DEN MÄCHTIGEN ZEIGEN, WO GOTT HOCKT

Die Schweizer werden in der heutigen Volksabstimmung mit großer Mehrheit den Vorschlag einer Einführung von Vollgeld ablehnen (Kurzübersicht im Standard).

"Vollgeld? Hä? Was soll das denn sein?" – Eben, da liegt das Problem. Wie sollen die Bürger sinnvoll über etwas abstimmen, was sie nicht durchschauen? Genau das ist der Haken an Volksentscheiden, und genau diese Kritik wird immer gegen Volksabstimmungen vorgebracht (insbesondere wenn Rechtspopulisten sie fordern): Volksabstimmungen seien gut gemeint, aber im Großen und Ganzen ist das Volk zu blöd zum Entscheiden. Weshalb man die wichtigen, schwierigen Entscheidungen weiterhin den Politikern überlassen sollte, die ja dafür gewählt seien.

Ohne in die gleiche Polemik zu verfallen, ist am aktuellen Beispiel Vollgeld ja tatsächlich nicht zu bestreiten, dass die Komplexität dieses Themas sogar die Ökonomen entzweit. Und wenn nicht einmal die Fachleute eine einhellige Meinung dazu haben, wie sollte es für Laien nicht eine totale Überforderung darstellen? Ich selbst habe mich während der Arbeit an FGB 2016/17 intensiv mit Geld auseinandergesetzt, auch mit Vollgeld. Als ich aber heute gefragt wurde, was das sei, konnte ich das Prinzip spontan nicht wirklich erklären, geschweige denn die divergierenden Standpunkte dazu verständlich machen. Wie sollte sich also jemand, der sich noch nie eingehend mit dieser extrem schwierigen Frage beschäftigt hat eine Urteilsgrundlage bilden können?

SINN UND GRENZEN VON VOLKSABSTIMMUNGEN

Eine Volksabstimmung über Vollgeld ist also ein Paradebeispiel dafür, wo sich dieses demokratische Instrument ad absurdum führt. Der Hausverstand sagt einem doch: Was alle Bürger beurteilen und entscheiden können sollen, müssen auch alle verstehen. Umkehrschluss: Entscheidungen, die ein bestimmtes Wissen, Erfahrung, Kompetenzen… voraussetzen (wie eben z.B. Vollgeld), sollten nur Menschen treffen, die darüber verfügen. Sonst wird Basisdemokratie zur – demagogisch leicht beeinflussbaren – Herrschaft der Inkompetenz.

Die Aufzählung, wo eine Volksabstimmung nicht das optimale Instrument ist, ließe sich fortsetzen. Als grundlegende Orientierung kann aber gelten: Nur was alle verstehen und beurteilen können, können auch alle sinnvoll entscheiden. Der Rest ist eine Sache für Insider, Fachleute, Spezialisten…

Damit stellt sich freilich die kaum weniger schwierige Frage: Wie können wir Bürger vermeiden / verhindern, dass die Demokratie dadurch zu Expertokratie verkommt? Zur Herrschaft von Spezialisten, die intransparent und abgeschottet weitreichende Entscheidungen treffen, die u.U. keineswegs zum Wohle, sondern zum Schaden der Menschen sind?

Wem kommt etwa bei dieser Frage nicht spontan die EU-Kommission in den Sinn? Jenes demokratisch nicht legitimierte Technokraten-Gremium, das nicht einmal vom EU-Parlament kontrolliert, korrigiert und in die Schranken gewiesen werden kann? Diese Struktur ist ein Hauptgrund für den Überdruss und die Abneigungen gegen die EU als ganze. Und in den Strudel der Aversion und ohnmächtigen Wut über "die da oben" wird gleich die Demokratie als ganze mit hineingerissen. So viele Bürger wie noch nie sehen die Demokratie prinzipiell kritisch bzw. würden eine "starke Hand" begrüßen. Wenn die Repräsentanten der repräsentativen Demokratie dann auch noch gegen Volksabstimmungen auftreten und die "Alternativlosigkeit" der herrschenden Verhältnisse beschwören, liegt die Frage nicht fern: Cui bono? Für wen ist das gut? Für die Nutznießer dieses Systems oder für die Bürger?

