DIE GILETS JAUNES: GEFANGENENAUFSTAND AUSSER KONTROLLE. EIN ERLEBNISBERICHT DER LETZTEN TAGE

DIE GILETS JAUNES: GEFANGENENAUFSTAND AUSSER KONTROLLE. EIN ERLEBNISBERICHT DER LETZTEN TAGE

FREITAG

Am 30. November wollten meine Frau Eva und ich für einige Besorgungen nach Castres fahren. Castres ist von uns zuhause (in Okzitanien, Südwestfrankreich) die nächstgelegene Stadt mit allen Einkaufsmöglichkeiten. Wir kamen nicht sehr weit. Schon 7 km vor dem Stadtrand war Stau. Es stellte sich bald heraus, dass die Gilets jaunes, die Gelbwesten ihn verursacht hatten. Wie inzwischen in ganz Europa bekannt, blockieren sie seit Wochen den Straßenverkehr in Frankreich.

Nicht nur, dass sie den Verkehr fast zum Erliegen brachten: Der Großteil der anderen Verkehrsteilnehmer war offensichtlich auf ihrer Seite, was sie mit den Warnwesten hinter den Windschutzscheiben ihrer Fahrzeuge zeigten. Die meisten Fahrer um uns folgten dem Aufruf der Demonstranten, ihre Solidarität mit lautem Hupen zu demonstrieren. Stop & go, rundum ein endloses Hupkonzert – und wir mittendrin eingekeilt. Vorwärts ging kaum mehr etwas, Umdrehen unmöglich. Eva konnte ihren Ärger kaum im Zaum halten.

Und es kam noch ärger. Am Ortseingang von Castres wälzte sich eine schier endlose Schlange von LKWs und Traktoren durch den Kreisverkehr. Ebenfalls eine Protestaktion der Gelbwesten. Und weiter Gehupe, Winken, Anfeuerungsrufe und Siegesgesten aus fast allen Autos rundum. Ich stieg aus und lief zu einem Polizei-Auto vor, das den Verkehrsfluss im Stau auf Schrittgeschwindigkeit hielt. Ich fragte, ob das jetzt bis ins Zentrum so weitergehe.

„Ja, die blockieren die ganze Stadt.“

„Die ganze Stadt?“

„Ja. Alles dicht.“

Nicht zu glauben. Nicht nachzuvollziehen. Unser Ärger kontrastierte hingegen krass mit der offensichtlichen Freude der anderen Verkehrsteilnehmer. Wir: stinksauer, fast alle Übrigen: strahlende Gesichter, fast Volksfeststimmung. Ein Rätsel.

„Ich versteh das nicht: Kapieren die nicht, dass sie sich ins eigene Knie schießen?“

„ Wie kann man so etwas anzetteln, das die anderen Mitbürger auslöffeln müssen! Was das jetzt im Stau für eine sinnloser Spritvergeudung ist! Und das in ganz Frankreich!“

„Als ob nicht letztlich alle im selben Boot säßen! Es ist wie ein Gefangenenaufstand, wo die Sträflinge glauben, sie könnten den Direktor erpressen, indem sie das Gefängnis lahmlegen.“

Dieses Bild sollte sich noch als treffender erweisen als im ersten Moment gedacht.

Als wir endlich in den Kreisverkehr hineinkamen, hatten wir den Plan mit Einkaufen schon aufgegeben. Wir nützten unsere Chance und kehrten um. Normal fährt man 20 Minuten nach Castres. Wir waren nach zwei Stunden wieder zuhause – unverrichteter Dinge. Der Nachmittag beim Teufel. Großartig.

Ich begann also, meine Überlegungen aufzuschreiben, um sie dann hier zu veröffentlichen – zum ersten Mal auf Französisch. Ich wollte die Proteste der Gelbwesten als verqueren Versuch einer direkten politischen Mitbestimmung verständlich machen und sie damit als Vorhut einer fälligen gesellschaftlichen Entwicklung zu interpretieren. Sie wissen, dass sie zwar nichts bewegen, aber dass sie alles zum Stillstand bringen können. Ihren Protest wollte ich, so weit es mir möglich sein würde, zum Positiven beeinflussen, indem ich ihnen eine Zukunftsvision anböte. Eine Selbstorganisation der drei Gesellschaftsbereiche – des geistigen, des politischen und des wirtschaftlichen Lebens würde ihren Bedürfnissen gerecht werden. Und der dafür notwendige Kompass – Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit – würde in Frankreich wohl auf offene Ohren stoßen.

