FAKE NEWS, ALTERNATIVE FAKTEN…: NICHTS IST, WIE ES SCHEINT – NICHT EINMAL DIE „WIRKLICHKEIT“

Als ich 2015 FGB zu schreiben begann, meinte ich eine sichere Grundlage zu haben, um alles darauf aufzubauen: die Fakten. Hier die objektive Wirklichkeit, dort Irrtum, Fiktion, Lüge…
DANN KAM TRUMP
Und mit ihm (und seiner Beraterin Kellyanne Conway) die „alternativen Fakten”. Ich hatte mich lange geweigert, Trump in FGB aufzunehmen. Ich hatte die USA aus vielerlei Gründen für das Projekt FGB komplett abgeschrieben. Aber mit den „alternativen Fakten” sind Fakten (!) geschaffen, die ich nicht mehr ignorieren kann. Seit dem berühmt-berüchtigten Interview, in dem Conway diesen Begriff geprägt hat ist nichts mehr wie vorher. Es war ein Paradigmenwechsel:
„In einem Interview mit Kellyanne Conway in der NBC-Sendung Meet the Press kam Moderator Chuck Todd auf Äußerungen des Pressesprechers Sean Spicer zu sprechen, der am 21. Januar 2017 behauptet hatte, bei Donald Trumps Amtseinführung seien deutlich mehr Menschen anwesend gewesen als bei der seines Vorgängers Barack Obama. Diese Behauptung wurde aber weder von Luftaufnahmen beider Ereignisse noch von Zählungen im Personennahverkehr von Washington, D.C. bestätigt. Nachdem Todd Conway mehrmals vergeblich aufgefordert hatte, zu erklären, warum Spicer ‚widerlegbar falsche Behauptungen’ vortrage, kritisierte Conway zunächst die angeblich einseitige Darstellung in den Medien. Zuletzt drängte Todd sie erneut, zu erklären, warum der Präsident den Pressesprecher des Weißen Hauses gebeten hatte, bei seinem ersten Auftritt am Podium eine Unwahrheit zu sagen (‚to utter a falsehood’). Damit habe er die Glaubwürdigkeit der ganzen Presseabteilung des Weißen Hauses untergraben. Conway verneinte und sagte: ‚Sean Spicer, unser Pressesprecher, hat dazu alternative Fakten dargestellt.’ Todd unterbrach sie daraufhin und sagte, alternative Fakten seien unwahre Aussagen. Conway äußerte, es gebe kein Verfahren, um Menschenmengen sicher zu quantifizieren, und beschwerte sich im Verlauf des weiteren Interviews über die Absicht Todds, sie ebenso wie die neue Regierung lächerlich erscheinen zu lassen. Er wirke als Kommentator, statt zu informieren.” (zit.n. Wikipedia)
Der Clou bei der Sache ist: Es ist vollkommen bedeutungslos, dass Spicer und Conway diese Unwahrheit verbreitet haben! Seit dem Tag von Trumps Amtsantritt sind seine Anhänger unerschütterlich überzeugt: Was er zum Faktum erklärt, ist die Realität; basta. Wer auch immer etwas anderes behauptet, ist abgeschrieben.
„Alternative Fakten” ist also zwar zum „Unwort des Jahrs 2017” gekürt worden, aber das tangiert die Lebenswirklichkeit vieler Bürger, auch in Europa, nicht im mindesten: „Was scheren mich eure sogenannten ‚Fakten’?! Ich weiß, was ich weiß!” Was Andersdenkende an „Tatsachenbeweisen” auch vorbringen mögen: es wird als „fake news” beiseitegewischt. In diesem Sinn ist Trumps Behauptung völlig zutreffend: „Ich könnte mitten auf der Fifth Avenue stehen und jemanden erschießen, und ich würde keine Wähler verlieren.”
Der eigentliche Punkt ist jedoch: Seitdem es das Wort „alternative Fakten”, existieren keine Fakten mehr. Denn entweder sind Tatsachen Tatsachen, oder die gemeinsame Gesprächsgrundlage löst sich auf. Die Gesellschaft besteht dann nur noch aus Gruppen von Gleichgesinnten, die einander ihre vorgefassten Meinungen bestätigen. Jeder von ihnen hat sich seine eigene Wirklichkeit aus Versatzstücken zusamengestückelt, die seinen Vorurteilen entsprechen. Jeder fühlt sich bestätigt, wenn er in den „sozialen” Medien auf Gesinnungsgenossen trifft, deren Weltanschauungs-Flickenteppich dem seinen entspricht.
Die Schwärmer
Heute lässt sich die Aufzählung fortsetzen: Man hält den Klimawandel für eine Bedrohung. Oder man leugnet ihn. Man ist wirtschaftsliberal oder Kapitalismuskritiker. Politisch links oder rechts. Multikulti oder Leitkultur. Islamophil oder -phob. „Refugees welcome!“ oder „Grenzen dicht!“ „Und so weiter und so weiter, diesen ganzen geistigen Jahrmarkt entlang, der heute für jedes seelische Bedürfnis seine Buden offen hält.”
