ERNÄHRUNG: VON EGO ZU ÖKO
EIN EVOLUTIONSSCHRITT IM DENKEN
Wie die ZEIT unlängst berichtete, haben 37 Forscherinnen und Forscher aus 16 Ländern in ihrer StudieFood in the Anthropocene: the EAT–Lancet Commission on healthy diets from sustainable food systems eineplanetary health diet umrissen:
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Das Ergebnis in einem Diagramm (nach ZEIT online; s.o.):

"Ja und?" mag sich mancher denken. "Wissenschaftlich mehr oder weniger fundierte Ratschläge für die Ernährung gibt es tatsächlich zuhauf. Was ist jetzt daran also Besonderes?"
Der Ansatz, eine Ernährungsweise zu suchen, die nicht nur für den Menschen gut ist, sondern für den ganzen Planeten: dieser ganzheitliche Ansatz ist geradezu revolutionär.
Beispiel Fleisch: Wenn bislang vor falscher Ernährung gewarnt wurde, dann meist weil diese zur Entstehung von Krankheiten wie Herzinfarkten und Diabetes beiträgt. Von der enorm gesundheitsschädlichen Wirkung von Zucker hat die US-Zuckerindustrie jahrzehntelang erfolgreich abgelenkt: Von ihr beauftragte Forscher gaben in ihren Studien stattdessen den Fetten die Schuld an tödlichen Herzkrankheiten und manipulierten damit die Ernährungsdebatte maßgeblich. Ansonsten aber war Fleisch bei den Ernährungstrends kaum Thema. Der Fleischkonsum wurde stets isoliert betrachtet: ist er gut oder schlecht für den Menschen?
Die Lancet-Studie fragt aber nun außerdem: Ist Fleischkonsum auch gut für unseren Planeten? Ist er es auch dann, wenn die gesamte Weltbevölkerung so viel Fleisch isst wie die Amerikaner und Europäer? Wie viel Fleischkonsum kann in einem globalen, vernetzten System mit begrenzten Ressourcen noch als nachhaltig bezeichnet werden? Wenn die Fragen so stellt, wird schnell klar, dass die Viehzucht zu den größten Umweltsündern gehört, allein was den Ausstoß an Treibhausgasen betrifft:
"Gemeinsam sind die fünf größten Fleisch- und Molkereikonzerne bereits heute für mehr Treibhausgas-Emissionen pro Jahr verantwortlich als die Ölkonzerne Exxon-Mobil, Shell oder BP." Wächst die Branche im bisherigen Tempo weiter, werde der gesamte Viehbestand bis 2050 etwa 80 Prozent des Treibhausgasbudgets der Erde verbrauchen, so die Schätzung. (SZ online)
Betrachtet man also die Ernährung nur aus der Gesundheits-Perspektive anstatt als Teil des globalen vernetzten Ökosystems zu sehen, so ist das Reduktionismus. Die gesamte Bandbreite der Auswirkungen der Ernährung wird auf einen kleinen Ausschnitt eingeschränkt. "Richtige" oder "falsche" Ernährung wird nicht mehr nur gesundheitlich definiert; falsch kann eine Ernährung auch sein, die unseren Planeten massiv schädigt.
Seine Gesundheit fördern zu wollen, ohne Rücksicht auf deren Stellung im globalen Gesamtsystem, ist nichts anderes als verfeinerter Egoismus. Man ist ja um das eigene Wohlergehen besorgt, um die eigene Gesundheit, um die eigene Lebenserwartung. Der Rest der Welt spielt in dieser Sorge keine Rolle – weder die vielfältigen ökologischen Auswirkungen noch das unvermeidliche Tierleid bei der Massentierhaltung, noch die sozialen "Nebenwirkungen" (Stichwort Bauernsterben).
Darum ist es ein Paradigmenwechsel, dass auch die ökologischen Auswirkungen der Ernährung nun gleichgewichtig in die Ernährungsempfehlungen mit einbezogen werden. Man kann mit Otto Scharmer sagen, dies ist eine Achsenverschiebung von ego zu öko, von der isolierten, ichzentrierten Sichtweise zur systemisch-ganzheitlichen.
