PARTEIENDEMOKRATIE : NICHTS FÜR KRISEN

Je größer die Krise, desto mehr wackelt die Demokratie, desto mehr wird nach dem „starken Mann“ (inzwischen auch nach der „starken Frau“) geschrien, der/die sie lösen soll.
„Je größer die Krise…“ Es muss ja leider im Plural geschrieben werden: als Kombination von Krisen, die einander auch noch gegenseitig befeuern, als „Polykrise“. Die Polykrise ist ein komplexes Durcheinander von vielen einzelnen, mit einander verkoppelten und einander verstärkenden Krisen – gesundheitlichen (COVID-19), außenpolitischen (Ukraine-Krieg, Spannungen mit Russland, Migration), innenpolitischen (politische Polarisierung, Populismus, Rechts-Ruck der Gesellschaft) wirtschaftlichen (Finanzkrise 2008/09, Gas-Engpass, Inflation…), sozialen (Einkommensverluste, soziale Ungleichheit, Verarmung, Abstiegs- und Existenzängste…), und insbesondere ökologischen (virulent: die Folgen der Klimakrise – Dürren, Unwetter, Hochwasser…). Um diesen Beitrag nicht zu sehr ausufern zu lassen, zähle ich jetzt die – für mich offensichtlichen – verstärkenden Wechselwirkungen zwischen diesen Krisen nicht im Einzelnen auf, etwa zwischen Energiekrise, geopolitischen Spannungen, Klimakrise, Migration, wirtschaftlicher und politischer Destabilisierung…

Diese Polykrise fordert – wie jede gravierende Krise – die Demokratie und ihre Institutionen so weit heraus, dass ihr Weiterbestand nicht mehr sicher ist. Und dieser Zusammenhang ist m.E. ein gesetzmäßiger, systemischer.
Es wurde ja schon oft betont, dass die Hyperinflation der Zwischenkriegszeit zum Dritten Reich und zum Zweiten Weltkrieg geführt hat. Ich füge hinzu: auch die Suche nach Sündenböcken (insbesondere: Juden) ist ein wiederkehrendes Krisenphänomen. Ebenso die politische Polarisierung (Rechts-Drift) und wachsender Autoritarismus. Die Geschichte des 20. Jahrhunderts legt nahe, dass Krisen stets die Demokratie schwächen und gefährden.
Was sich mir gerade in den letzten Jahren aufdrängt, ist das wiederkehrende Phänomen, dass die Demokratie auf Krisen mit Populismus reagiert. Parteien und Politiker reagieren nicht lösungsorientiert, sondern scheinlösungsorientiert. Sie versuchen opportunistisch, das Wasser der Krise auf die Mühle ihres Macht-Zugewinns zu lenken. Dafür lenken sie vom eigentlichen Problem, dessen echte Lösung unsicher, schwierig und schwer verdaulich wäre ab. Nicht genug; sie leugnen oder ignorieren die tieferen Gründe der Krise. Stattdessen präsentieren sie „sichere“, oberflächliche, einfache, leicht verdauliche, symptomatische „Lösungen“. Sie konstruieren eine Phantomwelt aus Scheinproblemen, zusammengehalten von Feinbildern. Sie teilen die Welt in Gut (wir) und Böse (die Anderen, die politischen Gegner, die Eliten, die Juden, die Minderheiten…). Ihr Populismus entwickelt eine selbstverstärkende Eigendynamik zum weichen („illiberale Demokratie“) und schließlich zum harten Autoritarismus.