Das verbreitete Bedürfnis, selbst mitentscheiden zu wollen ist deshalb nur zu verständlich. Gleichzeitig steht man dann vor dem obigen Dilamma: Volksentscheide schön und gut, aber wenn die zu entscheidenden Fragen das Fassungsvermögen eines Normalbürgers übersteigen? – Es gilt also eine neue Lösung zu finden, die beidem Rechnung trägt: 1. dem berechtigten Bedürfnis der Bürger, über ihre Lebensverhältnisse mitentscheiden zu können (ohne mit komplexen Dingen überfordert zu sein), und 2. den Kompetenz-Voraussetzungen für viele Themen, die zwar alle betreffen, aber nicht von allen verstanden werden können, ergo auch nicht von allen entschieden werden sollten.

Ein Schlüssel zur Lösung dieses Dilemmas liegt in den drei Management-Ebenen, die von Stafford Beer durch sein Viable System Model begründet wurden. Er unterscheidet als Grundmerkmal aller lebens- / existenzfähigen Systeme

  1. eine operative Führung und Kontrolle der Abläufe (der Management-Alltag),
  2. eine strategische Entscheidungsebene (längerfristige Ausrichtung und Planung), sowie
  3. eine Ebene, auf der normative Entscheidungen getroffen werden: Was sind unsere unumstößlichen Werte, Normen, Leitlinien, Prioritäten…?

Diese Ebenen brauchen nicht formal und ausdrücklich vorhanden zu sein. Für die langfristige Existenz eines Unternehmens aber müssen alle drei Aufgabenbereiche gemanagt werden. Die laufenden Geschäfte müssen geführt werden, längerfristige Strategien müssen entwickelt werden, und allen Entscheidungen liegen mehr oder weniger bewusste Normen, Grundwerte, Musts & Must-nots zugrunde (z.B. Was zählt im Entscheidungsfall mehr? Ökonomie oder Ethos? Kurz- oder langfristige Gewinne? Renditen oder Nachhaltigkeit?).

Hält man diese Realität mit dem oben beschriebenen Dilemma zusammen, klären sich die Dinge:

  1. Die alltäglichen Entscheidungen in Politik und Wirtschaft, sowie
  2. längerfristige Ziele und Strategien zu ihrer Umsetzung verlangen ohne jeden Zweifel Wissen, Können, Erfahrung… Sie sind deshalb keine basisdemokratische Spielwiese, wo jeder mitreden können sollte. Darum hat Unternehmensdemokratie nie funktioniert, wenn sie auch auf diese beiden Ebenen ausgeweitet wurde. Gerade hier würde Basisdemokratie somit auch zu einer Herrschaft der Inkompetenz führen. – Dieser Gesichtspunkt gilt hingegen nicht für
  3. Grundsatzentscheidungen: Grundsatzfragen wie die oben beispielhaft genannten (Was hat Priorität: Unternehmens- oder Gesellschaftsnutzen? Ökonomie oder Ethos? Rendite oder Nachhaltigkeit?…) können auch von Nicht-Experten beurteilt und entschieden werden. Also im Prinzip von jedem mündigen Bürger.

Davon kann man die Faustregel ableiten: Prinzipielle Grundsatzentscheidungen sind ein sinnvolles Anwendungsfeld für Bürgerentscheide; ihre Umsetzung kann dann Personen übertragen werden, die dafür nötigen Kompetenzen mitbringen. Sie können das Schiff dann nicht in eine grundsätzlich falsche Richtung steuern, denn die Bürger haben ihnen den Rahmen abgesteckt, innerhalb dessen sie sich bewegen dürfen.

DEN MÄCHTIGEN ZEIGEN, WO GOTT HOCKT

Das bedeutet als konkrete Konsequenz: Wenn wir die bisherigen Entscheidungsstrukturen in Politik und Wirtschaft so belassen, wie sie sind, dann dürfen wir nicht erwarten, dass sich grundlegend etwas bzgl. aller folgenschweren Missstände ändert, die die Zukunft der Menschheit und unseres Heimatplaneten gefährden. (Wie bekannt, ist es ein Zeichen von Irrsinn, immer das Selbe zu tun, aber andere Ergebnisse zu erwarten.) Wenn die grundlegenden ökosozialen Werte, Normen, Prioritäten, Tabus usw. von den gleichen Personengruppen wie bisher nach ihrem Gutdünken definiert werden, dann werden sie sie nicht ändern bis Katastrophen sie dazu zwingen (und viele Entscheidungsträger sind sogar Katastrophen-resistent). Der bevorstehende Klimakollaps, die globale nukleare Bedrohung, Umweltverschmutzung etc. etc. – all das ist seit Jahrzehnten bekannt, und trotzdem haben die Entscheidungsträger nach wie vor nur kosmetische Änderungen vorgenommen. Es wäre deshalb völlig weltfremd, zu hoffen, dass sich daran etwas ändert. Wenn wir also nicht wollen, dass die Politik und die Großunternehmen das Schiff weiterhin in eine Richtung steuern, die für kurzfristige Vorteile die Zukunft von Mensch und Erde aufs Spiel setzt, müssen wir ihnen zeigen, wo Gott wirklich hockt.