Das wichtigste Ergebnis von FGB ist das Postulat einer gesellschaftlichen Evolution: Wenn sich die Menschen individuell weiterentwickeln, dann tut das zwangsläufig auch die Gesellschaft. Und sie tut das nicht irgendwie, sondern entsprechend ihrer "DNS". Diese leitet die Entwicklung der Menschen als Gesellschaftswesen in drei Richtungen: im geistigen Leben zur Freiheit, im staatlich-rechtlichen Leben in Richtung Gleichheit, und im wirtschaftlichen Leben in Richtung Brüderlichkeit (gelebter Solidarität). "Wirtschaft", das sind alle Vorgänge und Einrichtungen, die der Bedürfnisbefriedigung dienen. Das grundlegendste aller Bedürfnisse ist Ernährung. Wenn die Lancet-Studie nun also über den Tellerrand der "gesunden" Ernährung hinausschaut und sich fragt: Was ist auch für unseren Planeten gesund?, dann ist das ein Meilenstein in der gesellschaftlichen Evolution. Er markiert die Erweiterung der Ego-Perspektive zur Öko-Perspektive.
Der Bewusstseinswandel geht hier wie immer dem Gesellschaftswandel voraus, die Bewusstseins-Evolution der Gesellschafts-Evolution vom Egoismus zur Brüderlichkeit.
Um es nochmals zu betonen: Was die Wissenschaftlicher der Lancet-Studie da umreißen, fällt nicht in die Kategorie "Wäre schön, wenn". Wenn die Wissenschaftler schreiben: Um nachhaltig die globale Ernährung und das ökologische Gleichgewicht der Erde zu gewährleisten, müssen die Menschen sich so und so ernähren, dann ist das kein Konjunktiv, sondern ein Imperativ! Zu diesem Faktum existiert keine Alternative!
Daraus ergibt sich die entscheidende, bis hierhin offene Frage: Wie setzen wir also nun diese Einsicht um, und zwar schnell genug und wirkungsvoll genug?
Wenn wir weiter machen wie bisher, gibt es zwei Optionen:
a) Jeder Bürger ist aufgerufen, aus Einsicht seine Ernährung entsprechend umzustellen.
b) Die Politiker sollen das für uns entscheiden; dafür sind sie schließlich gewählt. Konkret: Sie müssen diese nachhaltige Ernährungsweise erzwingen.
Beide Optionen haben einen Haken:
a) Dürfen wir tatsächlich diese Entscheidung in Anbetracht unserer extrem kritischen Klimasituation der Vernunft des Einzelnen überlassen? Oder noch weiter zugespitzt: Können wir es uns leisten, die Zukunft der Menschheit und unseres Planeten der Mündigkeit jedes Bürgers auszuliefern? Bzw. dem Risiko seiner nicht unwahrscheinlichen Unmündigkeit, und damit dem globalen Verderben?
b) Führt so ein Zwang durch die Regierung nicht in die Öko-Diktatur? Und rebellieren dann die Bürger nicht erst recht, und außerdem teilweise zu Recht, nämlich gegen die diktatorischen Maßnahmen des Staates? Aber wäre es überhaupt realistisch, angesichts des herrschenden politischen Opportunismus so etwas von einer Regierung zu erwarten?
Ich meine, es gibt einen dritten Weg, der direkt am Überlebenswillen der Menschen anknüpft. Man muss die Frage nur allgemein genug stellen. Nicht "Seid ihr bereit, auf 90% eures bisherigen Fleischkonsums zu verzichten?" Oder "Möchtet ihr freiwillig euer Auto halb so viel nutzen wie bisher?" Oder "Ist es O.K. für euch, wenn wir Kerosin so besteuern wie jeden anderen Treibstoff, womit eure Flüge bis zu 60% teurer werden?" Sondern so: "Wollt ihr, dass ihr und eure Kinder und Kindeskinder noch auf diesem Planeten leben können?"
Hans Jonas nennt das „den ersten Imperativ: dass eine Menschheit sei“. Über diesen ersten Imperativ müssen die Bürger entscheiden, und zwar basisdemokratisch. Wenngleich das gesellschaftliche Interesse an den meisten der wirklichen Probleme traurig gering ist und sich die Leute tatsächlich mehr für „Bauer sucht Blöde“ oder „Flüchtlinge, Fußball, Sommerzeit“ u.ä. interessieren: für den Grundsatzbeschluss Pro Menschheit müssten doch alle, die noch halbwegs bei Verstand sind zu einem Konsens imstande sein. Zumindest sollte sich für einen solchen Grundsatzbeschluss eine Zweidrittelmehrheit finden lassen.
Diese Grundsatzentscheidung darf weder vom Parlament noch von der Regierung mehr im Nachhinein revidiert werden. Alle politischen Folgebeschlüsse dürfen diesem „ersten Imperativ“ nicht widersprechen. Er hat absolute Priorität. Auf diesem gesellschaftlichen Basiskonsens kann alles Weitere aufbauen.
