DEMOKRATIE IM WANKEN

JE LAUTER, DESTO MÄCHTIGER
Das Schöne an einer Echokammer ist: Du rufst, hinein, und es schallt aus allen Ecken zurück. Dabei verebbt das Echo in einer physischen Kammer schnell, während es bei einer Lautsprecher-Rückkopplung wieder ins Mikrophon gelangt, neuerlich verstärkt herauskommt, neuerlich ins Mikrophon… Man kennt das schrille Pfeifen.
Die oft beschriebene soziale Enthemmung in den Internet-Plattformen beruht auf der gleichen Rückkopplungs-Dynamik. Die Bürger wissen, dass sie einerseits machtlos sind: Sie können die gesellschaftlichen Verhältnisse, von denen sie sich benachteiligt fühlen nicht verändern. Andererseits haben sie gemerkt, dass der Rückkopplungs-Lärm ihre Umgebung in Resonanz versetzt. Er erregt Angst und provoziert zu Gegenreaktionen – also zu noch mehr Lärm, den sie wieder in ihre Verstärkungstrichter leiten können. Je wilder wir auf den Putz hauen, desto mehr Aufmerksamkeit. Je mehr Aufmerksamkeit, desto mehr Einfluss auf den öffentlichen Diskurs. Je lauter, desto mächtiger. Die Enthemmung ist also nicht nur Ausdruck ungezügelter Wut, sondern ein Erfolgsrezept. Und es wird mit hinterhältiger Schläue gegen die "Eliten" eingesetzt. So kann eine kleine Minderheit von 15 oder 20 Prozent die ganze Republik vor sich hertreiben.
Hinter vorgehaltener Hand genießen diese Anheizer ihre Macht mit zynischem Grinsen und schieben die Grenzen des Sagbaren, des Gerade-noch-Geduldeten, des Tabuisierten Stück für Stück weiter hinaus. In gespielter Empörung über die Empörung reiben sie sich genüsslich die Hände, denn jede Gegenreaktion ist Wasser auf die Mühlen ihrer Enthemmung. Offiziell gibt man sich als armes Opfer der "Hetze der Systemmedien", dieser "Handlanger der Eliten". Doch wenn niemand außer Gleichgesinnten zusieht, wird das wehleidige Mimimi! sogleich eingestellt. Man klopft sich gegenseitig auf die Schultern und gratuliert sich: Coup gelungen, wieder ein Schritt, weiter so.
Aber diese Entwicklung hätte nicht so ausufern können, wenn nicht in der Medien-Kritik auch ein Quäntchen Wahrheit darin wäre. Bis zur Griechenland-Krise war auch ich überzeugt, in den sogenannten "Leitmedien" verschiedene, oft kontroverse Standpunkte zu lesen, aber insgesamt das gesamte Spektrum der Perspektiven abgebildet zu sehen. Dann kam Varoufakis. So wenig ich seine Art schätze, aber das pauschale Bashing, das über seine Argumente und über ihn als Person aus so gut wie allen deutschsprachigen Medien niederging bis er weichen musste war ein Skandal. Seit damals kommen auch bei mir Zweifel auf, sobald alle Medienstimmen unisono einer Meinung sind. Wenn ich mich nun in die Situation eines Bürgers versetze, der in seiner Lebenssituation und in seinem Umfeld gravierende Missstände sieht, die von den Medien entweder gar nicht wahrgenommen oder kleingeredet werden; wenn so jemand – und die Partei, die sich (vorgeblich) für ihn einsetzt – dann dafür auch noch von den Medien laufend herabgesetzt werden, dann kann ich nun den Groll nachfühlen, der zu TotSchlagwörtern wie "Systemmedien" führt.
ICH MACH MIR DIE WELT WIDE-WIDE-WIE SIE MIR GEFÄLLT
Ein weiteres Merkmal dieser Dynamik ist der Rückzug vieler Menschen aus der Komplexität der heutigen Probleme in die vermeintliche Gewissheit der eigenen Überzeugungen. Ehe man sich verunsichernden Informationen aussetzt, die die eigenen "Gewissheiten" ins Wanken bringen könnten schottet man sich ab und lässt nur passieren, was diesen "Gewissheiten" entspricht. Der Dynamik der wachsenden Komplexität der Welt wird also die eigene der wachsenden Vereinfachung entgegengesetzt, der Multidimensionalität die Eindimensionalität, dem gefühlten Chaos die gefühlte Ordnung. "Komm mir nicht mit Fakten; ich weiß, was ich weiß!" Oder anders gesagt: "Ich mach mir die Welt wide-wide-wie sie mir gefällt."
