Gruppen-Emotionen mindert oder sie bloß umlenkt. Sind sie dann aber etwas essentiell Anderes? Eben nicht. Auch wenn sie nicht Patriotismus-besoffene Kriegseuphorie schüren, sondern ein humanistisches Anliegen haben. Sogar bei Brecht ist das Wir mehrfach ausdrücklich angesprochen. Aber ist es heute noch zeitgemäß, von einem Volks-Wir zu sprechen? Wir Deutschen? Wir Österreicher? Wir Italiener? Wie weit ist es von diesem Wir zu der nationalistischen Agitation Salvinis? Zur Erinnerung: Als die EU sich weiterte, das explodierende Budgetdefizit Italiens zu akzeptieren, war die Antwort des italienischen Vize-Regierungschefs und Außenministers: "Nur Verrückte eröffnen gegen uns ein Vertragsverletzungsverfahren. Dann würden 60 Millionen Italiener gegen sie aufstehen." Wir gegen sie. Die guten Italiener gegen die böse EU. Die Vernunft wird von Gruppen-Emotionen niedergewalzt, das Ich vom Wir. Unglaubliche zwei Drittel der Italiener stimmen Salvini und derartigen Aussagen zu.
TEIL DER NATIONALISTISCHEN REGRESSION
Freilich sind Mitglieder der gesellschaftlichen "Eliten" unter ihnen eher die Ausnahme. Die aktuelle ZEIT titelt: "Sie sind moralisch hochsensibel, in der Welt zu Hause, an keine Nation und keine Sprache gebunden – schon gar nicht an die deutsche." Sie sind in mehrfacher Hinsicht die Vorreiter von Entwicklungen, die über kurz oder lang der Großteil der Gesellschaft durchmacht: moralisch reflektiert, kosmopolitisch, international, multilingual… Zwischen einer solchen kleinen "Avantgarde" und der großen "Nachhut" klaffte schon immer ein Graben, aber noch nie war er so spürbar und so klar ausgesprochen wie derzeit. Logischerweise finden sich deshalb in den Medien täglich Meldungen, wonach die heutigen sozialen Spaltungen nicht zwischen Nationen verlaufen, sondern innerhalb jeder Gesellschaft, zwischen jenen "Eliten" und dem "Rest". Ärzte, Philosphen, Schauspieler, Manager, Journalisten… beliebiger Nationalität haben mehr miteinander gemein als etwa ein Münchner Journalist mit einem bayerischen Bauern oder ein Mailänder Arzt mit einem apulischen Maurer (Ausnahmen bestätigen die Regel). Identität geht vor Territorialität, Seelenverwandtschaft vor Blut und Boden. Nun ist bezeichnend, dass Nationalhymnen diese Entwicklung tendenziell umkehren: Sie erwecken nicht in Menschen mit gemeinsamer Identität ein Wir-Gefühl, sondern bei Italienern, Ungarn, Polen, Deutschen… weil sie derselben Nation angehören. Man steht stramm und singt schallend das Loblied auf die eigene Nation; die Hymne hebt die beschränkte Person mit all ihren Schwächen ins Grandiose hinaus; der Nationalstolz lässt das kleine, schwache Ich im großen, starken Wir aufgehen… Jede Nationalhymne bewirkt eine Rückentwicklung: eine Regression von der Person zur Nation, vom Individuum zur Masse.
Beim Sport ist es kaum anders. Ginge es bei sportlichen Wettkämpfen nur darum, dass der Bessere gewinnen möge, gäbe es keine internationalen Wettkämpfe in der heutigen Form. Doch die Sportbegeisterung überbrückt die individuellen Unterschiede und formt aus den Einzelnen eine nationale Masse.

Wir gegen sie! Das Turnier beginnt --- klar: mit der Nationalhymne; es führt durch ein Wechselbad von Euphorie, Schrecken und Verzweiflung, und oft endet es mit wüsten Massenschlägereien und blinden Gewaltexzessen. Es ist kein Wunder, dass das Amalgam aus Hooligans, Rechten und hemmungsloser Gewalt unausrottbar mit dem Fußball verbunden ist. Es ist das Extrem einer Vermassung, die mit der Nationalhymne harmlos-feierlich eingeleitet wird.
DIE NATIONALHYMNE ABSCHAFFEN?!
Einmal angenommen, es würde jemand allen Ernstes die Abschaffung der Nationalhymne vorschlagen. Welche Lawine der Empörung würde ihn hinwegfegen! Einer Empörung, die am hasserfülltesten aus dem rechtsnationalen Lager geifern würde. Weil die Nationalhymne eben die nationalen Emotionen weckt und aufstachelt. Und rechtsnationale Kräfte bedienen sich des Volkszorns und der Volksbegeisterung, um das Volk als Masse für ihre Ziele zu mobilisieren. Emotionen sind blind, deshalb sind sie leicht zu lenken.
Aber auch sonst könnte man sich mit wenigem so zur Zielscheibe des Volkszorns machen wie mit der Initiative, die Nationalhymne abzuschaffen. Meine persönliche Vermutung ist, dass die meisten Menschen dafür eben noch zu sehr an den Sicherheiten des Wir hängen und sich zu wenig als souveränes Ich empfinden. Darum könnte so ein Vorschlag wie ein gesellschaftlicher Lackmustest sein, der einen sofortigen, eindeutigen Farbumschlag bewirkt. Er würde ebenso heftige wie hochinteressante Diskussionen auslösen, nach denen den Menschen weitaus klarer wäre, wo sie stehen. Will es jemand versuchen…? 😉