DIE FLAMMENSCHRIFT AN DER WAND

DIE FLAMMENSCHRIFT AN DER WAND
“The more we ignore what is attempting to emerge in society, the more emergencies we will get.” Otto Scharmer

Die Welt ist ein Irrenhaus. Man muss schon eine stabilere Konstitution als ich haben, um angesichts all dieser gleichzeitigen und einander verstärkender Krisen nicht zeitweilig einzuklappen. Politik, Kultur, Wirtschaft, Klima / Ökosysteme – sie alle sind wie in einem Fieber:

  1. STAAT / POLITIK:
  • Der Rechtsstaat wird in seinem Fundament, der Gewaltenteilung unterminiert oder abgerissen:
  • Die Unabhängigkeit der Justiz wird ausgehöhlt: Die Politik beeinflusst oder unterdrückt Gerichtsverfahren, wodurch (korrupte? man wird es so nie erfahren) Politiker Ermittlungen verhindern bzw. steuern.
  • Die Justiz wird vom (parteipolitisch besetzten) Justizministerium (parteipolitisch) gelenkt;
  • Richterposten werden von Parteien nach parteipolitischem Machtkalkül besetzt,
  • nach dem Motto, "dass das Recht der Politik zu folgen hat und nicht die Politik dem Recht" stellt sich die Politik über das Recht,
  • politisierte Richter sprechen keine neutralen Urteile; sie folgen bei der Rechtsprechung ihrer (partei)politischen Agenda und sprechen Unrecht;
  • es werden nach ideologischem und machttaktischem Kalkül Gesetze beschlossen und Verordnungen erlassen, die im Widerspruch zu geltendem Recht, zur Verfassung, zum Europarecht, wo nicht gar zum Völkerrecht stehen (sofern Menschenrechte und Völkerrecht überhaupt je anerkannt wurden).
  • Säuberungsaktionen in Institutionen der Strafverfolgungsbehörden (Mitarbeiter entlassen und durch linientreue ersetzt), um sich den Rücken freizuhalten.
  • Die bislang (mehr oder weniger) unabhängige staatliche Verwaltung wird ausgeweidet, parteitaktisch besetzt bzw. aufgelöst,
  • Postenschacher, Parteibuch-, Günstlings- und Vetternwirtschaft, Filz und Korruption werden immer schamloser praktiziert, d.h. eklatant ungeeignete Personen werden für verantwortungsvolle Posten ausgewählt, die bedenkenlos die Willkür der Regierung umsetzen;
  • staatliche Gelder werden nicht nach objektiv-sachlichen Kriterien verteilt, sondern nach subjektiv-machttaktischem Gutdünken zugeteilt / gestrichen / umgelenkt (vgl.u.),
  • Wirtschaftlicher Protektionismus: Steuererleichterungen der heimischen Unternehmer und "Bestrafung" ausländischer Konkurrenz durch Einfuhrabgaben;
  • Umgestaltung der Demokratien zu managerial market-states, die wie Unternehmen geführt werden (d.h. ohne demokratische Legitimierung mit autoritären Top-down-Entscheidungen)
  • die Politik ist so mit der GeldMacht verfilzt, dass sie kaum etwas gegen die große Steuerhinterziehung und Geldwäsche unternimmt, nach dem Motto: die Kleinen hängt man, die Großen lässt man laufen;
  • Politiker und Parteien zögern nicht, ihre Ziele nötigenfalls mit der Unterstützung demokratiefeindlicher rechtsextremer Parteien zu erreichen – Machiavellismus in Reinform;
  • Politiker gerieren sich als Sprachrohre der eigenen Nation, als Verkörperung (vorgeblicher) Volksüberzeugungen, eines (just damit erst provozierten) Volksempfindens, (vorgeblicher) Volksinteressen und eines (ebenfalls erst performativ provozierten) Volkswillens;
  • Nationalismus: der Nationalstolz wird geschürt, im Vergleich werden andere Nationen abgewertet; die (vorgeblichen) Eigeninteressen der eigenen Nation werden über transnationale Interessen gestellt; transnationale Vereinbarungen und Projekte werden mit Verweis auf die nationalen Eigeninteressen aufgekündigt;
  • Frauenrechte werden um ein halbes Jahrhundert zurückgeschraubt;
  • das gesamte Familienbild der 50er Jahre wird wieder als Ideal aufs Podest gehoben und gewaltsam forciert:
  • die Politik manipuliert das Bildungswesen nach parteipolitischen Gesichtspunkten, indem es seine Prinzipien, seine inhaltliche Ausrichtung und die Postenbesetzungen steuert;
  • die Politik behindert und unterdrückt jede freie Kultur,
  • Regierungen schränken den Souverän (!), die Zivilgesellschaft ein, wenn sie sich gegen sie auflehnt; sie behindern zivilgesellschaftliche Proteste mit rechtlichen Schikanen und unterdrücken sie mit Gewalt;
  • Sprachliche, kulturelle, sexuelle… Minderheiten werden systematisch diskriminiert oder sogar gewaltsam unterdrückt;
  • Regierungen stellen die Unabhängigkeit anderer Staaten in Frage und walzen sie durch Kriege nieder.