So ist mir die Naivität, mit der ich mich 2015 auf Fakten gestützt habe weitgehend abhanden gekommen. Wem heute irgendwelche Tatsachen nicht passen, der erklärt sie kurzerhand zu „fake news” und weist stattdessen „alternative Fakten” vor – so einfach ist das. Diese Ideologie ist ein Prokrustesbett: Wie der Wegelagerer Prokrustes in der antiken Sage seine Gefangen mit Gewalt auf die Länge seines Bettes streckte bzw. zu lange Gliedmaßen abhieb, so verfahren voreingenommene Menschen mit der Gesamtwirklichkeit: Was nicht passt, wird passend gemacht. Es wird entweder mit Gewalt auf die passende Dimension gedehnt („alternative Fakten”) oder um alles beschnitten, was nicht in den Raster passt („fake news”).
DIE REALITÄT IST NICHT, SIE WIRD
Andererseits, bei allen Vorbehalten gegenüber den „alternativen Wirklichkeiten” macht die Diskussion eines deutlich: Die Realität ist tatsächlich nicht einfach „fertig gegeben”. Sie muss ständig „geschaffen“ werden. Es ist nicht egal, wo ich in einem bestimmten Moment hinsehe. Schon jeder Blick ist eine Auswahl aus den unzähligen möglichen Perspektiven, der zugleich alle anderen Blick-Möglichkeiten ausschließt. Und was man dann „sieht“, hängt von vielen Faktoren ab. Ein Astronom „sieht“ nicht den selben Sternenhimmel wie ein Dichter. Ein Architekt „sieht“ nicht die selbe Stadt wie ein Taxifahrer. Ein Botaniker „sieht“ nicht die selbe Blumenwiese wie ein anderer Spaziergänger. Der eine verfügt für die selben Sinnesdaten über fünf Begriffe, der andere über fünfzig. Das sind noch einfache Beispiele. Bei komplexeren Themen geht es nicht nur um Begriffs-, sondern um Bedeutungszuschreibungen. Was bedeutet es, wenn in den Nachrichten informiert wird, dass eine Supermarktkette eine Filiale in X baut? Für den Bürgermeister heißt das: mehr Einnahmen aus Körperschaftssteuer, für eine Immobilienmaklerin: steigende Immobilienpreise, für einen Arbeitsuchenden: Arbeitsplätze, für einen Stadtplaner: ein höheres Verkehrsaufkommen, für eine Ladenbesitzerin: eine existenzbedrohende Konkurrenz, für einen Alleinerziehenden: eine günstige Einkaufsmöglichkeit… „One man's trash is another man's treasure.“
Im Grund genommen haben wir es ständig mit Situationen zu tun, wo das Urteil mehr oder weniger auf Indizien basiert, deren Auswahl, Beleuchtung, Gewichtung… alles andere als eindeutig ist. Es ist von der (be-)urteilenden Person überhaupt nicht zu trennen. Objektivität und Subjektivität verschwimmen dabei ineinander. Die Wirklichkeit ist nicht, die Wirklichkeit wird dauernd von uns geschaffen. Angesichts des Wirklichkeitszerfalls das verstaubte Banner der Aufklärung aus dem Dachboden zu holen im Glauben, Kant & Co. seien nun das Allheilmittel ist unaufgeklärte Naivität. Ohne uns dessen bewusst zu sein, sind wir in jedem Augenblick in der Situation eines Kommissars, der seinen Fall aus lauter Puzzleteilen zusammensetzt und bei jedem entscheidet, ob es ein Indiz für den Fall ist, und wenn ja, wie er es ins Gesamtbild einzuordnen hat, wie es zu gewichten ist etc. etc.
Es gibt kein Rezept, keine „objektiven“ Kriterien, die uns ad hoc bestimmen lassen, was Fakt ist und was nicht. Es gibt nur einen mehr oder weniger höheren Grad von Aufmerksamkeit, von Bewusstheit. Eine Aufmerksamkeit, die nicht nur nur das Ergebnis – die vermeintliche „objektive“ Wirklichkeit – registriert, sondern sich davor ihres eigenen Anteils an der Wirklichkeitskonstruktion bewusst wird So gesehen, stellen sich der naive Glaube an eine „objektive“, fertig gegebene Wirklichkeit, vorschnelle Urteile, Voreingenommenheit, die Präferenz für Meinungs-konforme Informationen gegenüber abweichenden (confirmation bias) usw. als Phänomene eines weniger wachen Bewusstseins dar. Und umgekehrt zeichnet sich darin auch der Lösungsansatz ab: Sich allen Ereignissen, Entwicklungen, Beobachtungen… sine ira et studio auszusetzen, ohne sich von bisherigen Überzeugungen, negativen oder positiven Emotionen etc. in eine bestimmte Richtung lenken zu lassen; sich nicht vorschnell in seiner Beurteilung festzulegen; die Bereitschaft, ein einmal gefasstes Urteil jederzeit wieder zu revidieren, wenn neue Fakten dies erforderlich machen; den Wahrheitsgehalt und die Relevanz von Informationen nicht nach Maßgabe ihrer Konformität mit der eigenen Meinung zu gewichten… – : das sind Elemente einer Urteilsbildung auf der Höhe unserer Bewusstseinsentwicklung.