EDGAR MORIN: 7 AUFGABEN FÜR DIE ERZIEHUNG DER ZUKUNFT

EDGAR MORIN: 7 AUFGABEN FÜR DIE ERZIEHUNG DER ZUKUNFT

[Referiert, kein Originalzitat.]

  1. Vermitteln, was es bedeutet, zu wissen. Bildung muss – mehr als auf Wissen – darauf abzielen, kritisch zu hinterfragen, was das überhaupt heißt: zu wissen. Denn unsere Wahrnehmung ist nicht die Realität. „Wirklichkeit“ ist eine Verbindung von Wahrnehmungen und Begriffen. Dadurch besteht die Gefahr von Urteilsfehlern durch inadäquate Vorstellungen und Begriffe. Subjektivität, die Projektion von Wünschen und Ängsten sowie Emotionen vervielfachen das Risiko von Fehlern. Kognitiver und kultureller Konformismus hält das Wissen in unhinterfragten Vorstellungen, Überzeugungen und Normen gefangen. Die kognitiven Verzerrungen sind Legion. Es gilt also darauf vorzubereiten, den ständigen Risiken des Irrtums, der Illusion und der Verblendung zu begegnen und Reflektiertheit zu erlernen.
  2. Sich der Komplexität stellen. Komplexität heißt, dass verschiedenen Elemente eines Ganzen untrennbar miteinander verbunden und in einer Beziehung der gegenseitigen Abhängigkeit und Beeinflussung stehen. Kausalität ist niemals eindimensional, sondern zirkulär: Ursache 🔄 Wirkung. Die Effekte einer Ursache wirken auf diese zurück und verändern einerseits sie, andererseits andere, mglw. zahlreiche verknüpfte Faktoren. Der Komplexität zu begegnen bedeutet, diese Zusammenhänge zu durchschauen, zu berücksichtigen und in sein Urteilen und Handeln zu integrieren. Dazu kommt die Spezialisierung: Im 20. Jahrhundert hat die Spezialisierung der Disziplinen zu enormen Wissensfortschritten geführt. Gleichzeitig hat die Spezialisierung, die Kontexte und Komplexitäten nicht berücksichtigt, zu einer Regression des Verstehens geführt. Die Bildungssysteme trennen die Disziplinen voneinander. Wissen wird abgeschottet, anstatt in einem Gesamtsystem betrachtet zu werden. Das führt zu Reduktionismus, zu dem Versuch, das Verständnis das Ganzen auf das (quantifizierende) Verständnis seiner Bestandteile zu reduzieren. Reduktionistische Fragestellungen können aber nur reduktionistische Antworten liefern. So wird die vieldimensionale Wirklichkeit eindimensional reduziert, während andere, oft essenzielle Eigenschaften ausgeblendet und ignoriert werden.
  3. Die Einheit und Vielfalt des Menschen anerkennen. Die Entwicklung eines Gefühls der Zugehörigkeit zur menschlichen Spezies. Wer sind wir? Wo sind wir? Woher kommen wir? Wohin gehen wir? In welchem Verhältnis stehen wir zueinander – Menschen, Tieren, Pflanzen, Ökosystemen…? Einheit/Vielfalt herrscht in allen Bereichen: Menschen haben gemeinsame Merkmale und gleichzeitig ihre eigenen Einzigartigkeiten: ähnlich durch die Sprache, unterschiedlich durch die Sprachen, ähnlich durch die Kultur (die Normen, Regeln, Wissen, Können, Glauben, Verbote… umfasst), unterschiedlich durch kulturelle Eigenheiten.
  4. Das planetarische Schicksal des Menschengeschlechts verstehen. Wir sollten nicht versuchen, die Umwelt zu beherrschen und zu dominieren, sondern vielmehr in Symbiose mit ihr zu leben. „Die Einheit des Überlebens besteht aus Umwelt plus Organismus. Wir lernen durch bittere Erfahrungen, daß der Organismus, der seine Umwelt zerstört, sich selbst zerstört.“ (Gregory Bateson)Wir müssen uns dieser Einheit und wechselseitigen Abhängigkeit bewusst werden, um Verantwortung und Solidarität füreinander zu entwickeln und gemeinsam über eine Entwicklung nachzudenken, die nicht der Eigennutzen-Maximierung dient, sondern dem größtmöglichen Gesamtwohl.