Wer diese Entwicklung in ihrer ganzen Pracht betrachten will, braucht den Blick nur in die USA zu wenden. Egal was Trump auch sagt und tut: es kann seine Fans ihn ihrer quasi-religiösen Verehrung nicht beirren. Wer ihn kritisiert, wird reflexartig zu den Bösen gezählt. Und das weiß er sehr gut, darum kann er unwidersprochen posaunen: "Ich könnte mitten auf der Fifth Avenue stehen und jemanden erschießen, und ich würde keine Wähler verlieren." Weil er seine Anhänger zu Sektenjüngern gemacht hat. Und die Trumpisten-Sekte kennt nur zwei Regeln:
- Trump hat grundsätzlich Recht.
- Sollte er einmal nicht Recht haben, tritt sofort Regel 1 in Kraft
Ein sinnvolles, konstruktives Gespräch ist auf dieser Basis kaum mehr möglich.
DIE FATALEN POLITISCHEN AUSWIRKUNGEN
Das alles mag man lächerlich, abwegig, ärgerlich oder sonstwas finden – es wirft grundlegende politische Fragen auf, die Carolin Emcke in der SZ vom 30.9.18 benannt hat:
"Stets wird den Bürgern eine aufgeklärte Mündigkeit zugedacht, die sie zur Kontrolle der Regierenden befähigt. […] Was bedeutet es, wenn das diskursive Niveau der Debatte nicht nur herabsinkt, sondern absichtsvoll und systematisch manipuliert wird? Wenn die Meinungs- und Willensbildungsprozesse zunehmend durch verschiedene Techniken und Akteure, durch Cyberattacken, Trolle und Hacker sabotiert werden – wie aussagekräftig und legitim sind dann die daraus hervorgegangenen Meinungen? Wenn Fehlinformationen über Facebook oder Twitter weltweit ungefiltert verteilt werden – was folgt daraus für die Vorstellung vom mündigen, aufgeklärten Souverän?"
Die demokratischen Willungsbildungsprozesse werden dadurch untergraben, schreibt Emcke, "dass unentschiedene Wähler adressiert und mit spezifisch auf sie zugeschnittenen einseitigen oder falschen Meldungen beeinflusst werden. Es reicht mitunter, einer Minderheit in bestimmten Staaten die Lust an der Wahl zu nehmen." Was die Grundfesten der repräsentativen Demokratie zum Wanken bringt:
Aber wie naiv ist es, eine existenzielle Entscheidung wie den Brexit als vermeintlich informierten Wählerwillen umzusetzen, wenn dieser Wille durch Desinformationskampagnen zersetzt wurde? Wie prekär ist es, Meinungen und Stimmungen zu folgen, die auf einem Zerrbild der Wirklichkeit beruhen? Wäre es so undenkbar, dass eine Regierung auch einmal zurücktritt, weil sie ein Votum zwar als legitim, aber fehlgeleitet einstuft? Es gibt darauf keine einfachen Antworten. Aber es braucht einen ehrlichen Diskurs über die Rolle, die aus dem Ausland gestreute Unwahrheiten in demokratischen Willensbildungsprozessen spielen und inwiefern sie falsche Konflikte schüren." (ebd.)
Kurz, die oben beschriebenen Dynamiken bringen die Grundfesten unserer repräsentativen Demokratie ins Wanken. Und bislang gibt es kein Rezept dagegen. Der Versuch vieler Politiker, die nach rechts abgebogenen Wähler dort wieder ein- und zurückzuholen, hat sich als untauglich erwiesen. Die Bürger durchschauen das fadenscheinige, opportunistische Theater und wählen erst recht den Schmied und nicht den Schmiedl. Diese Politiker haben mit ihrem Kampf um die politische Macht bestenfalls kurzzeitig ihre Haut gerettet wie Kurz in Österreich – aber um welchen Preis? Dass er die Rechten in die Regierung geholt hat, mit einem ebenso zynischen Machtkalkül wie der damalige Bundeskanzler Schüssel Jörg Haider. "Wer mit Ungeheuern kämpft, mag zusehn, daß er nicht dabei zum Ungeheuer wird. Und wenn du lange in einen Abgrund blickst, blickt der Abgrund auch in dich hinein" (Nietzsche). Das heißt, die Politiker haben die Wahl zwischen Pest und Cholera: entweder genauso zu werden wie die, die sie bekämpfen, oder unterzugehen. Das führt zu der paradoxen Dynamik: Je mehr die Politiker um Macht kämpfen, desto weniger Erfolg ist ihnen beschieden. Wenn sie nun den Umkehrschluss daraus zögen: Je weniger wir um unsere Macht kämpfen…? – Das klingt völlig verrückt, aber eins nach dem anderen.
