MENSCH UND ERDE – EINE SCHICKSALSGEMEINSCHAFT

MENSCH UND ERDE – EINE SCHICKSALSGEMEINSCHAFT

"AUCH DIE HOFFNUNG KANN MIT DER VERZWEIFLUNG WACHSEN."

DAS VERLORENE PARADIES

Mensch und Erde sind faktisch-empirisch nicht zu trennen. Sie leben nicht in verschiedenen Welten; sie sind Teil der einen, gemeinsamen Welt. Aber irgendwie stimmt das auch nicht. Denn gedanklich ist der Mensch von der Erde getrennt, sonst hätte er gar keinen Begriff davon, dass er als Subjekt allem anderen – den Objekten – gegenübersteht. Er wäre Teil eines nebelhaften Kontinuums, in dem die Grenzen verschwimmen. Er wäre weder seiner selbst bewusst, noch dass es "da draußen" eine Welt gibt, mit der er nicht identisch ist. Dass wir überhaupt einen Begriff von Subjektivität und Objektivität haben beweist, dass es diese Subjekt-Objekt-Trennung gibt und dass sie der Grund unseres Erwachsenenbewusstseins ist.

Kleine Kinder kennen diese Spaltung ja nicht. Sie sind Teil einer magisch-mythisch getränkten Welt, von der sie sich nicht abgrenzen. Nie ist ein Kind ernster als wenn es ganz in ein Spiel versunken ist, was auch Nietzsche deutlich war: "Reife des Mannes: das heißt den Ernst wiedergefunden haben, den man als Kind hatte, beim Spiel." Ein kindliches Bewusstsein ist ein Einheitsbewusstsein. Mit "kindisch" hat das nicht das Geringste zu tun; im Gegenteil. "Kindisch" nennt man das Verhalten eines Erwachsenen, der sich ohne dessen tiefe Ernsthaftigkeit wie ein Kind benimmt. Das ist nicht kindlich, das ist läppisch.

Ein Kind, das einem Märchen lauscht ist nicht mehr ganz "bei sich", es ist "außer sich", in dieser Märchenwelt, wo Zauber und Realität eins sind. Diese magische Welt ist mindestens so real wie die Welt, die das Kind mit Augen sieht, und nicht einmal diese augenfällige Welt ist ganz von Magie gesäubert: Jederzeit kann eine gute Fee, eine Hexe, ein Engel… – real? in der Phantasie? wer könnte das trennen? – auftreten und ins Geschehen eingreifen.

Es ist Teil des Erwachsenwerdens, diesen kostbaren Schatz nach und nach zu verlieren, aus diesem "Paradies" vertrieben zu werden, diese Einheit von Bewusstsein und Welt – vorübergehend, füge ich vorsichtshalber hinzu – zu verlieren. Schon wenn ein Kind anstatt wie bisher von sich in der dritten Person zu sprechen ich zu sich sagt ist nicht mehr so Teil des Wirklichkeitskontinuums wie zuvor. Und mit den Jahren verblasst der Zauberglanz der Kindheit und wird von der profanen Realität verdrängt. Am Ende steht der nüchtern-rationale Erwachsene, der verständnislos über die kindliche "Dummheit" den Kopf schüttelt.

Auch die Menschheit als ganze hat sich aus einer fernen, magisch-mythischen Vergangenheit erst nach und nach zu unserem dualistischen Bewusstsein entwickelt. Auch auf diese Vergangenheit schauen viele Zeitgenossen verächtlich herab und erklären die alten Mythen der Menschheit zu Erfindungen, die sich die Menschen bloß ausgedacht haben weil sie damals noch zu beschränkt waren, um die tatsächlichen Ursachen von Naturereignissen usw. zu verstehen. Nach dieser Ansicht sind Religionen, Mythen, Spiritualität überhaupt "Kinderkrankheiten", die der moderne Mensch zum Glück überwunden hat – auch wenn es noch Spinner gibt, sich weigern, das einzusehen und hartnäckig an Homöopathie, Astrologie, Wünschelruten… glauben. – Das heutige dualistisches Bewusstsein zur "Endstation" zu erklären und es zum Maß aller Dinge zu erheben bezeugt eine blinde Arroganz, die sich darin gefällt, allem gegenüber kritisch zu sein mit Ausnahme der eigenen Kritik. Die modernen Vorstellungen, Denkformen, Maßstäbe… auf die Vergangenheit übertragen heißt "Geschichte mit dem Zeitgeist kontaminieren" (Botho Strauß).

