VON „WIR SCHAFFEN DAS“ ZU „WIR WURDEN ALLEIN GELASSEN.“

CHEMNITZ, DIE EIGENTLICHEN URSACHEN, UND LÖSUNGEN
Häppchenweise kommt auch in den Zeitungen ans Licht, was in Chemnitz wohl die meisten wissen:
Einer der beiden mutmaßlichen Täter von Chemnitz sollte offenbar längst abgeschoben sein. Laut einem Sprecher des Verwaltungsgerichts Chemnitz war eine Rückführung des Irakers nach Bulgarien bereits im Mai 2016 als zulässig erachtet worden. Weil er dort schon vor seiner Einreise nach Deutschland einen Asylantrag gestellt hatte, war Bulgarien für den Antrag zuständig und hatte der Rückführung zugestimmt. Auch das Verwaltungsgericht Chemnitz hatte keine Einwände. Trotzdem wurde die Abschiebung aus unbekannten Gründen nicht durchgesetzt. Deshalb wurde nach Ablauf der halbjährigen Frist, die für ein solches Zurückschicken gilt, Deutschland erneut für das Asylverfahren des Mannes verantwortlich. Während dieser zwei Jahre wurde der Tatverdächtige lt. Welt
"zwei Mal wegen Drogenbesitz zu einer Geldstrafe verurteilt. Zudem wurde er drei weitere Male zu Geldstrafen verurteilt: wegen Betrug, Sachbeschädigung und gefährlichem Eingriff in den Straßenverkehr – erstmals im Juni 2016.
Die schwerste Strafe erhielt er demnach im Juli 2017 wegen gefährlicher Körperverletzung. Damals sei er zu einer Freiheitsstrafe von acht Monaten verurteilt worden, die für zwei Jahre zur Bewährung ausgesetzt wurde. Offenbar hatte der Beschuldigte bei einem Streit im Asylheim mehreren Leuten Pfefferspray ins Gesicht geschossen."
Wenn ich das alles lese, greife ich mir an den Kopf. Und trotz meiner ursprünglichen Wut über den rechten Mob kann ich nun auch verstehen, dass in Chemnitz Menschen demonstrieren und immer mehr mit denen sympathisieren, die derartige Probleme laut aussprechen. Zu laut, polemisch, ja hetzerisch – aber immerhin verschweigen sie es nicht. Auch wenn für mich persönlich die AfD ein rotes Tuch ist, kann ich mich so weit in die Bürger hineinversetzen, dass ich ihre Wut in diesem Fall nachvollziehen kann.
Damit spannt sich ein Bogen von Angela Merkels "Wir schaffen das!" 2015 zu der frustrierten Feststellung der SPD-Oberbürgermeisterin von Chemnitz 2018: „Wir wurden allein gelassen.“ "Wir schaffen das!" war zwar ein sympathischer, hoffnungsvoller Appell, aber er wurde nicht wie erwünscht zur selbsterfüllenden Prophezeiung. Im Gegenteil, an der Wirklichkeit ging er weitgehend vor vorbei, wie Jasper von Altenbockum in seinem FAZ-Kommentar schreibt:
Das war von Beginn an der Fehler der Flüchtlingspolitik des Kanzleramts, dass vermeintliches Mutmachen im imaginären „Wir“ mit Überrumpelung und Bevormundung verschmolz. Denn es ist nicht die Bundespolitik, die „es“ schaffen muss, sondern es sind die Städte, Dörfer, Kreise, die auch mit noch so viel Erfolgen nicht verhindern können, dass sich Ermüdung, Frust und das Ende von Illusionen breitmachen.
Und da braucht es nur einen Funken im Pulverfass, um solche Demonstrationen und Krawalle auszulösen, deren Bilder (s.o.) mich fatal an solche aus der Zeit der Weimarer Republik erinnern:

DER NIEDERGANG DER PARTEIENDEMOKRATIE
Es sieht also auf den ersten Blick so einfach aus, wie das die terribles simplificateurs darstellen: Staatsversagen, gerechtfertigter Protest, what else. Aber auch die AfD bietet mit ihren Law-and-order-Parolen keine wirklichen Lösungen an, im Gegenteil: Indem sie systematisch die Grenzen zu den Rechtsradikalen verwischt und Ausschreitungen rechtfertigt, heizt sie die Situation so weit auf, dass schließlich weder Recht noch Ordnung gelten.