Dazu gehört die andere Seite, die Bürger, d.h. Wähler. Gravierende Krisen schaffen Not und existenzielle Ängste. Sie provozieren Wut auf (imaginierte oder tatsächliche) Schuldige. Der distanzierte Blick auf die komplexe Gesamtsituation wird – wenn er je denn je vorhanden war – verengt auf die unmittelbaren und dringendsten Probleme; alles andere wird ausgeblendet. Da so tiefgreifende und komplexe Probleme wie die derzeitigen einfache und sichere Lösungen a priori nicht zulassen, befinden sich Politiker in einer Zwickmühle. Wie beim Mühlespiel führt jeder Zug, jedes Öffnen und Schließen der Mühle zu einer Verlustsituation. Man kann es nur falsch machen. Das wurde bei der Corona-Krise überdeutlich. Ob die politischen Entscheidungsträger restriktiv oder permissiv reagierten: es hatte in jedem Fall fatale Konsequenzen. Die restriktive Politik, die damals durchgesetzt wurde – Lockdowns, Masken- und Impfzwang… – hatte gravierende gesellschaftliche Auswirkungen, die bis heute andauern; dafür bewahrte sie das Gesundheitssystem vor dem Zusammenbruch und rettete viele Leben. Hätten die Politiker sich für eine lockerere Handhabung der Corana-Krise entschieden, wäre das Gegenteil eingetreten, und man hätte sie dafür quasi gelyncht. So aber stehen sie seitdem unter Dauerbeschuss eines wütenden Teils der Bevölkerung, der von jeder weiteren Krise neuerlich getriggert wird, und dessen politischer Sprachrohre, die diese Wut opportunistisch für ihren Machtgewinn instrumentalisieren. Und hier schließt sich der Kreislauf der Verstetigung und Eskalation: Bürger > Populisten > Bürger. 🔄
Die Corona-Krise und was sie auslöste ist beispielhaft für alle gravierenden Krisen: Von den politischen Entscheidungsträgern werden Lösungen erwartet – „dafür haben wir sie ja gewählt!“ –, aber wenn die Lösungen unsicher wären, mühsam, vielleicht sogar schmerzhaft, stecken viele Bürger lieber den Kopf in den Sand und hören auf die Rattenfänger, die ihnen sichere, leichte, schmerzlose Lösungen versprechen bzw. wie im Fall der Klimakrise, diese überhaupt leugnen. Es würde ein weit höheres Maß an Einsicht in die tatsächliche Komplexität der Probleme erfordern, um auch komplexe Lösungen mit all ihren Unsicherheiten und Schwierigkeiten zu akzeptieren. Um die damit verbundene Spannung auszuhalten, wäre ein weit höheres Maß an persönlicher Reife notwendig. So aber können viele Menschen die reale Komplexität der Probleme nicht erkennen, und sie wollen sie auch gar nicht sehen.
Das hat politische Konsequenzen: Dieser Teil der Bevölkerung hat kein Vertrauen mehr in die Politik. Mit anderen Worten, die etablierten politischen Institutionen und Verfahren werden de-legitimiert, die Demokratie erodiert – in der Vergangenheit oft bis zu ihrem völligen Zusammenbruch.
Es bedürfte auch in der derzeitigen Polykrise eines parteienübergreifenden Konsenses, sich den Herausforderungen ernsthaft, sachlich und mit allen Konsequenzen zu stellen. Es bedürfte einer „Regierung der nationalen Einheit“, wo die Not zum Zusammenhalt zwingt. Das Gegenteil ist leider der Fall: Die Parteien und Politiker sind größtenteils zu feig und zu opportunistisch, um nicht mit den Problemen für sich billiges politisches Kleingeld zu machen. Wer blinzelt – wer beim Blick auf die nächsten Wahlen Angst zeigt –, hat verloren. Aber nur wenn alle relevanten politischen Kräfte zusammenhalten und niemand einknickt, können schwierige und mühsame Lösungen angegangen werden.
Was die Polykrise faktisch erfordert, ist 1. ein Verständnis von Komplexität und 2. die persönliche Reife, mit ihr adäquat umzugehen – als Politiker wie als „gewöhnlicher“ Bürger. Ein Versagen unseres Bildungssystems wird hier überdeutlich, das den Heranwachsenden 1. ein fatal vereinfachendes Verständnis der Welt vermittelt und 2. Persönlichkeitsentwicklung überhaupt nicht nicht als seine Aufgabe sieht. „Da wir aber unsere gesamte Intelligenz dazu erzogen haben, Komplexität zu ignorieren, und da wir unsere gesamte Intelligenz darauf verwenden, Komplexität zu unterdrücken, versagt unsere Intelligenz angesichts von Komplexität“ (Edgar Morin). Die Menschen können sie nicht sehen, und was sie sehen können, wollen sie nicht sehen weil sie die Konsequenzen nicht ziehen wollen. Hierfür bräuchte es Politiker, die 1. die Komplexität der Problematik deutlich machen (anstatt sie zu leugnen und zu ignorieren) und 2. die Menschen ermutigen, sich den Herausforderungen zu stellen und sie dabei mit ihrer Politik unterstützen (anstatt ihre Angst und Wut noch mehr anzufachen, um daraus für sich Kapital zu schlagen). Die Polykrise bringt also auch eine Krise unseres politischen Systems an den Tag. Eine solche Einsicht, Reife und Selbstlosigkeit bei den gesellschaftlichen Eliten zu erwarten, ist utopisch. Und ein politisches System, das in Krisen nur funktioniert, wenn seine Entscheidungsträger geschlossen Einsicht, Reife und Selbstlosigkeit an den Tag legen, andernfalls aber kollabiert, hat einen grundlegenden Konstruktionsfehler. Es ist nicht krisenresilient. Parteiendemokratie ist ein politisches Schönwetter-System. Sobald Sturm aufzieht, schreien die meisten seiner Repräsentanten: „Rette sich, wer kann!“ Und die Bürger auf der anderen Seite suchen in ihrer Not nach Helden – aber finden wollen sie aus den genannten Umständen nur Marktschreier. Echte politische Helden stehen in einer Wahldemokratie auf verlorenem Posten – bis es zu spät ist. Zum Bildungsversagen kommt also als zweiter Hauptgrund ein Politikversagen – ein Versagen der Politiker einerseits, aber auch ein Versagen ihrer Wählerschaft andererseits.