Für den modernen erwachsenen Menschen ist die Welt also – anders als in seiner biographischen und menschheitlichen Frühzeit – in Subjekt und Objekt getrennt. Das heißt aber auch, je mehr der Mensch ein klares Bewusstsein seiner selbst als Individuum entwickelt, desto klarer grenzt er sich auch von einer Umwelt ab. Eine Umwelt kann es überhaupt nur in dem Maße geben, als es eine Inwelt gibt. Je strikter diese Trennung von seiner Umwelt wird, desto weniger spürt der Mensch noch unmittelbar, was gut für sie ist und was schlecht. Er muss sich dieser Frage 1. bewusst werden und 2. Antworten darauf finden.

DIE GEBURTSSTUNDE DER ÖKOLOGIE

Es überraschte mich unlängst, in den Tagebüchern Edgar Morins zu lesen, dass diese Geburtsstunde offenbar bereits in den 60er Jahren in Kalifornien schlug. Er notierte dort im Dezember 1969:

"Die Öko-Bewegung […] wirft radikal das Problem der Probleme auf: nicht nur das des Sozialsystems, sondern auch das des Lebens auf dem Planeten Erde, des Planeten ERDE, des Lebens des Menschen."

Und einige Monate darauf:

RempartsUnderground

Das klingt heute, 50 Jahre später, als wäre es dieser Tage geschrieben.

In Europa etablierten sich die Begriffe Umwelt und Umweltschutz wenig später, in den 70er Jahren. Ich erinnere mich noch, wie sich die Öko-Bewegung in den 80er Jahren im ganzen deutschsprachigen Bereich rasant ausbreitete. Sie wurde zum Auslöser der grünen Bewegung und führte i.d.F. zur Gründung der Der Grünen als Partei. Die Öko-Bewegung war damals von vielerlei Einflüssen geprägt: Aussteigertum, Retro-Romantizismus, von der Hippie-Welle, Hare-krishna-Tat-twam-asi-Spiritualität… – was bei mir Abwehrreaktionen hervorrief, auf die ich heute rückblickend nicht gerade stolz bin. Die Öko-Bewegung wurde in diesen Jahrzehnten als etwas empfunden, dem man sich anschließen konnte, aber nicht musste, als etwas Freiwillig-Zusätzliches über das hinaus, womit man sich sonst im Alltag zu beschäftigen hatte. Es gab das "normale Leben" mit seinen Aufgaben, und wer dann noch Überschuss an Idealismus, Zeit und Energie hatte, für den gab es die Option, sich in der Öko-Bewegung zu engagieren. Eine Verpflichtung gab es höchstens im moralischen Sinn – für diejenigen, die sie verspürten. Die anderen gingen eben weiter wie bisher ihren Dingen nach, ohne sich um diese Aktivisten zu kümmern.

Der Grund für diese Optionalität, sich für die Umwelt zu engagieren liegt in der oben beschriebenen Subjekt-Objekt-Spaltung. Hätte sich der Mensch nie von "Mutter Natur" abgenabelt, wäre er nie unabhängig geworden. Und Unabhängigkeit bedeutet eben auch, dass nichts einen zwingt, sich über die Natur den Kopf zu zerbrechen. Sie war schon immer für den Menschen da, sie hat ihm schon immer alles Nötige für sein Leben zur Verfügung gestellt, und sie hat sich nie irgendwie beschwert. Wozu also sich Gedanken machen? Wer's trotzdem tut – bitte, aber das ist sein Ding und hat nichts mit mir zu tun. Jeder soll nach seiner Fasson selig werden.