SAMSTAG

Tags darauf, am Samstag war der Essay fertig. Die Facebookgruppen, in denen die Aktivisten sich offenbar austauschten und koordinierten waren nicht schwer zu finden: „Gilet jaunes“ / „Les Gilets Jaunes“ und „La France en colère“ („Das zornige Frankreich“) . Ich veröffentlichte den Artikel im Gruppenverlauf und suchte nach Beiträgen, wo ich den Link noch als Kommentar posten konnte. Aber schnell wurde mir unheimlich. Die Stimmung in diesen Gruppen als „aufgeheizt“ zu beschreiben, wäre mehr als untertrieben. Das war blinde Wut. Ich merkte schnell, dass ich mir dort meinen Essay an den Hut stecken konnte.

Da wir keinen Fernseher nutzen und nie Radio hören, ging es völlig an uns vorbei, wie am Samstagabend die Demonstrationen in Paris eskalierten. Die Bilder der Straßenschlachten gingen weltweit durch alle Medien.

SONNTAG

Als wir die Bilder der Gewalteskalation vom Vorabend auf Facebook sahen, waren wir vollkommen schockiert. Polizisten, die Bürger jagen und mit Stöcken verprügeln (und umgekehrt), Schüsse, Schreie, Tränengas, regelrechte Schlägertrupps rannten auf der Suche nach Opfern (Polizisten) durch die Straßen… Das war Bürgerkrieg!

Und die Stimmung in den Facebookgruppen? Ich kannte solche völlig enthemmten Hasstiraden bislang nur vom Hörensagen. Nun war ich mittendrin. Alle paar Sekunden postete jemand Fotos von den Straßenschlachten, insbesondere Polizeigewalt, Berichte von angeblichen Toten und Verletzten durch die Waffen der Ordnungskräfte, Videos von Polizisten, die sich ihrer Verkleidung als Gilets jaunes entledigten und sich ihren Kollegen anschlossen; von enttarnten „Regierungsspionen“ in gelben Westen, die von den Menschen davongejagt wurden; Anschuldigungen gegen die Regierung, die dafür verantwortlich gemacht wurde… Hauptzielscheibe der wüsten Beschimpfungen und Unterstellungen war natürlich der französische Präsident. In dieses Chaos mischten sich dann auch Berichte, dass er am 10. Dezember „Frankreich verkaufen“ würde (durch die Unterzeichnung des UN-Migrationspaktes); dass man ihm auflauern und ihn an der Abreise hindern würde; ein Stakkato wütender Rücktrittsaufforderungen und Appelle, ihn seines Amtes zu entheben… Die Wut darüber, wie der Präsident ihre Not ignorierte und ihren Protest mit Gewalt niederschlagen ließ war total enthemmt, die Beleidigungen gegen ihn und seine Frau zutiefst menschenverachtend.

Was mich insgesamt am betroffendsten machte war der totale Verlust jeglicher Gewalthemmung. Die Zusammenstöße vom Vorabend, so die Logik jener Aktivisten, hätten bewiesen, wie weit man mit Pazifismus komme. Die Polizeigewalt rechtfertige jede Gegengewalt. Kommenden Samstag werde man es ihnen erst richtig zeigen! Einer brüllte sich schriftlich seine verzweifelte Wut aus der Seele: „ICH KREPIERE! Was tut ein Ertrinkender anderes als um sich zu schlagen? Wir haben keine andere Wahl! MACHEN WIR SIE FERTIG!“

Den ganzen Sonntag über versuchte ich, den Gemäßigten eine Chance zu eröffnen, sich bei der geplanten Demo von den gewaltbereiten Ultraradikalen abzugrenzen. Wer keine Gewalt ausüben wolle, solle das durch seinen auf der Brust mit Klebeband befestigten Arm sichtbar machen. Wer nur einen Arm bewegen kann, kann sich nicht prügeln. Gerät so jemand dennoch ins Kreuzfeuer, hat er wenigstens die Moral auf seiner Seite. Wer hingegen beide Arme frei hat, zeigt damit, dass er jederzeit bereit zum Kampf ist.