Dass die Parteiendemokratie auf den beschriebenen utopischen Voraussetzungen aufbaut, ist der systemische Grund dafür, dass sie in gravierenden Krisen wankt oder zusammenbricht. Sie schmiert in Populismus, weichen und harten Autoritarismus ab. Wahldemokratie beruht auf Beliebtheit. Tiefgreifende Krisen erfordern tiefgreifende Lösungen, und damit macht sich kein Politiker beliebt. Das ist das systemische „Juncker-Dilemma“ der repräsentativen Demokratie: „Wir Regierungschefs wissen alle, was zu tun ist, aber wir wissen nicht, wie wir danach wiedergewählt werden sollen“ (Jean-Claude Juncker).
Die Polykrise ist gekommen, um zu bleiben. Ohne grundlegende Lösungen geht sie nicht mehr weg. Menschengemachte Krisen sind im Großen und Ganzen nicht irreversibel: Kriege können beendet werden, Rezession und Inflation kann man in den Griff bekommen, für die Migration gibt es Lösungen… Die Klimakrise ist irreversibel. Die Konzentration an Treibhausgasen und ihre Folgen bleiben Jahrhunderte und Jahrtausende bestehen. Deren Ausstoß jetzt nicht zu reduzieren oder zu beenden, heißt die bewohnbare Erde und die Zukunft der menschlichen Zivilisation dem kurzfristigen politischen Machtkalkül und Eigennutzen zu opfern. Die Wahldemokratie als Beliebtheitswettbewerb ist ungeeignet für die Lösung unserer Polykrise. Bevor unsere liberal-pluralistischen Gesellschaften wieder in Autoritarismus abstürzen und das globale Ökosystem mit ins Grab reißen, muss sich die Parteiendemokratie in eine höher entwickelte Form von Demokratie metamorphosieren.
Welche Merkmale muss diese neue Form von Demokratie haben? Beginnen wir mit der Regierung (Exekutive):
- Ihre politischen Entscheidungen müssen unparteiisch sein und rein auf sachlichen Grundlagen aufbauen, m.a.W.
- sie muss eine Expertenregierung sein – eine Regierung der fähigsten, am besten geeigneten Persönlichkeiten.
- Sie muss vom Souverän – vom Volk – legitimiert und beauftragt sein.
- Der Souverän muss sie kontrollieren und nötigenfalls absetzen können.
In welchen legislativen Strukturen und Abläufen muss sich die Souveränität des Volkes konkretisieren? Auch legislative Prozesse müssen unparteiisch ablaufen und rein auf sachlichen Grundlagen aufbauen – unbeeinflusst von Interessengruppen und Lobbying.
- Diese Notwendigkeit zeigt sich als erstes in der Auswahl der Gesetzes-Initiativen (Agenda-Setting). Welche Gesetze auf die Agenda kommen, muss eine neutrale Sachentscheidung sein. D.h., die Personen, die darüber entscheiden, müssen buchstäblich unparteiisch, parteilos sein (sonst würden Parteien-Zwänge sie korrumpieren). Sie dürfen auch nicht gewählt sein (sonst würde das Beliebheits-Ranking sie korrumpieren). Sie müssen vom Souverän, vom Volk, legitimiert sein, aber anders als durch Wahlen. Und ihr Amt muss zwar Eigeninitiative erlauben und fördern, aber es darf nicht durch Eigeninitiative (Ego-Impulse) zustande gekommen sein. Ihre Macht muss auf das sachlich Notwendige beschränkt werden: auf die Grundsatzentscheidung, welches Gesetz erarbeitet oder überarbeitet werden soll. Inhaltlichen Einfluss darauf haben sie nicht.