Jede demokratische Verfassung sieht die Bürger als den einzigen Souverän im Staat an. Also haben die Bürger nicht nur das Recht, sondern in ihrem Überlebensinteresse die Pflicht, die grundlegenden, langfristigen existentiellen Entscheidungen an sich zu ziehen. Und Politik und Wirtschaft zu zwingen, sich danach zu richten.

Anstatt die Bürger mit hochkomplexen Dingen wie Vollgeld zu überfordern, sollte man sie in Volksabstimmungen entscheiden lassen, dass Politik und Wirtschaft ab sofort so auszurichten sind, dass auch unsere Kinder und Kindeskinder noch eine bewohnbare Erde vorfinden. Jede Zuwiderhandlung ist strafbar und gilt als Kapitalverbrechen, das geahndet wird wie Verbrechen mit vergleichbaren Opferzahlen. Und von dieser Grundsatzentscheidung absteigend können die Bürger weitere treffen, z.B.:

  • Wollen wir weiterhin eine "kannibalische Weltordnung"?
  • Wollen wir langfristig eine industrielle oder eine ökologische Landwirtschaft?
  • Wollen wir weiterhin eine Wirtschaft, die zu absurden Vermögenskonzentrationen bei einer winzigen Bevölkerungsgruppe führt (1%/99%)? Eine Wirtschaft, wo die, die Geld haben, daraus noch mehr Geld machen können, und die, die keines haben, ihr Leben lang dazu verdammt sind, sich irgendwie durchzukämpfen?
  • Wollen wir weiterhin eine Wirtschaft, die auf Ausbeutung beruht? Auf systematischer Ausbeutung von Menschen in Afrika und Asien, bis hin zur Sklaverei? Auf systematischer Ausbeutung und Misshandlung von Tieren? Auf systematischer Ausbeutung und Zerstörung der Natur?
  • Wollen wir weiterhin Börsen-getriebenen Konzernen überlassen, was sie mit unseren Daten tun?
  • Wollen wir weiterhin zulassen, dass Konzerne sich lebenswichtige Ressourcen wie Wasser unter den Nagel reißen und sie damit für viele Menschen unerschwinglich machen?
  • Wollen wir weiterhin Steuerparadiese für Konzerne?
  • Wollen wir weiterhin eine Politik, die Konzern- und Lobby-gesteuert kurzfristige Profitinteressen vor langfristige Nachhaltigkeit stellt? Eine Politik, die sich den Konzernen andient, anstatt ihnen knallhart die Spielregeln vorzuschreiben (vgl. Abgasskandal)?
  • Wollen wir weiterhin Politikern die Entscheidung darüber überlassen, ob die fundamentalen Menschenrechte für alle gleich gelten – oder nur für diejenigen Menschengruppen mit der "richtigen" Herkunft, Hautfarbe, Religion, sexuellen Identität…?
  • Wollen wir weiterhin Politiker über Krieg oder Frieden entscheiden lassen?

Und so weiter und so fort. Die Aufzählung ist subjektiv und relativ unüberlegt. Es geht auch gar nicht darum, was ich richtig und wichtig finde. Es geht darum, dass der alleinige Souverän im Staat, die Bürger, entscheiden können, was sie grundsätzlich und langfristig für richtig und wichtig halten.