WORAUF DIE TROLLE EIGENTLICH ZIELEN
Die Akteure der Manipulation haben zwei Grund-Ausrichtungen: ökonomische – mit Fake News, Halb- und Unwahrheiten möglichst viele Klicks zu generieren und dadurch möglichst viele Werbeeinnahmen – und politische (s.o.). Die ersteren blende ich aus; das ist ein anderes Thema und führt zu anderen Lösungen.
Was ist das politische Anliegen dieser Akteure? Einerseits Chaos, Unsicherheit, Verwirrung, Zorn… zu stiften, möglichst viel Sand ins Getriebe der demokratischen Prozesse zu streuen. Wie im Märchen vom Hasen und vom Igel ("Ich bin schon da!") sabotieren sie erst die Demokratie, um sie dann als dysfunktional zu diffamieren. Andererseits wollen sie, wie von Carolin Emcke beschrieben, die politischen Verhältnisse in eine bestimmte Richtung lenken. Sie bekämpfen die grundlegenden Paradigmen einer liberal-pluralistischen Gesellschaft und die davon abgeleitete Politik. Auf beides – Paradigmen und Politik – haben sie keinen direkten Einfluss (abgesehen von den paar gleich gesinnten Politikern). Also müssen sie einen Umweg wählen: über die Wähler jener Politiker, deren Politik sie beeinflussen wollen. Das Zahlenverhältnis zwischen jenen Wählern, die für diese Manipulationen anfällig sind und den "Resistenten" ist eigentlich eindeutig: höchstens 2:8. Aber die Pseudopolitik der letzten Jahrzehnte hatte ihren Preis: Legitimitätsverlust und Wählerschwund. Darum hängt die politische Macht der einstigen Großparteien nur noch an einem seidenen Faden: Äußerst geringe Wählerbewegungen haben gewaltige Auswirkungen. Das verleiht Kleinparteien, die eigentlich kaum politisches Gewicht haben eine ungeheure Macht. Die bisherigen "Volksparteien" sind auf die Größe von Parteien wie AfD, FPÖ, Lega Nord… geschrumpft, die dadurch das Zünglein an der Waage der politischen Verhältnisse sind. Wenngleich also drei Viertel der Deutschen lt. Umfragen niemals AfD wählen würden, kann ein Viertel der Wähler durch ihre politische Hebelkraft die Mehrheit vor sich hertreiben.
Für jene Akteure, die die politischen Verhältnisse in ihrem Sinn manipulieren wollen ist das ein Geschenk. Sie müssen sich nicht mehr nutzlos an jenen drei Vierteln der "Resistenten" abarbeiten, bei denen das ohnehin ein aussichtsloses Unterfangen wäre. Es reicht völlig, sich auf das verbleibende Viertel der Wähler zu fokussieren, um eine maximale politische Hebelwirkung zu erzielen. Der Erfolg dieser Strategie ist schlagend: Entweder die Politiker halten die Fahne von Liberalität und Pluralismus hoch und gehen unter, oder sie passen ihre Paradigmen und ihre politische Agenda an die Forderungen jener politischen Minderheit an. Eine kleine Minderheit treibt die demokratische Mehrheit nach Belieben vor sich her.
IN DIESER SYSTEMDYNAMIK LIEGT DIE LÖSUNG
Die Hebelwirkung jener Trolle beruht darauf, dass die Politiker ihre Paradigmen selbst definieren können. Der politische Pluralismus und die Wahl-Freiheit der Bürger beruhen auf der Konkurrenz zwischen den Paradigmen der verschiedenen Parteien. Ihre Grundüberzeugungen zu den diversen Themen – Wirtschaft, Sicherheit, Bildung, Soziales… – bündeln Parteien zu ihrem jeweiligen Parteiprogramm. Das präsentieren sie bei den Wahlen, und die Bürger können sich für das eine oder andere Paket entscheiden.
Ohne die weiteren Argumente nochmals auszuführen schlage ich deshalb vor, dass nicht die Politiker ihre Paradigmen definieren dürfen, sondern dass die Bürger selbst das in Volksabstimmungen tun. Angefangen von den grundlegenden Menschenrechten. Wenn zwei Drittel der Deutschen der Überzeugung sind, dass die Menschenrechte nicht nur für Deutsche, sondern auch für Flüchtlinge gelten, dann sollen diese zwei Drittel das auch so beschließen können anstatt von einer politischen Minderheit und deren unfreiwilligen und freiwilligen politischen Vollzugsgehilfen in die Gegenrichtung gezwungen zu werden. Dasselbe gilt für Themen wie die Klimaerwärmung. Die überwältigende Mehrheit der Bürger würde dem Klimaforscher Joachim Schellnhuber zustimmen:
SZ
Dennoch behalten die Kapitäne unbeirrt aus den genannten politischen Nutzenkalkülen und aus wirtschaftlichen Rücksichtnahmen ihren Kurs bei. Ohne zu realisieren, das mehr vom Selben nur noch mehr vom Selben bringt. Und so weiter und so fort.