Wie jedem anderen, der zaghaft Einwände äußerte, schlugen mir der Hass, der Zynismus und der aggressive Hohn der casseurs (Chaoten, Randalierer) entgegen. Nein, hier war keinerlei konstruktive Intervention mehr möglich. Sie wollten nur noch die Revolution: den Präsidenten absetzen, die Regierung stürzen, eine sechste Republik ausrufen, in der alle Gesetze durch Volksabstimmung beschlossen würden… Die bisherigen Forderungen (Anhebung des Mindestlohns, des Arbeitslosengeldes und der Pensionen um mehrere hunderte Euro, Abschaffung der Dieselsteuer, weitere Steuersenkungen… – ein klarer Widerspruch, aber wen schert‘s) wurden dabei von der Bildfläche gefegt. Ein Teil der Menschen versuchte, Ansprechpartner für die erhofften Verhandlungen mit der Regierung namhaft zu machen. Ihnen schlug vehementes Misstrauen entgegen: „Hat der mich gefragt? Mich vertritt der nicht! Was bildet der sich ein, für andere sprechen zu wollen?“ Die Fundamentalopposition der Radikalen hatte sich sowieso schon zum Alles-oder-Nichts verstiegen: Keine Verhandlungen! Sturz der Regierung! Ich erinnerte mich wieder an den Vergleich mit dem Gefangenenaufstand: Sträflinge, die revoltieren, sich Schlachten mit den Aufsehern liefern, alles kurz und klein schlagen…, um den Gefängnisdirektor zu erpressen, dass er ihre Haftbedingungen verbessere.

Entmutigt und ratlos ging ich ins Bett, wo ich lange nicht schlafen konnte.

MONTAG

Als am Vormittag ein Livestream einer Schülerin vor einem Gymnasium die dortige Versammlung streikender Gymnasiasten zeigte, gegenüber auf dem Platz zwei Polizeifahrzeuge, schilderte diese die Situation als ruhig und friedlich. Wer in die Schule reingehen wolle, würde nicht daran gehindert. Mir schwante dennoch Übles. Schon mittags verbreiteten sich lauffeuerartig Berichte in den Facebookgruppen, dass die Polizei auch gegen die Schüler mit Schlagstöcken und Tränengas vorgegangen und einer der Gymnasiasten durch ein Gummigeschoss getötet worden sei. Die Flammen der Empörung schossen noch höher: „Schaut, was sie unseren Kindern antun!“ Es war das reinste Inferno. Mir wurde angst und bang bei der Vorstellung, was diese Menschen in den nächsten Tagen anrichten würden. Alles war denkbar. Am Nachmittag kappte ich alle Verbindungen zu den beiden Gruppen und ihren Mitgliedern. Ruhe. Friede. Wenigstens was mich anging.

DAS GRUNDLEGENDE PROBLEM – UND SEINE LÖSUNG

Mich hatte schon im Auto die Frage nicht losgelassen, woher diese Solidarität und die allseitige Freude an so einem Chaos kommen könnte. In der Diskussion zuhause wurde im Laufe der Zeit klar, was der Kern dieses Phänomens war: Sie haben gar keine andere Möglichkeit, ihre Unzufriedenheit zu demonstrieren! Die Gesetzeslage in Frankreich bietet außer Demonstrationen und reguläre Streiks keine Optionen, auf die politische Situation irgendwie direkt einzuwirken. Eine Bürgerabstimmung („referendum d‘initiative populaire“) wie im deutschsprachigen Raum ist dort nicht möglich. Nur der Präsident hat ein solches Initiativrecht. (Der damalige Präsident Chirac nutzte es etwa, um die Franzosen über den Vertrag über eine Verfassung für Europa abstimmen zu lassen – was von den Bürgern prompt abgelehnt wurde.) Abgesehen von dieser Möglichkeit können die beiden parlamentarischen Kammern dem Präsidenten ein Referendum vorschlagen; er kann es aber auch einfach ablehnen. Mit anderen Worten, der französische Präsident regiert faktisch wie ein gewählter König. Das Volk hat keinerlei Mitspracherecht, geschweige denn das Recht, etwas zu entscheiden. Es gibt in Frankreich keine Form direkter Demokratie.