Tatsächlich weist das Gesamtbild auf einen Niedergang der Parteiendemokratie überhaupt hin. Keine Partei hat eine Antwort auf die Fragen, die die Immigration seit 2015 aufwirft: Sie erfordert keine Scheinlösungen, wie sie von allen Parteien – auch den radikalen – angeboten werden und nur die Symptome behandeln; sie erfordert grundlegende Lösungen. Aber zu solchen sind die politischen Entscheidungsträger nicht bereit, wie Jasper von Altenbockum konstatiert:
FAZ, ebd.
Wohnungen, Sicherheit oder Bildung sind sicher Teile einer grundlegenden Lösung. Aber die ganze politische Hilflosigkeit – einschließlich jener Politiker, die radikale Lösungen vorschlagen – zeigt, dass die Parteien an sich mit der gesellschaftlichen Realität nicht mehr zurechtkommen. Das Parteiensystem ist überlebt. Woran man sich aber klammert, obwohl es dem realen Leben nicht mehr entspricht, das wirkt dsyfunktional. Und was früher ein Teil der Lösung war, wird zum Teil des Problems.
Seit Jugendtagen empfinde ich es als äußerst befremdlich, wie man ernsthaft einbilden kann, in einem Parteiprogramm die unterschiedlichsten, einander teils komplett widersprechenden Leitgedanken, Ziele und Strategien unter einen Hut zu bringen. Das kann nicht gehen. Wie soll ich also irgendeine Partei wählen können, wenn ich ihrer Sozialpolitik zustimme, nicht aber ihrer Bildungspolitik? Oder ihrer Innenpolitik, nicht aber ihrer Umwelt-, geschweige denn ihrer Wirtschaftspolitik? Wie soll ein Parteiprogramm Rezepte für alle Gesellschaftsbereiche umfassen können – Wirtschaft, Ökologie, innere Sicherheit, Soziales, Bildung, Kultur…? Das ist überhaupt nicht möglich, abgesehen von etwaigen Zielkonflikten. Alle Gesellschaftsgebiete in das Prokrustesbett einer Partei-Ideologie zu pressen vergewaltigt das reale Leben. Was ist aber das "reale Leben" der Gesellschaft?
DAS REALE LEBEN DER GESELLSCHAFT: FREIHEIT, GLEICHHEIT, BRÜDERLICHKEIT
- Das geistige Leben – Bildung, Kultur, Religionen, Sprachen… – strebt danach, sich in Freiheit entfalten, entwickeln und selbst organisieren und verwalten zu können;
- das rechtlich-staatliche Leben strebt danach, sich nach dem Grundsatz der Gleichheit und Gerechtigkeit zu organisieren und zu verwalten, und
- das wirtschaftliche Leben strebt nach Strukturen, die alle Betroffenen (Stakeholdergruppen) mitentscheiden lassen, damit in dieser Selbstorganisation Brüderlichkeit entsteht.
Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit sind die Entwicklungsimpulse des realen gesellschaftlichen Lebens. Sie sind sozusagen die gesellschaftliche DNS. Die Gesellschaft entwickelt sich umso gesünder, je mehr das Leben sich in drei selbstverwalteten Bereichen in Richtungen Freiheit bzw. Gleichheit bzw. Brüderlichkeit entfalten kann.
Das liegt freilich völlig quer zu den heutigen Denkgewohnheiten. Was denen nicht entspricht, wird kurzerhand als "weltfremd", "utopistisch" usw. abgetan. Dabei ist derjenige weltfremd, der das Leben in den Raster seiner Denkgewohnheiten zwingt weil er hartnäckig seine eigenen Vorstellungen von Gesellschaft verfolgt, und dabei ignoriert, wie sich das reale Leben dagegen wehrt.