- Die Gesetzes-Initiative muss nun konkretisiert werden – von Menschen, die die Kompetenzen dafür haben. Ihr Auftrag besteht darin, einen (oder mehrere alternative, konkurrierende) Gesetzesvorschläge auszuarbeiten. Ihr Pouvoir umfasst jedoch keine Entscheidungsbefugnis über ihre Vorschläge. Sie haben also keinerlei Macht außer der Macht ihrer Argumente. Weil diese Entwurfs-Arbeitsgruppen nichts entscheiden können, müssen sie nicht demokratisch legitimiert sein. Sie können deshalb außer aus Fachleuten auch aus Interessenvertretern bestehen. Ihr Incentive ist, einen Vorschlag zu erarbeiten, der im weiteren Procedere möglichst große Zustimmung finden und beschlossen werden wird.
- Begutachtet, optimiert oder ggf. kombiniert werden die Gesetzesvorschläge von einem Gremium, das ebenfalls wieder rein sachlich arbeiten muss. D.h. auch hier kommen nur Personen in Frage, die parteilos und nicht gewählt, aber dennoch demokratisch legitimiert sind. Auch ihr Amt muss Eigeninitiative erlauben und fördern, darf aber nicht durch Eigeninitiative (Ego-Impulse) zustande gekommen sein. Etwaige Ego-Impulse werden auch dadurch eingeschränkt, dass diese Personen zwar den Auftrag haben, die Entwürfe zu einem beschlussfähigen Gesetzesantrag zu verdichten; ihr Pouvoir umfasst aber nicht diesen Beschluss selbst (Gruppendynamik, jede Krähe hält ihre Jungen für die schönsten…).
- Der Gesetzesantrag wird in einer legislativen Versammlung vorgestellt. Diese Versammlung muss groß genug sein, um den Souverän in seinen vielfältigen Ansichten und Interessenlagen zu repräsentieren. Nach Beantwortung etwaiger Fragen werden die vorgestellten Anträge beschlossen (oder zurückverwiesen). Um den Einfluss von Gruppendynamik, Rhetoren… zu minimieren, werden die Anträge nicht diskutiert.
Ein Koordinations-Organ für die inhaltliche und finanzielle Abstimmung zwischen diesen vier Gremien wird nützlich sein, ebenso meta-politische Gremien für die Qualitätsentwicklung und -sicherung dieses Procederes.
- LEGISLATIVE:

2. EXEKUTIVE

Dieses Modell einer Losdemokratie geht auf Terry Bouricius zurück, einen US-Politologen und langjährigen Abgeordneten (Weggefährten von Bernie Sanders). Er hat es zuletzt hier dargestellt. Ich habe mich vielfach auf sein Modell bezogen, etwa im Kontext Trump hier.
Die entscheidende Frage ist nun: Wie, wenn nicht durch Wahlen werden diese Gremien legitimiert? Welches Procedere ist in der Lage, die Zivilgesellschaft in ihrer ganzen Vielfalt repräsentativ abzubilden? (Repräsentativität ist ja die einzige Alternative zur tatsächlichen Vollzähligkeit.) Die Antwort ist: eine gewichtet repräsentative Zufallswahl. Es gibt erprobte und bewährte Techniken, wie diese Los-Auswahl tatsächlich repräsentativ sein kann, auch von der Gewichtung relevanter Gruppen her. So hat z.B. die Sortition Foundation (Cambridge, UK) für Bürgerräte ein Verfahren entwickelt, das eine gewichtet repräsentative Auswahl der Teilnehmer ermöglicht. Der Vergleich von Ziel / Antwortenden / End-Auswahl bei der Hereforshire Climate Assembly, die diese Organisation begleitete, zeigt die frappante Repräsentativität ihres Auswahlverfahrens bei allen Kriterien (Geschlecht, Alter, Ethnie, Behinderung, Grad der persönlichen Sorge / Betroffenheit, Mehrfachbenachteiligung, Stadt/Land)

Dieses Auswahlverfahren ist je nach Bedarf skalierbar – von Gemeinden über Landkreise, Bundesländer bis auf die nationale Ebene; ja, es wäre sogar international möglich. Auf jeder Ebene wäre gewährleistet, dass sich die von der jeweiligen Thematik Betroffenen in der ausgelosten Auswahl wiederfänden. Um bei dem Beispiel zu bleiben: Stadt- und Landbewohner wären optimal repräsentiert, sozial Benachteiligte ebenso wie „Gewinner“, Menschen, denen Klimaschutz wichtig ist ebenso wie solche, denen er nicht so ein Anliegen ist, Behinderte, alle ethnischen und Altersgruppen, ebenso Frauen / Männer / Sonstige.