Ich habe in diesem Blog schon anhand zahlreicher Beispiele dargestellt, dass diese Entscheidungsstruktur nicht nur die Lösung der meisten aktuellen Probleme wäre (vgl. Facebook-Datenskandal, Tiertransporte, Konzernmacht…), sondern sie auch von vornherein verhüten würde. Es gibt also nichts Dringenderes und Wichtigeres, als dass die Souveräne, die Bürger, die Entscheidungshoheit für fundamentale gesellschaftliche und ökologische Grundsatzfragen einfordern und übernehmen. Diese Fragen sind je und je transparent zu diskutieren (vgl. die Bürgerversammlungen in Irland). Die Ausarbeitung von Strategien können dann Personen übernehmen, die kompetent dafür sind; ebenso die konkrete Umsetzung. Wobei diese Grundsatzentscheidungen keine unverbindlichen Empfehlungen und schüchternen Wünsche an die Adresse der Politiker und Manager sind. Diese Normen sind unumstößliche Rahmenrichtlinien; verpflichtende Anweisungen, die keiner ungestraft missachtet.

Diese per Volksabstimmung beschlossenen Grundnormen müssen Verfassungsrang haben. Und das in einem anderen Sinn als bislang. Derzeit kann jede Regierung mit der nötigen Parlamentsmehrheit die Verfassung ganz nach ihren ideologischen Vorstellungen verändern. Diese Macht ist vollkommen absurd. Die Verfassung ist das "Betriebssystem" der Gesellschaft; keine Anwendung darf ihr Betriebssystem verändern. Es gibt eine Bezeichnung für Algorithmen, die das dennoch tun: Viren. Eine Regierung, die die Verfassung abändert, die ihrer Willkür eigentlich Grenzen setzen sollte ist wie ein Virus, der das Betriebssystem manipuliert oder sogar die Hardware zerstört. Davor muss die Verfassung künftig geschützt werden. Keine Regierung darf die Verfassung verändern. Das steht allein dem Souverän zu, der sie definiert: den Bürgern. Sie ist der einzige Schutz der Bürger vor Regierungswillkür.

Ich habe mich auch gefragt: Können denn nicht auch die Bürger bei Grundsatzentscheidungen in die Irre gehen? Können sie nicht auch gravierende Fehlentscheidungen treffen, manipuliert in ihren Facebook-Fanclubs, aufgehetzt von Polit-Demagogen…? Natürlich ist das möglich. Keine Entwicklung ohne die Möglichkeit des Irrens. Jedes Volk wird eines Tages an seinen Grundsatzentscheidungen gemessen werden, an den Grundwerten, zu denen es sich bekannt, die es durchgesetzt und verteidigt hat – oder auch nicht. Und es wird den Preis dafür zahlen. Auch das ist nur eine Umschreibung von Mündigkeit.

Vielen der gravierendsten Probleme, die bislang durch den Handlungsspielraum der politischen und wirtschaftlichen Entscheidungsträger aufgeworfen werden, wäre durch eine solche Struktur von vornherein vorgebeugt. Sie ist die optimale Lösung für problematische Entwicklungen in der Politik (Rechts- und Links-Populismus, gelenkte Demokratie, Autoritarismus, selektive Beschneidung der Menschenrechte, nationalistische und religiöse Diskriminierung von Minderheiten, Auflösung des sozialen Sicherheitsnetzes, Überwachung der Bürger, Laissez-faire gegenüber der Wirtschaft…) wie in der Wirtschaft: Deregulierte Finanzmärkte, Konzern-Monopole (Facebook, Google, Amazon…), sowie den katastrophalen ökosozialen Auswirkungen des Börsen-getriebenen Raubtierkapitalismus generell. Beginnen wir diese rEvolution, ehe es zu spät ist.


Diese in kürzeren Abständen erscheinenden Beiträge setzen sich mosaikartig zu einem neuen Gesamtgesellschaftsmodell zusammen. Sie sollen zeigen, dass es konsistent und und universell anwendbar ist. Ihr eigentlicher Sinn und Zweck ist freilich die Umsetzung dieses Modells – im Kleinen wie im Großen. Dafür müssen sie weiter verbreitet werden. Vielen Dank im Voraus!

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ZUR VERTEIDIGUNG DES RECHTSSTAATS

ZUR VERTEIDIGUNG DES RECHTSSTAATS

Am 19. Februar 2025 haben sechs Bürgerrechtsorganisationen eine gemeinsame Erklärung zur anstehenden Bundestagswahl veröffentlicht: "Gegen die Angriffe auf den demokratischen Rechtsstaat!" Die dort geäußerten Sorgen um die Rechtsstaatlichkeit teile ich ohne Einschränkung: die Infragestellung der Grund-/Menschenrechte, martialische Law-and-Order-Forderungen, exekutiven Ungehorsam (also die Strategie, Gerichtsentscheide schlicht zu ignorieren)

By Hanspeter Rosenlechner