2. KULTUR

  • Quoten-Medien verzerren die Meinungsbildung der Gesellschaft mit Fake News, tendenziöser und manipulativer Berichterstattung. Sie verzerren auch den ökonomischen Wettbewerb zwischen den Medien, da sie mit ihrer bewussten Unterkomplexität das größtmögliche Publikum anziehen und dieses konsequent zu weiterem unterkomplexem Denken anhalten (vulgo: verblöden). Sie zerstören auch das gesellschaftliche Klima, indem sie – wieder wegen ihrer Quote – gezielt emotionalisieren, polarisieren und hetzen. Sie werden von der Politik vereinnahmt und zu Regierungsmedien verstümmelt (bzw. sie verstümmeln sich aus Opportunismus selbst);
  • Unabhängige, kritische Medien werden diskreditiert, durch Streichung von Fördermitteln und Inseratenauftragen (vgl.o.) erpresst, ausgehungert und zerstört. Sie sind als vierte Gewalt unerwünscht und störend, denn sie sind es ja meist, die die Korruption der Politik (vgl.o.) aufdecken;
  • Öffentlich-rechtliche Medien werden gleichgeschaltet / zensuriert / mit Parteigängern besetzt und so zu Regierungsmedien. Als Vorstufe davon werden ihnen Regierungs-Informationen vorenthalten, die die Regierung nur noch über linientreue Parallelmedien verbreitet;
  • diese Parallelmedien – oft im Besitz von Milliardären mit eigener gesellschafts- und parteipolitischer Agenda – verbreiten ihre eigene gesellschafts- und parteipolitische Propaganda und Parallel-Realität (Fake News)
  • Die Eigentümer der Spin-Medien (aka "soziale" Medien) üben sich gegenüber der Politik in vorauseilendem Gehorsam und demonstrativer Unterwürfigkeit; sie passen ihre Policies den Erwartungen der Regierenden an; sie moderieren ihre Inhalte nicht, womit sie gezielt Emotionalisierung, Polarisierung und Eskalation, Angst und Wut fördern und verstärken; manipulieren ihre Algorithmen, sodass sie die Regierung dadurch unterstützt wird, regierungskritische Inhalte unterdrückt werden;
  • Im Bildungswesen richten die Machthaber die Lehrpläne Ideologie-konform aus: säkular (nationalistisch) bzw. religiös (fundamentalistisch) – oder beides in zugleich. Die Heranwachsenden werden umso strikter indoktriniert, je autoritärer das jeweilige Regime ist.
  • Der vom (parteipolitisch besetzten und geführten) Bildungsministerium oktroyierte Lehrplan zwingt Unterrichtende und Unterrichtete in ein Prokrustesbett, wo alles, was zu klein ist, gewaltsam gestreckt wird, und was zu groß ist, abgehackt wird;
  • das vom (parteipolitisch besetzten und geführten) Bildungsministerium oktryierte Notensystem verstümmelt das Unterrichtsgeschehen zu einer äußerlichen Zweckerfüllung ohne innere Verbindung;
  • die funktionale Reduktion des Unterrichtsgeschehens führt zu einer Reduktion der Unterrichtenden und der Unterrichteten auf Funktions-Träger: weisungsbefohlene Funktionäre und Beamte auf der einen Seite, bzw. (mehr oder weniger) funktionierende Schüler.
  • Die auf Effizienz (Leistung = Arbeit / Zeit) ausgerichteten Lehrpläne erziehen zu Unterkomplexität, oder simpler ausgedrückt: sie verblöden. Die Folgen dieser langjährigen Verblödung zeigen sich in Einstellungen der Masse zur Klimakatastrophe  und in den Wahlergebnissen. Die Politik, die dieses Bildungswesen geschaffen hat weiß, woran sie appellieren muss, um maximale Wirkung zu erreichen.
  • Wenn Effizienz und Eigennutzenmaximierung schon von der Schule an Erfolgsrezepte sind, kann es nicht verwundern, dass auch im späteren Leben effiziente Eigennutzenmaximierung zur Richtschnur des Handelns wird. Die effizientesten Eigennutzenmaximierer erweisen sich als die "Tüchtigsten" und "Erfolgreichsten" und bilden die wirtschaftlichen und politischen Eliten: "die Gesellschaft bringt die Schule hervor, die die Gesellschaft hervorbringt" (Edgar Morin) – womit der Teufelskreis geschlossen wäre (s.u.). 🔄