Doch in den letzten Jahrzehnten mehrten sich die Alarmsignale, dass diese Rechnung doch nicht so einfach aufgeht wie geglaubt. Die Natur beschwert sich vielleicht nicht, aber sie reagiert, und zwar nach unerbittlichen physikalischen, chemischen und biologischen Gesetzen. Das war schon immer so, aber inzwischen ist deutlich, dass diese Auswirkungen der Naturausbeutung und -zerstörung globale Ausmaße angenommen haben, ja: zum epochalen globalen Faktor geworden sind. Der Mensch ist im Anthropozän angekommen.

WILLKOMMEN IM ANTHROPOZÄN

"La Terre dépend de l‘homme qui dépend de la Terre", „Die Erde ist auf den Menschen angewiesen, der auf die Erde angewiesen ist“ (Edgar Morin). Die Menschheit ist in einer neuen geochronologischen Epoche angelangt: im Anthropozän – jenem „Zeitalter, in dem der Mensch zu einem der wichtigsten Einflussfaktoren auf die biologischen, geologischen und atmosphärischen Prozesse auf der Erde geworden ist“ (Wikipedia). Der Mensch hat es in den letzten zwei Jahrhunderten geschafft, die Erde in einem früher nie dagewesenen Ausmaß zu beeinflussen – oder nennen wir es beim Namen: zu zerstören; in einem Ausmaß, dass er sich damit sein eigenes Grab gräbt. Er hat seine Bedürfnisse an Energie, Gütern, Rohstoffen, Wasser, Flächen und Nahrung auf eine Weise befriedigt, die katastrophale Folgen für die Natur hatte:

Das konnte dem Menschen wiegessagt lange egal sein. Bis vor wenigen Jahren schien es eine elitäre Frage für ein Bildungsbürgertum mit Idealismus-Überschuss zu sein, ob man diese Auswirkungen schulterzuckend ignorieren oder sich ökologisch engagieren sollte. Diese Zeiten sind ein für allemal vorbei. Die Folgen dieser Umweltzerstörung holen uns ein. Die Erde bietet immer weniger die Lebensbedingungen, die für seine Fortexistenz unentbehrlich sind. Diese ultimative Zerstörung der Natur ist der ultimative „Erfolg“ des Menschen, doch „die besiegte Natur bedeutet die Selbstzerstörung des Menschen“ (Morin).

„Die Erde ist auf den Menschen angewiesen, der auf die Erde angewiesen ist“ – in dieser Kurzformel hat Edgar Morin den systemischen Zusammenhang auf den Punkt gebracht. Moral und Ethik auf oder ab, es läuft auf die simple Tatsache hinaus: Was du der Erde antust, tust du dir selbst an.

Lange schienen die menschlichen Aktivitäten keinen so großen Einfluss auf die Natur zu haben, als dass man ihn nicht auch ignorieren hätte können. Doch spätestens im 21. Jahrhundert erkennen wir, dass wir den Punkt erreicht haben, wo uns der Zusammenhang von Mensch und Erde in Form der Umweltzerstörung einholt. Der Bumerang, den wir nach vorn geschleudert und aus den Augen verloren hatten knallt uns von hinten auf den Kopf.

DIE TRENNUNG VON MENSCH UND NATUR HAT NIE WIRKLICH EXISTIERT

Nun dämmert es inzwischen den Menschen zu Abermillionen: Die Trennung von Mensch und Natur hat nie wirklich existiert. Wir waren immer eine Einheit; wir hatten das nur kurz aus den Augen verloren. Und innerhalb dieser erdgeschichtlich bemessen nur einen Wimpernschlag dauernden Periode von vielleicht 200 Jahren hat der Mensch es geschafft, sich mit dieser Blindheit sein eigenes Grab zu schaufeln. Das Schicksal des Menschen ist mit dem der Erde untrennbar verknüpft. Ihr Heil ist unser Heil, ihr Untergang der unsere.

Angesichts dieser Perspektive haben sich die Mehrheiten in der Bevölkerung inzwischen umgekehrt: Es ist eine Minderheit, die noch aus zynischem Opportunismus die ökologischen Existenzbedrohungen der Menschheit leugnet oder gar nach dem Motto "Nach uns die Sintflut!" weiter betreibt, während einer Mehrheit der Menschen mit Schrecken klar ist, dass die Zerstörung der Erde unser eigenes Ende bedeutet.

Die Begriffe Umwelt und Umweltschutz hatten vor einem halben Jahrhundert einen Paradigmenwechsel eingeläutet, dessen ganze Tragweite nun deutlich wird. Eine "Umwelt" im Sine einer Welt, der der Mensch isoliert gegenübersteht hat es nie gegeben. Der Mensch war schon immer Teil der Natur. Und die erschütternde Konsequenz daraus: Es ging nie um Umweltzerstörung oder Umweltschutz, es ging schon immer um Selbstzerstörung oder Selbstschutz. Entweder der Mensch zerstört die Natur, die ihn selbst zerstört, oder er ändert grundlegend seinen Kurs. Aus welchen Motiven ist der Natur vollkommen egal. Wiegesagt, sie agiert und reagiert, wie ein Ökosystem eben reagiert, nach physikalischen, chemischen und biologischen Gesetzen. Ob es in 100 Jahren noch eine Menschheit geben wird und wie sie dann existiert, ist dem Planeten nicht einmal egal.

Das bedeutet, eine fundamentaler Kurswechsel ist heute nicht mehr eine Option, sondern mit derselben physikalischen, chemischen und biologischen Gesetzmäßigkeit wie sie dem Ökosystem zu eigen ist unausweichlich. Unsere einzige "Wahl" lässt sich in der systemischen Formel zusammenfassen: Menschheit vernichtet Natur vernichtet Menschheit; oder jedoch: Menschheit erhält Natur erhält Menschheit.

WO ABER GEFAHR IST…

„Heute kann der Planet weder seine tödlichen Probleme in den Griff bekommen, noch seine vitalen Probleme meistern.
L'an I de l'ére écologiqueLa Terre dépend de l‘homme qui dépend de la Terre

Man darf kein Optimist sein, um in Anbetracht dieser Situation noch Hoffnungsschimmer zu sehen – den Schulstreiks für das Klima etwa, die ein, ein einziges Mädchen aus Stockholm initiiert hat und die sich innerhalb weniger Monate über ganz Europa ausgebreitet haben, getragen von der Generation, die sich zu Recht fragt: Wozu heute in die Schule gehen, wenn wir morgen keine Zukunft haben? Oder die unzähligen ehrenamtlichen Initiativen und Freiwilligen-Gruppen, die das gemeinsame Ziel haben, den ökologischen Selbstmord der Menschheit noch zu verhindern. Und… und… und… Die Hebelkraft, die all diese Initiativen zusammen haben ist schwer einzuschätzen. Und ob sie ausreicht, um das Ruder noch herumzureißen noch weniger.

Doch je größer der Leidensdruck, desto größer die Veränderungsbereitschaft und damit die Hoffnung, dass wir vielleicht noch die Kurve kriegen. Das ist das Paradox der Hoffnung: sie wächst mit der Verzweiflung.

„Je unfähiger wir also sind, unsere lebenswichtigen Probleme zu bewältigen, je mehr wir uns einer Katastrophe nähern, desto mehr nähern wir uns einer möglichen Metamorphose. Auch die Hoffnung kann mit der Verzweiflung wachsen. Der Dichter Hölderlin sagte: ‚Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch.‘
der Weg der Hoffnung ist

PS: Damit das nicht nur beim Appell bleibt, weise ich bzgl. Umsetzung ausdrücklich auf mein Manifest hin (incl. praktischer Gebrauchsanweisung!).

PPS: Vielen Dank fürs Weiterverbreiten!

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ZUR VERTEIDIGUNG DES RECHTSSTAATS

ZUR VERTEIDIGUNG DES RECHTSSTAATS

Am 19. Februar 2025 haben sechs Bürgerrechtsorganisationen eine gemeinsame Erklärung zur anstehenden Bundestagswahl veröffentlicht: "Gegen die Angriffe auf den demokratischen Rechtsstaat!" Die dort geäußerten Sorgen um die Rechtsstaatlichkeit teile ich ohne Einschränkung: die Infragestellung der Grund-/Menschenrechte, martialische Law-and-Order-Forderungen, exekutiven Ungehorsam (also die Strategie, Gerichtsentscheide schlicht zu ignorieren)

By Hanspeter Rosenlechner