Womit wir wieder bei der paradoxen Frage sind: Könnte die Lösung anstatt in einem Mehr vom Selben, in noch mehr Kämpfen um die Macht im Gegenteil liegen, in einem Machtverzicht? Freilich nicht – daher dieser lange Umweg – im platten Sinn von "alle viere von sich strecken und sich dem Schicksal ergeben". Wenn die Bürger die fundamentalen Paradigmen der Politik selbst definieren, bedeutet das für die Parteien und ihre Repräsentanten einen ungeheuren Machtverlust. Sie können nun entweder wehren – mehr vom Selben… – oder auf diesen Teil ihre politischen Macht aus Einsicht freiwillig verzichten. Sie können erkennen, dass das die Lösung ist. Dass das Hamsterrad ihres politischen Machtgerangels sich dann verlangsamt und nahezu zum Stillstand kommt. Dass die Pluralität nicht nur durch Parteien und ihre Programme geschaffen werden kann, sondern indem die Bürger über Grundthemen, wie sie das Grundgesetz beinhaltet selbst abstimmen.
Wie bei einem Mobile hängt in der Gesellschaft alles mit allem zusammen. Man kann nicht irgendwo eingreifen ohne das Ganze damit in Bewegung zu bringen. Deshalb hätte diese Systemveränderung – und damit sind wir wieder am Ausgangspunkt – auch eine gewaltige Hebelwirkung auf die politische Manipulation. Wenn die Politiker ihre Agenda nicht mehr selbst definieren können, schwenkt das ganze System in eine andere Richtung. Denn ohne diese Macht (ohne Richtlinienkompetenz) lösen sich die ideologischen Konflikte um ihre politische Ausrichtung auf. Das Streitthema ist weg. Und damit auch die Angriffsfläche für die Trolle. Die Politiker, insbesondere aber ihre Wähler werden als Zielscheibe für politische Beeinflussung uninteressant. Denn wie gesagt gälte es dann nicht nur jene Minderheit zu manipulieren, die dafür anfällig ist, sondern alle Bürger. Was von vornherein vergebliche Liebesmüh ist.
Wie kommen wir aber da hin? Ist es vorstellbar, dass Politiker, deren hauptsächlicher Lebensinhalt es zu sein scheint, ihre Macht zu erhalten bzw. auszuweiten genau auf diese Macht verzichten? Es scheint unrealistisch. Aber was heißt heutzutage schon "realistisch"? Wenn die Politiker weiter mehr vom Selben praktizieren sollten sie sich nicht wundern, wenn sie auch die selben Ergebnisse bekommen: Sie können aufrechten Hauptes untergehen oder beim Versuch, den Teufel mit Beelzebub auszutreiben selbst zu Teufeln werden. So sind die Aussichten. Das ist realistisch.
Vielleicht dämmert deshalb dem einen oder anderen Politiker die Einsicht, dass es etwas grundlegend anderes braucht. Ich frage mich allerdings, ob die Erde noch so viel Zeit hat (vgl.o. das Schellnhuber-Zitat) und ob die Gesellschaft nicht bis dahin auseinanderfliegt. Ich plädiere deshalb für eine Volksabstimmung, die genau das zum Ziel hat: dass die Bürger die grundlegenden politischen Richtungsentscheidungen selbst treffen. Das ist eine sinnvolle Anwendung von Basisdemokratie – im Gegensatz zu absurden Themen wie Vollgeld o.ä. Die Bürger sollten nicht aufgefordert werden, über Dinge abzustimmen, von denen sie nicht genug verstehen, sondern über Grundsatzfragen. Man könnte dabei das Grundgesetz Artikel für Artikel in Bürgerversammlungen (Open Space…) diskutieren, ggf. modifizieren / streichen / hinzufügen und dann in einer bundesweiten Volksabstimmung über jeden Artikel abstimmen. Woraus sich weitere notwendige Konsequenzen ergeben, die ich jetzt nicht weiter ausführen werde, um diesen Essay nicht noch mehr zu verlängern. Das Wesentliche scheint mir gesagt. Jetzt geht es ums Tun.