  5. Sich den Ungewissheiten stellen. Bildung muss Unsicherheiten anerkennen: im Zusammenhang mit Wissen (Wissen birgt die Gefahr von Fehlern in sich, da es aus einem Prozess der Übersetzung/Rekonstruktion der Wirklichkeit hervorgeht; vgl.o.; im Zusammenhang mit der Geschichte (die menschliche Geschichte ist ein unbekanntes Abenteuer); im Zusammenhang mit Fortschritt (wissenschaftliche und technologische Entdeckungen nicht mehr unbedingt ein Synonym für positiven Fortschritt, sondern oft das Gegenteil), sowie der „Ökologie des Handelns“: „Sobald ein Individuum eine Handlung ausführt, beginnt diese sich seinen Absichten zu entziehen. Diese Handlung tritt in ein Universum von Interaktionen ein und wird schließlich von der Umwelt in einer Weise aufgegriffen, die der ursprünglichen Absicht zuwiderlaufen kann.“
  6. Verstehen lehren. Je mehr wir wissen, desto weniger verstehen wir. Intellektuelles Verstehen bedeutet, den Text und seinen Kontext, die Teile und das Ganze zusammen zu erfassen. Menschliches Verstehen entsteht von Subjekt zu Subjekt und beinhaltet notwendigerweise Empathie und Identifikation. Dabei gibt es Probleme bei der Weitergabe von Informationen, der Vieldeutigkeit eines Begriffs, die Unkenntnis der Riten und Bräuche anderer Menschen, das Unverständnis für die Werte einer anderen Kultur, das Unverständnis für eine Weltanschauung, die sich von der eigenen unterscheidet. Zugrunde liegt dem das Unverständnis seiner selbst: wer sich selbst nicht versteht, versteht auch andere nicht. Man sieht sich selbst im Zentrum der Welt und betrachtet alles Fremde oder Fernliegende als zweitrangig, unbedeutend oder feindselig.
  7. Erdenbürgerschaft verwirklichen. „Ethik muss sich in den Menschen aus dem Bewusstsein heraus bilden, dass der Mensch gleichzeitig Individuum, Teil einer Gesellschaft und Teil einer Spezies ist. Jeder von uns trägt diese dreifache Realität in sich. Daher muss jede wahrhaft menschliche Entwicklung die gemeinsame Entwicklung individueller Autonomie, gemeinschaftlicher Teilhabe und des Bewusstseins der Zugehörigkeit zur menschlichen Spezies beinhalten.“

Edgar Morin (geb. am 8. Juli 1921) ist ein französischer Philosoph und Soziologe (Näheres s. Wikipedia). Die sieben Punkte hat er 1999 in einem Buch für die UNESCO dargestellt: Les sept savoirs nécessaires à l’éducation du futur, Seuil; Download hier.

Read more

ZUR VERTEIDIGUNG DES RECHTSSTAATS

ZUR VERTEIDIGUNG DES RECHTSSTAATS

Am 19. Februar 2025 haben sechs Bürgerrechtsorganisationen eine gemeinsame Erklärung zur anstehenden Bundestagswahl veröffentlicht: "Gegen die Angriffe auf den demokratischen Rechtsstaat!" Die dort geäußerten Sorgen um die Rechtsstaatlichkeit teile ich ohne Einschränkung: die Infragestellung der Grund-/Menschenrechte, martialische Law-and-Order-Forderungen, exekutiven Ungehorsam (also die Strategie, Gerichtsentscheide schlicht zu ignorieren)

By Hanspeter Rosenlechner