Die Parteiendemokratie geht am realen Leben vorbei, denn sie betrachtet das ganze gesellschaftliche Leben durch die rechtlich-staatliche Brille. Darum hat der Staat z.B. mit der größten Selbstverständlichkeit das Bildungswesen okkupiert und ihm Normierung, Bürokratie, Hierarchie, Parteibuchwirtschaft, politische Abhängigkeiten… aufgenötigt, obwohl es sich frei entfalten will. Was in den Schulen noch an Idealismus, Phantasie und Eigeninitiative lebt, existiert dort nicht wegen, sondern trotz der staatlichen Bevormundung. Und je mehr sich die Politik in das wirtschaftliche Leben einmischt, desto mehr bringt es dieses zum Erliegen (was nicht ausschließt, dass der Staat der Wirtschaft klare rechtliche Vorgaben machen muss, aber innerhalb dieser Leitplanken muss auch dieses sich selbst verwalten können, unter Beteiligung aller Stakeholdergruppen).
Die Schnittmenge zwischen Parteiendemokratie und realem gesellschaftlichem Leben ist also weitaus kleiner als heutige Denkgewohnheiten meinen. Was kann aber die Alternative zum Parteiensystem sein, ohne in autoritäre Verhältnisse abzugleiten?
Eine offene, pluralistische, liberale Gesellschaft entsteht ja gerade dadurch, dass verschiedene Parteien mit ihren grundlegenden Paradigmen, Leitlinien, Ziele und Strategien konkurrieren, was Wahlen ermöglicht. Wenn wir nun aber nicht eine Handvoll Parteiprogramme und ihre Repräsentanten wählen, sondern die Volksvertreter ausgelost werden? Dann sind diese nicht mehr genötigt, der Parteiräson (dem Klubzwang) zu folgen. Sie können nach bestem Wissen und Gewissen abwägen und entscheiden. Und worüber? Nur über das, was in den Bereich des rechtlich-staatlichen Lebens fällt. Bildungspolitik, Forschungspolitik, Kulturpolitik, Wirtschaftspolitik etc. sind damit obsolet. Eine parteipolitische Prädetermination aller Sachfragen (rote, blaue, türkise… Bildungs-, Wirtschafts-, Innen…Politik) ist damit unmöglich.
Ein weiterer Effekt: Die fundamentalen politischen Grundsätze und Leitlinien der Parteien, und mit ihnen die Richtlinien ihrer Umsetzung hängen plötzlich in der Luft und lösen sich auf. Das hat ungeahnte Konsequenzen.
DIE GRENZEN DER POLITISCHEN WILLKÜR
Diesen Sommer war Angela Merkels Richtlinienkompetenz als Bundeskanzlerin ein heißes Thema: Wird sie sie gegenüber Horst Seehofer durchsetzen oder nicht? Der Konflikt entschärfte sich vorläufig, ehe sie sich entscheiden musste. Er machte aber deutlich, dass es in der Gesellschaft in letzter Instanz um Grundsätze und Umsetzungs-Richtlinien geht. Diese beruhen wiederum auf dem persönlichen Ethos der beteiligten Menschen, ihren Werten, Idealen, moralischen Verpflichtungen, Tabus… Wir erleben überall auf der Welt, dass die Politiker ihre Grundsätze nach dem Wind hängen oder gar keine haben. Wenn ihre persönlichen Grundsätze aber gesellschaftlich irrelevant werden weil die Volksvertreter, von denen sie delegiert werden parteilos sind? Weil sie Ressort für Ressort nicht nach ideologischen, sondern nach sachlichen Kriterien vergeben? Wer ist am geeignetsten, gemessen an seiner Fach-, Methoden-, Persönlichkeits-, Sozialkompetenz, Erfahrung…?