Ein solche Grundsatzbeschluss würde einerseits den Einzelnen die Entscheidung über Dinge abnehmen, die sie nicht genug durchschauen und die sie deshalb nicht kümmern, denn diese Entscheidungen können und sollen Politiker treffen und umsetzen. Andererseits würde dieser Grundsatzbeschluss den Politikern die oft schwierige Entscheidung abnehmen, wie man alle Interessen – die der Wähler und die der Autokonzerne etwa – unter einen Hut bringen soll, was dann zu den bekannten halbherzigen symptomatischen „Lösungen“ führt, die effektiv gar nichts lösen. Für alles, was zwischen diesen Polen liegt gilt die Faustregel: Je mehr man für eine Entscheidung wissen muss, desto notwendiger ist eine entsprechende Vorbereitung. Wie in Irland etwa.
Dort werden für die sog. Bürgerversammlungen 99 Teilnehmer zu bestimmten Diskussionsthemen als repräsentativer Bevölkerungsquerschnitt ausgelost, um über Probleme wie die Legalisierung der Abtreibung, Klimawandel, eine Wahlreform, die Überalterung Irlands… zu beraten. Die Diskussion findet mit allen nötigen Experten statt: Wissenschaftler, Ethiker, Philosophen, Soziologen, Juristen… (Politiker und Lobbyisten haben dabei nichts verloren.) Dieser intensive Prozess gewährleistet offenen Informations- und Gedankenaustausch. Das Ganze dauert 1 Jahr, pro Monat müssen die Teilnehmer ein Wochenende investieren. Zum Schluss schicken sie in Irland ihre Empfehlung ans Parlament, aber ich halte es nicht für sinnvoll, die Bürger erst beraten zu lassen und dann nicht an ihren wohl abgewogenen Ratschluss gebunden zu sein. Wenn, dann muss sich m.E. die Regierung verpflichten, das Ergebnis umzusetzen, egal wie es ausfällt.Dieses Modell wäre für alle fundamentalen ökosozialen Themen zielführend und dringend notwendig. Ich meine, dass eine dahingehende Initiative bei den Bürgern auf größte, parteienübergreifende (!) Zustimmung stoßen würde. (In Deutschland sind dzt. bundesweite Volksabstimmungen noch nicht möglich, also wäre das das Erste, was die Bürgern ändern müssten.) Nach und nach würden die Bürger damit wieder ihre Souveränität übernehmen, aber auch ihre politische Verantwortung, die sie jetzt ja weitestgehend delegiert haben. Und der intensive Beratungsprozess würde zu wohlinformierten, kompetenten Entscheidungen führen, bei denen man nicht eine „Herrschaft der Inkompetenz“ fürchten müsste wie es bei gewöhnlichen Volksabstimmungen ohne Lernprozess zwangsläufig der Fall ist (Beispiel: Vollgeld-Initiative in der Schweiz). Diese Entwicklung würde auch in all den fundamentalen ökosozialen Problembereichen, über die wir uns seit Jahren die Haare raufen und die die Politik aus vielerlei Sachzwängen nicht angeht den Politikern klare Zielvorgaben und Leitplanken bei den Umsetzungsstrategien setzen. Die Bürger könnten sich aus ihrer Ohnmacht endlich befreien, und dem Populismus wäre das Wasser an der Quelle abgegraben.Eine der Konsequenzen des Grundsatzbeschlusses Pro Menschheit beträfe i.d.F. auch die Ernährung mit allem, was dazugehört. Wie etwa die verzerrten Handelspreise für Fleisch. Dass nach wie vor aus den Preisen die externen Kosten der industriellen Landwirtschaft ausgeblendet werden, ist keine sachliche, sondern eine rein politische Entscheidung wider jede Vernunft. Würde ein Stück Schweinefleisch incl. aller
ökologischen, sozialen und gesundheitlichen Kostendas Dreifache kosten, wäre das schon für sich ein Regulativ für den Fleischkonsum. Wenn der Regierung durch die Verpflichtung auf den Ersten Imperativ Leitplanken für ihre Politik gesetzt wären, dürfte sie die externen Kosten nicht mehr ignorieren – wie vieles andere, vor dem sie bislang aus schwierigen Sachzwängen heraus die Augen verschließt (Stichwort Abgasskandal). Damit würde eine Lawine von Veränderungen in Gang gesetzt, die sich auch in die Richtung des von der Lancet-Studie geforderten Ernährungsmodells bewegen würden. Sie würden aber das ganze System verändern, in dem die Ernährung sich nur als ein Rädchen mitdreht. Denn wenn das System das Problem ist, kann auch die Lösung nur in einer Systemveränderung liegen.