FREIHEIT? FREIHEIT FÜR WEN?
Wer noch den von mir angesprochenen Filz aus Politik und Wirtschaft bezweifelt hatte, sollte sich von den jüngsten Ereignissen überzeugen lassen: Einige Anrufe von Spitzen-Lobbyisten bei EU-Spitzenpolitikern haben gereicht, um die Verschärfung der Abgasziele zu verhindern. Allen voran der Autokonzern mit dem meisten Dreck am Stecken: VW, und Matthias Wissmann, unter Kohl als Bundesminister für Forschung und Technologie, später Verkehrsminister, seitdem Top-Lobbyist in seiner Rolle Präsident des Verbandes der Automobilindustrie (VDA). Dank dieser Interventionen beim Kabinettschef von Jean-Claude Juncker (ja, der Juncker, während dessen Regierung Luxemburg zum Steuerparadies mutierte!) ist die EU-Kommission von den strengeren Regelungen und Sanktionen abgerückt und der Autoindustrie massiv entgegengekommen. Alles wie immer – es ist ein System. Wie die Steuervermeidung (Stichwort: Panama- & Paradise-Papers), die längst beendet sein könnte, wenn der Filz zwischen Wirtschaft und Politik nicht wäre. Und wie jedes System beruht es auf bestimmten Grundüberzeugungen – Paradigmen –, ohne die es nicht aufrecht erhalten würde.
Das fatale gemeinsame Paradigma von Wirtschaft und Politik ist Freiheit. Nicht die Freiheit einer liberalen Gesellschaft im Allgemeinen, sondern die Freiheit des Unternehmertums, die Freiheit der Wirtschaft, der Liberalismus bzw. Neoliberalismus. Ein und dasselbe Paradigma kann in verschiedenen Gesellschaftsbereichen entweder gesund und förderlich sein oder ungesund und schädlich.
Die Freiheit im Geistesleben – Identität, Kultur, Religion, Medien, Forschung, Bildung, Meinungsäußerung… – ist dessen Lebenselement. Ohne Freiheit geht das Geistesleben ein wie eine Pflanze ohne Licht, bzw. es revoltiert gegen die Unterdrückung bis hin zu Bürgerkriegen (Nationalitätenkonflikte, Sezessionsbestrebungen…).
Wollte man das Freiheits-Paradigma aber auf das Rechtsleben übertragen, so hieße das: jeder kann tun und lassen was er will, jeder kann Gesetze respektieren oder auch nicht, jeder kann seine eigenen (religiösen, sozialen, politischen…) Überzeugungen über den Rechtsstaat stellen etc. etc. Nur religiöse und politische Fanatiker sind so irre, das für sich in Anspruch zu nehmen.
Genauso verquer ist die Übertragung des Freiheits-Paradigmas auf die Wirtschaft. Bloß sind wir das so gewohnt, dass es wie natürlich erscheint. Die Wirtschaft ist nicht dazu da, um mit ihren Gewinnen Unternehmer und Investoren reich zu machen, sondern um die Bedürfnisse der Bevölkerung zu befriedigen. Und von den Überschüssen können Bildung und Soziales finanziert werden.
Genau letztere werden aber seit Jahrzehnten finanziell ausgehungert. Und die Politik, die ebenfalls an dieses falsch verortete Paradigma glaubt wie ein Katholik an die Heilige Dreifaltigkeit greift deshalb nicht ausreichend im Interesse des Staates, d.h. der Bevölkerung ein, um z.B. die jährlichen -zig Milliarden Steuern von den Konzernen einzutreiben oder sie auf strengere Abgaswerte zu verpflichten. Obwohl es zu den zentralen Aufgaben des Staates gehören würde, nicht nur für die einzelnen Bürger, sondern auch für Unternehmen und Konzerne die Rahmenbedingungen abzustecken, nach denen sie zu funktionieren haben. Doch die Überzeugung, die Freiheit der Wirtschaft anzutasten wäre ein Sakrileg stützt sich bekanntlich auf die ökonomischen Chefideologen des Neoliberalismus, wonach die Wirtschaft umso besser funktioniert, je weniger der Staat in sie interveniert.
Das hat etwas für sich: Wenn „Interventionen“ im Sinne von „Management“ gemeint sind, dann ist dem eindeutig zuzustimmen. Der Staat ist keine Institution, die irgendwie zum Management befähigt wäre; das hat er überall dort hinlänglich bewiesen, wo er es versucht hat (Sozialismus, Staatsbetriebe…). Weitere solche Experimente mögen uns erspart bleiben.
Wenn das Freiheits-Paradigma hingegen verabsolutiert wird und der Staat die Wirtschaft vollkommen dereguliert, wie der Neoliberalismus das fordert, dann kommt genau das dabei heraus, was ich eingangs geschildert habe (und wovon es tagein, tagaus weitere Beispiele in den Medien gibt): jene Komplizenschaft zwischen der Wirtschaft und einer Politik, die ihren Sinn in ihrer Abdankung gegenüber dem Kapitalismus zu finden meint. Mit fatalen Konsequenzen für Gesellschaft, Ökosysteme, Klima…
Das Freiheits-Paradigma ist im Rechtsleben fatal, weil es religiösen Fundamentalisten wie politischen Fanatikern eine Rechtfertigung liefert, um ihre Ideologien über Recht und Gesetz zu stellen (Scharia auf der einen Seite, Libertarismus auf der anderen).
Das Freiheits-Paradigma ist im Wirtschaftsleben ist fatal, weil es einerseits zur hemmungslosen Ausbeutung und Zerstörung von Mensch und Natur führt, andererseits zur systemischen Anhäufung von GeldMacht (1%/99%…).
Das Freiheits-Paradigma ist das Element des Geisteslebens, buchstäblich sein Lebens-Element. Überall sonst ist es fatal. Es ist wie in einer Partnerschaft: Wenn sie nicht auf auf die freie Entfaltung der Individualitäten gebaut ist, ist sie weder gesund noch von Dauer. Doch wer das Freiheitsprinzip verabsolutiert und es darauf ausweitet, unter Berufung auf „individuelle Freiheit“ Vereinbarungen zu brechen oder nach dem Motto „ich bin dann mal so frei“ das gemeinsame Konto zu plündern, der zerstört die Beziehung.
Wie im Kleinen, so im Großen. Wer in der Gesellschaft das Freiheits-Paradigma nicht nur auf die individuelle Entfaltung der Persönlichkeit bezieht, sondern auf gesellschaftliche Regeln / Gesetze und auf die Wirtschaft, der zerstört, was er damit zu erhalten meint. Unsere Zukunft wird davon abhängen, zu realiseren, dass ein Gesellschaftsprinzip, das am einen Ort richtig und notwendig ist an einem anderen verheerend sein kann, d.h. insbesondere, dass die Wertschöpfung der Wirtschaft nicht auf Freiheit (Egoismus) gebaut sein darf, sondern auf das Gemeinwohl hin orientiert sein muss. Kein Sozialismus, aber Sozialität, oder, um das alte Wort neu zu beleben: Brüderlichkeit.
[Diese in kürzeren Abständen erscheinenden Beiträge setzen sich mosaikartig zu einem neuen Gesamtgesellschaftsmodell zusammen. Sie sollen dessen organische Konsistenz und universelle Anwendbarkeit zeigen. Ihr eigentlicher Sinn und Zweck ist jedoch die Umsetzung dieses Modells – im Kleinen wie im Großen. Dafür müssen Sie weiter verbreitet werden. Vielen Dank im Voraus!]