Diese Veränderung wird eine Lawine auslösen. Bis jetzt ist es z.B. der Willkür der Politiker überlassen, ob sie dem langfristigen Überleben der Menschheit, fundamentalen Menschenrechten, der Verfassung… Wert beimessen oder nicht. Denn wie gehen die Politiker damit bislang um? Oft geradezu willkürlich. Mit einer geradezu obszönen Toleranz lässt die Exekutive – Regierung, Polizei… – den rechten Mob gewähren und die Herrschaft über die Straße übernehmen. Die Mehrheit der Bürger ist empört darüber, aber sie kann es nicht ändern: Die Politiker haben ja entsprechend dem Prinzip der repräsentativen Demokratie für die Dauer ihrer Legislaturperiode die Entscheidungsfreiheit bzgl. ihrer politischen Grundsätze und Richtlinien. Wenn ein Ministerpräsident meint, aus parteitaktischen Erwägungen und Machtkalkül gegenüber den Rechten nicht allzu forsch auftreten zu sollen, dann ist das ein Paradebeispiel für den Missbrauch seiner Richtlinienkompetenz. Karl Popper hat markant das "Paradox der Toleranz" formuliert:
Die offene Gesellschaft und ihre Feinde
Was sich dieser Tage in Chemnitz abspielt, ist offensichtlich Toleranz gegenüber der Intoleranz. Wenn es nun aber nicht mehr im Entscheidungsbereich eines Politikers liegt, ob er gegenüber der rechten Intoleranz ein Auge zudrücken soll oder lieber doch nicht? Wenn die Bürger darüber abstimmen, ob der Staat gegenüber der Intoleranz – egal ob von links oder rechts – Toleranz walten lassen darf oder nicht? Ich bin mir sicher, dann würden die das mit einem klaren Nein beantworten.
Die Richtlinienkompetenz liegt dann also allein beim einzigen Souverän, den Bürgern. Sie entscheiden in Volksabstimmungen über ihre fundamentalen Werte und die davon abgeleiteten Rechte und Pflichten. Nur deren Umsetzung übertragen sie i.d.F. den Politikern, denen weder zusteht, sie in Frage zu stellen noch sie zu verändern. Sie müssen sich innerhalb der Leitplanken bewegen, die die Bürger ihnen vorgeben.
Man stelle sie die Tragweite vor: Die "schweigende Mehrheit" der Demokraten, die derzeit hilflos und verängstigt dem Wüten des rechten Mobs zusehen könnte ihre Mehrheit endlich sinnvoll geltend machen – in einem Mehrheitsbeschluss zur verbindlichen Einhaltung grundlegender Menschenrechte! Wie man die dann im Falle einer großen Zahl von Kriegs- und Wirtschaftsflüchtlingen anwendet, ist eine Umsetzungsfrage, über die offen diskutiert werden kann – innerhalb der Vorgaben der Bevölkerung. Endlose Abschiebeverfahren z.B. sind weder im Sinne der Betroffenen noch der Bürger noch der Politik. Sicher; die rechtlichen Prozeduren müssen vereinfacht und beschleunigt werden, aber im Rahmen der Menschenrechte. Die Frage ist nicht ob sie eingehalten werden, sondern wie. Grundlegende Fragen solcher Art zu entscheiden steht nur dem Souverän zu, den Bürgern. Die repräsentative Demokratie darf sich nicht auf ethisch-moralische Grundsätze und die Richtlinien ihrer Umsetzung erstrecken.
Um es zusammenzufassen:
- Die rechten Populisten bieten symptomatische Pseudolösungen: Zäune, Mauern, Lager… Aber mit den Symptomen werden die Ursachen nicht beseitigt. Mit einfachen Rezepten löst man keine komplexen Probleme.
- Zu den Scheinlösungen zählt auch die "Rückbesinnung" auf frühere linke Grundsätze. Auch das ist Populismus pur.
- Die derzeitige Krise der Parteiendemokratie ist keine vorübergehende Panne, sondern ein systemisches Problem. Darum reichen symptomatische Scheinlösungen nicht aus: Es erfordert eine systemische, grundlegende Lösung:
- Basisdemokratische Grundsatz- und Richtlinienkompetenz ausschließlich für die Bürger
- Einschränkung, d.h. Konzentration der Staatsmacht auf das rechtliche Leben
- Selbstverwaltung der drei Gesellschaftsbereiche mit dem Kompass ihrer jeweils eigenen DNS (Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit)