BREXIT: KOMMT INS OFFENE, FREUNDE!

Harter oder weicher Brexit? Oder zurückrudern? Alles abblasen? Ein zweites Referendum?🤦🏻♂️
Höchste Zeit für etwas NEUES!
Komm! ins Offene, Freund! (Hölderlin)Es kam wie es kommen musste: May hat die entscheidende Abstimmung haushoch verloren, das Chaos geht weiter. Aufschlussreicher als die tagespolitische Entwicklung ist jedoch das Muster, das sich in ihr abzeichnet. Denn Großbritannien ist kein Einzelfall. Es ist das letzte Beispiel in einer Reihe demokratischer Verfallssymptome:
GROSSBRITANNIEN
"Auffallend ist, dass wir in dieser hysterischen Rhetorik beginnen können, die Umrisse von zwei Begriffen zu sehen, die für den Brexit-Diskurs entscheidend werden würden. Einer davon ist der Vergleich der proeuropäischen Briten mit Kollaborateuren, Appeasern und Verrätern. Aber die andere Idee ist der Fiebertraum eines englischen Widerstandes und seine seltsame Folge: der Wunsch, tatsächlich Opfer einer Invasion zu sein, so dass man – herrlich – widerstehen konnte. Und nicht nur widerstehen, sondern in der ultimativen Apotheose des Masochismus sterben. Ein Teil der Faszination des romantischen antiimperialen Nationalismus ist das Martyrium. […] Aber in der ironischen Umkehrung des Zombie-Imperialismus, der Aneignung der Bilder des Widerstands gegen eine ehemalige Kolonialmacht, wird diese Romanze des Martyriums als Widerstandskampf gegen die EU mobilisiert."…
"In dem Symposiom der Literaturzeitschrift Encounter's zur Frage, ob Großbritannien dem Gemeinsamen Markt beitreten sollte, blickte beispielsweise Sir William Hayter, Direktor des New College, Oxford, und ehemaliger britischer Botschafter in Moskau, auf seinen Beitrag zu dessen Debatten fast ein Jahrzehnt zuvor zurück: '1962 schrieb ich, dass wir uns in ein paar Jahren bedingungslos ergeben müssen, um hineinzukommen'. Ich fürchte, diese paar Jahre sind vergangen, und jetzt ist es nicht einmal mehr sicher, ob eine bedingungslose Kapitulation uns hineinbringen wird.' Der Abgeordnete Peter Shore, der hartnäckigste Labour-Europa-Kritiker, nahm dieses Thema während des Referendums 1975 auf: 'Was die Befürworter der Mitgliedschaft sagen… ist, dass wir als Land am Ende sind; dass die lange und berühmte Geschichte der britischen Nation und des britischen Volkes zu Ende ist; dass wir jetzt so schwach und machtlos sind, dass wir die Bedingungen, Strafen und Einschränkungen akzeptieren müssen, fast so, als ob wir in einem Krieg eine Niederlage erlitten hätten.' Es war eine masochistische Rhetorik, die in vollem Umfang zum Tragen kommen würde, da die Brexit-Verhandlungen die versprochenen Wunder nicht brachten." (Auszug aus O'Tooles Buch Heroic Failure: Brexit and the Politics of Pain im Guardian)
USA
BRASILIEN
FRANKREICH
DEUTSCHLAND
DIE AXIALE VERSCHIEBUNG

(Illustration aus The Essentials of Theory U von Otto Scharmer)
Es ist eigentlich offensichtlich: Die Zukunft liegt in der Loslösung von den überholten und deshalb destruktiven politischen Paradigmen und in der Öffnung für das Neue.
Um es am Beispiel Großbritannien zu konkretisieren: Dass keine der bisher diskutierten Optionen ohne mindestens gleich große Kollateralschäden umzusetzen sein wird weist darauf hin, dass sie allesamt den überholten Denkmustern entstammen. "It ain't what you don't know that gets you into trouble. It's what you know for sure that just ain't so" (Mark Twain). Weil das, was man sicher zu wissen glaubt der Lebensrealität einfach nicht mehr entspricht, wird es umso destruktiver, je hartnäckiger sich die Entscheidungsträger daran festklammern. Die Zerstörungskraft der aufgeheizten Konflikte zwischen den verschiedenen Gesellschaftsgruppen ist keimhaft in den Grundüberzeugungen angelegt, auf denen sie basieren.
Darum kann die einzige Lösung nur im Sich-Lösen von den veralteten Paradigmen und in der Öffnung für das Neue liegen. Yanis Varoufakis hat dafür im letzten Dezember einen leider bislang nicht hinreichend beachteten Vorschlag gemacht: Er schlägt eine Volksdebatte vor, die nach gegebener Zeit zu einem Volksentscheid führen könne.