Werden die Menschen das als repräsentativ empfinden – repräsentativer als das Wahlverfahren? Werden sie sich in diesen gewichtet ausgelosten Gremien gefühlt wiederfinden? Werden sie ihnen deshalb Legitimität zuschreiben – größere Legitimität als den derzeitigen Parteien und Politikern? (Wenn diese Losdemokratie keine Höherentwicklung und qualitative Steigerung der demokratischen Strukturen und Verfahren wäre, wäre sie ja nutzlos.) Ich bin überzeugt, ja. Jede Leserin, jeden Leser bitte ich, es sickern zu lassen und hinzuspüren: Würde ich mich, meine Ansichten, Interessen… in den beschriebenen, gewichtet-repräsentativ ausgelosten Organen wiedererkennen? Würde ich ihnen zuschreiben, dass sie meine sozialen Meinungen, meinen sozialen Willen zum Ausdruck bringen (Rudolf Steiner) und politisch zur Geltung bringen? Kann ich mich mit so einer Legislative identifizieren – und auch mit einer Regierung, die von so einer Legislative eingesetzt wird?
Vielleicht ist es Ihr Kopf, der antwortet: „Aber Legitimität ist doch untrennbar mit Wahlen verknüpft! Außerdem, das Grundgesetz… Und überhaupt…“ Aber der Kopf ist hier die falsche Auskunftsquelle. Legitimität ist keine Sache des Kopfes, keine Sache des Verstandes. Sie ist nur mit großer Mühe intellektuell rechtfertigbar. Sie ist nichts Fixes, Eindeutiges, Unveränderliches…; sie ist viel mehr emotional als intellektuell, etwas, was dem Gefühl entspringt, was man aus seinem Empfinden heraus zuschreibt, was sich unter bestimmten Umständen aber auch auflösen und ins Gegenteil verkehren kann: Distanzierung, Vertrauensverlust, Misstrauen, Verachtung… Auch wenn es lange, kluge Abhandlungen von Professoren über die Gründe für politische Legitimität gibt: kein Mensch fragt danach, wenn er die Legitimität einer Institution oder einer Person beurteilt. „Le cœur a ses raisons que la raison ne connaît point“ (Pascal), „das Herz hat seine Gründe, die der Verstand nicht kennt“.
Sicher, „Legitimität“ hat ihre formale, intellektuelle Außenseite („legitim“ heißt ja wörtlich „rechtmäßig“). Es gibt aber viele Menschen, die mit dem Begriff wenig oder überhaupt nichts anfangen können. Dennoch können sie jederzeit – wie auch immer – ausdrücken, ob sie einer Politikerin vertrauen und sich mit ihrem politischen Handeln identifizieren oder ob sie sich von einem Politiker verraten und verkauft fühlen. Das ist die Quelle der Legitimität, so wie das Rechtsempfinden überhaupt die Quelle des Rechts ist. Es kristallisiert in einem formalen Gerüst; dieses kann sich aber jederzeit durch das Leben wieder auflösen. Legitimität ist also ein temporärer Niederschlag im Prozess der Legitimierung. Bei niedriger „Gesellschaftstemperatur“ kristallisiert sie; wenn die „Temperatur“ steigt, löst sie sich auf, um sich bei „Abkühlung“ erneut zu kristallisieren.