Damit wird auch klar, warum die Franzosen in ganz Europa als „die Revoluzzer“ bekannt sind. Sie haben gar kein anderes zivilgesellschaftliches Mittel! Eine Basisdemokratie war und ist dort unmöglich. Wie bei einem Dampfdruckkochtopf steigt deshalb der Druck bis zur kritischen Marke (Demonstrationen, Streiks), und wenn die Bürger realisieren, dass sie damit nichts erreichen können gibt es eine Explosion.

Vereinzelte vernünftigere Stimmen hatten deshalb in den Facebookgruppen die Möglichkeit eines Referendums für die Bürger gefordert. Aber die einzige Möglichkeit, um ein Referendum zu ermöglichen wäre… ein Referendum. Was – siehe oben – nicht möglich ist. Eine echte Köpenickiade: Um einen Pass zu bekommen, hätte der Schuhmacher Voigt eine Arbeit nachweisen müssen, aber um die zu bekommen, hätte er einen Pass gebraucht. Aus dieser ausweglosen Situation befreite er sich durch seine Maskerade. Die Franzosen können in ihrer ausweglosen Situation wählen zwischen zähneknirschender Resignation oder Volksaufstand. Meistens tun sie ersteres. Letzten Samstag haben sie gezeigt, wofür sie sich diesmal entschieden haben.

Es hängt viel davon ab, dass es der französischen Regierung in den kommenden Tagen gelingt, den Bürgern glaubhaft zu machen, dass die Botschaft der Gilets jaunes bei ihr angekommen ist. Wenn sie zu einem Kurswechsel tatsächlich bereit ist, kann das Schlimmste für kommenden Samstag abgewendet werden. Dass die casseurs und ihre Sympathisanten nichtsdestotrotz wieder zum Sturm auf die Staatsmacht blasen werden, ist zwar unausweichlich. Wenigstens kann das Land aber mittelfristig wieder zur Ruhe kommen.

Dabei bleibt dennoch das eigentliche Problem unberührt: Die politische Ohnmacht der Bürger. Der Spalt, der die französische Gesellschaft zerreißt ist noch tiefer als der in Österreich oder Deutschland. Dort können die Bürger, wenn ihnen etwas ganz gegen den Strich geht direkt ins politische Geschehen eingreifen. Nicht so in Frankreich. So lange man ihnen jedoch diese Möglichkeit verwehrt, ist es bis zum nächsten Aufstand nur eine Frage der Zeit. Die grundlegende Lösung der derzeitigen Revolte ist deshalb bürgerliche Mitbestimmung. Die Menschen müssen die Möglichkeit haben, die Grundlagen ihre Lebensumstände selbst zu beeinflussen. Die Äußerungen auf Facebook sind diesbezüglich wenig vielversprechend, aber woher sollen sie es besser wissen, wo sie nie etwas mitzureden hatten? Das wird ein langer Lernprozess, und Lernen ist eben nur mit der Möglichkeit des Irrtums möglich. Letztlich ist diese Entwicklung zur bürgerlichen Souveränität aber unvermeidlich, denn sie ist in der gesellschaftlichen DNS angelegt. Eigentlich ist sie längst in der französischen Verfassung (Art. 2) festgehalten: „Die Devise der Republik ist Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit. Ihr Prinzip ist: Regierung des Volkes, durch das Volk und für das Volk.“

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ZUR VERTEIDIGUNG DES RECHTSSTAATS

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Am 19. Februar 2025 haben sechs Bürgerrechtsorganisationen eine gemeinsame Erklärung zur anstehenden Bundestagswahl veröffentlicht: "Gegen die Angriffe auf den demokratischen Rechtsstaat!" Die dort geäußerten Sorgen um die Rechtsstaatlichkeit teile ich ohne Einschränkung: die Infragestellung der Grund-/Menschenrechte, martialische Law-and-Order-Forderungen, exekutiven Ungehorsam (also die Strategie, Gerichtsentscheide schlicht zu ignorieren)

By Hanspeter Rosenlechner