Um demokratisch zu sein, muss die Volksdebatte in regionalen Versammlungen stattfinden, die zu einem nationalen Konvent führen, auf dem eine Reihe von Optionen festgelegt werden, bevor das nächste Unterhaus sie in Fragen des Referendums übersetzt, die den Volksentscheid bis 2022 ermöglichen werden. […]
Während der Übergangszeit sollte das Vereinigte Königreich in der Zollunion der EU und im Binnenmarkt bleiben, mit Freizügigkeit und vollen Rechten für EU-Bürger im Vereinigten Königreich. Im Jahr 2022 können sich die Wähler dann entscheiden, ob sie in der Zollunion und im Binnenmarkt bleiben, vollständig aussteigen oder wieder die Vollmitgliedschaft in der EU beantragen wollen.Diese Volksdebatte müsste – füge ich hinzu – gestaltet sein wie die Bürgerversammlungen in Irland. Diese Art von Versammlungen ist dort institutionalisiert und ein fester Bestandteil der Demokratie. Die 99 Teilnehmer werden zu bestimmten Diskussionsthemen als repräsentativer Bevölkerungsquerschnitt ausgelost, um über Themen wie die Legalisierung der Abtreibung, Klimawandel, eine Wahlreform, die Überalterung Irlands… zu beraten. Die Diskussion – z.B. über das Abtreibungsthema – findet mit Experten, Medizinern, Ethikern, Juristen, Frauen, die abgetrieben haben und Frauen, die nicht abgetrieben haben statt. Das gewährleistet offenen Informations und Gedankenaustausch. der ganze Prozess dauert 1 Jahr, pro Monat müssen die Teilnehmer ein Wochenende investieren. Zum Schluss schicken sie ihre Empfehlung ans Parlament.
Die Erfahrungen zeigen, wie sehr dieser Prozess sogar festgefahrene Überzeugungen aufweichen und Aversionen auflösen kann. Bei einer dieser Bürgerversammlungen wirkte ein Mann namens Finbarr O’Brien mit:
"Finbarr O’Brien war kein politischer Mensch, die Nachrichten verfolgte er kaum, für Politiker mit ihren ewig gebrochenen Wahlversprechen empfand er Abscheu. Aber O’Brien brachte noch etwas mit zur Versammlung: eine Lebensgeschichte, die das Thema Homo-Ehe für ihn zu etwas sehr Persönlichem machte.
Als Kind war O’Brien mehrmals missbraucht worden, von einem Mann, zum ersten Mal im Alter von neun Jahren. In sein Kinderhirn brannte sich die Vorstellung ein: Schwule sind Vergewaltiger. Diese Überzeugung wurde lange nicht korrigiert, weil O’Brien auch als Erwachsener selten über den Missbrauch sprach. Und mit Schwulen hatte er nie zu tun.
Bis er an einem Tisch der Bürgerversammlung saß und sich ein junger Mann neben ihn setzte, auf den ebenfalls das Los gefallen war. O’Brien schaute auf. Ohrring. Nasenring. Jeder Fingernagel eine andere Farbe. "Der Typ war offensichtlich schwul. Ich dachte: Ich kann das nicht", erinnert sich O’Brien.
Er überwand sich, schüttelte dem Mann die Hand, sie redeten, mussten sie ja, über die Homo-Ehe. O’Brien fand ihn nett.
Auf der Bühne erzählten an jenem Tag zwei Geschwister von ihren Eltern, zwei liebevollen Vätern. O’Brien fühlte mit ihnen. Er spürte, wie sich seine Meinung änderte. Seine Therapeutin hatte ihm gesagt, Schwule seien normale Menschen, jetzt füllte sich dieser Satz mit Leben. Die beiden Geschwister. Der Mann mit den bunten Fingernägeln. Der unerträgliche Bischof, der in der Versammlung über die einzig wahre Ehe, Mann, Frau, Gott schwadronierte, wo doch jeder weiß, was die Priester mit den Jungs…
O’Brien stimmte am Ende für die Homo-Ehe, so wie 78 andere. Unter Befürwortern wie Gegnern fanden sich Männer und Frauen, die ihre Meinung im Lauf des Verfahrens geändert hatten.
Die Regierung veranlasste im Mai 2015 ein Referendum und gab den Iren die Empfehlung der Bürgerversammlung an die Hand, die Homo-Ehe zuzulassen. 62 Prozent stimmten zu, die Verfassung wurde geändert. Der ehemalige Schwulenhasser Finbarr O’Brien ist mit seinem Tischnachbarn bis heute befreundet." (Zeit online)In Frankreich war die gleichgeschlechtliche Ehe 2 Jahre zuvor ebenfalls legalisiert worden – aber ohne jede Beteiligung der Bürger, in schlechtester französischer Tradition: vom Präsidenten beschlossen und ohne Diskussion durchgesetzt. Die Folge waren die größten Proteste, die Französische Republik seit Jahren gesehen hatte. Ähnliches wird Großbritannien blühen, wenn sich die derzeitige Regierung oder ihre Nachfolger nicht für eine vorbehaltlose Diskussion öffnen. Ein Thema wie der Austritt aus der EU ist bei weitem zu komplex, als dass es auch noch eine Emotionalisierung vertrüge. Hier braucht es eine ruhige, besonnene, wohlinformierte Entscheidung, die zwischen den Vor- und Nachteilen abwägt und ggf. neue Ansätze erkennt.
Wenn wie in Irland eine repräsentative Zahl vom Los bestimmter Briten sich 1 Jahr lang 1 Wochenende im Monat zusammensetzte, um sich umfassend zu informieren und offen zu diskutieren, würde das 1. den Dampf aus der jetzigen Zwangslage nehmen und 2. einen ergebnisoffenen Prozess einleiten. An dessen Ende müsste man es gar nicht mehr der Regierung überlassen, ob sie das Ergebnis gut findet oder nicht; sie könnte a priori dazu verpflichtet werden, es anzuerkennen und umzusetzen.
Was sich hier in Irland als Erfolgsmodell erwiesen hat, sollte auch andere Staaten ein Weckruf sein: Kommt! ins Offene, Freunde