In diesem Sinne spüre und sehe ich, wie die Legitimität der repräsentativen Demokratie sich auflöst – so wie sie sich bei jeder großen Krise aufgelöst hat, was zu Autoritarismus, (Bürger)Krieg und in den totalitären Staat geführt hat. Ich sehe auch die Gegenreaktion ihrer Bewahrer und Apologeten: je mehr Auflösung und Angriffe sie erleben, desto heftiger verteidigen sie sie. Und merken 1. nicht, dass sie genau die Institutionen und Prozesse verteidigen, die die Klimakrise und die Demokratiekrise überhaupt erst ermöglicht haben und weiter verschärfen. Sie tun mit ihrer Verteidigung zwar den etablierten Parteien, nicht aber der Demokratie einen Gefallen. Sie fechten 3. für die Veränderung, indem sie den Status quo befestigen. Was 4. bedeutet, dass sie eine Weiterentwicklung der Demokratie unter Berufung auf ihre Bewahrung und Rettung verunmöglichen.
So wie die Parteien einst die Bewahrerinnen der Demokratie waren, jetzt aber Teil ihrer Zerstörung sind, so halten sich heute die Bewahrer des Parteiensystems für die Bewahrer der Demokratie, verstärken aber genau damit ohne es zu merken deren Erosion. Denn die De-Legitimierung der repräsentativen Demokratie kann nicht damit aufgehalten werden, dass man ihre Legitimität kontrafaktisch weiter bekräftigt. Kontrafaktisch soll heißen: wider das Faktum, dass sie nicht mehr als repräsentativ, als legitim empfunden wird. Die Menschen, die das so empfinden – und „Empfinden“ ist nie „richtig“ oder „falsch“; es ist – können nur damit wieder ins demokratische Boot geholt werden, dass sie sich eine Legislative und eine Regierung verschaffen, von der sie das berechtigte Gefühl haben, sie bringe „ihre sozialen Meinungen, ihren sozialen Willen wirklich zum Ausdruck“. Das ist Repräsentation, das ist repräsentative Demokratie.
Die einzige grundlegende Lösung des fatalen Repräsentations- und Legitimitäts-Problems der Parteiendemokratie ist eine grundlegende Reform der Repräsentations- und Legitimiations-Verfahren und -Strukturen: eine Losdemokratie. Ich bin überzeugt: Nur sie ist ausreichend repräsentativ für die gesamte Gesellschaft, um diese zur Unterstützung der dringend notwendigen politischen Entscheidungen im Interesse des langfristigen Gesamtwohls zurückzubringen: zur Unterstützung einer Wirtschafts- und Finanzpolitik, die zum größtmöglichen Wohle der gesamten Gesellschaft ist; zu einer Gesundheits- und Sozialpolitik zum Wohle der gesamten Gesellschaft; zu einer Bildungspolitik zum Wohle der gesamten (zukünftigen) Gesellschaft; zu einer Umweltpolitik zum Wohle der gesamten heutigen und künftigen Gesellschaft und ihrer heutigen und künftigen „Umwelt“ (wobei…: eine vom Menschen isolierte „Um“welt gibt es nicht, nur die „Einheit des Überlebens“: „Umwelt plus Organismus. Wir lernen durch bittere Erfahrungen, daß der Organismus, der seine Umwelt zerstört, sich selbst zerstört“; Gregory Bateson).
All das sind komplexe, schwierige Aufgaben, die ohne unsichere, mühsame und teilweise unangenehme Maßnahmen nicht lösbar sind. Vor allem aber sind sie ohne die Unterstützung eines Großteils der Gesellschaft – jedenfalls einer demokratischen Gesellschaft – a priori unmöglich. Um die schier überwältigende Polykrise in den Griff zu bekommen und abzuwenden, können wir uns kein Gegeneinander mehr leisten. Wer will, dass das Gegeneinander der Parteien und der von ihnen gegeneinander positionierten Gesellschaftsgruppen andauert, der wird – auch mit gegenteiligem Vorsatz – sowohl die Demokratie als auch Gaia, das Gesamtsystem Mensch und Erde, Organismus plus Umwelt zugrunde richten. Auch wenn ich mir wie die Stimme eines Rufers in der Wüste damit vorkomme: Wir müssen die Parteiendemokratie hinter uns lassen, dankbar für ihre Leistungen, aber in der nüchternen Erkenntnis: „Das waren Stufen für mich, ich bin über sie hinaufgestiegen, — dazu musste ich über sie hinweg. Aber sie meinten, ich wollte mich auf ihnen zur Ruhe setzen.…“ (Nietzsche). Die nächste, die für Mensch und Erde überlebensnotwendige Entwicklungsstufe der repräsentativen Demokratie heißt Losdemokratie.