3. WIRTSCHAFT

  • Die ungebremste Deregulierung des Wirtschaftslebens auf der Unternehmensseite bei gleichzeitiger Schwächung der Einflussmöglichkeiten der Arbeitnehmer und Konsumenten hat zu perversen Vermögenskonzentrationen in der Hand einer kleinen Minderheit geführt bei gleichzeitiger Einkommensstagnation der großen Masse.
  • Diese Milliardäre erlangen durch ihren Überreichtum auch politischen Einfluss: GeldMacht.
  • Dank dieser GeldMacht konnten sie für ihre Unternehmen Monopole schaffen, die wiederum ihre GeldMacht zementieren. 🔄
  • Sie wurden von Regierungen  (teilweise sogar sogar ganz unverschämt offiziell) mit politischer Macht ausgestattet, sodass Oligarchien entstanden.
  • Dieser Filz aus politischem und ökonomischem Einfluss (GeldMacht) führt in letzter Konsequenz zur Etablierung völlig korrupter Mafiastaaten, wo Autokraten und Plutokraten mit Gewalt ihre Eigeninteressen durchsetzen.
  • Neofeudalismus: Überreiche können ihre Macht willkürlich ausüben wie einst die Fürsten: willkürlich, rücksichtslos und ohne Sorge, dafür irgendwann zur Rechenschaft gezogen zu werden.
  • Die Start-Vorteile von Kapital-Einkommen (aus Boden-, Immobilien-, Produktions- und Geld-Kapital, großteils ererbtes Vermögen) werden gegenüber Einkommen durch Arbeit systematisch weiter bevorteilt, sodass Vermögende immer reicher werden. 🔄
  • Da Ausbeutung (der Natur, der Menschen) Gewinn bringt, ist Ausbeutung ein Erfolgsrezept.
  • Der langfristige Nutzen für das große Ganze (der Gesellschaft als Teil der Natur) wird kurzfristiger Profitmaximierung untergeordnet.
  • Effiziente Eigennutzenmaximierung – schon von der Schule an das Erfolgsrezept –   bewährt sich auch bei Steuerhinterziehung und Geldwäsche. Wieso auch nicht? Moral, Charakter, Anstand… zählen ja nicht zu den tatsächlich implementierten Bildungszielen.
  • Ein völlig verqueres Verständnis von "Freiheit" als "schrankenloser Egoismus" resultiert in der derzeitigen Faustrecht-Wirtschaft: Recht hat, wer Erfolg hat; wer fragt im Nachhinein nach den Methoden? Den größten Erfolg hat der Rücksichtsloseste. Er hat von seiner Freiheit am effizientesten Gebraucht gemacht.

Es wird vielleicht schon aus der Auflistung deutlich: Ein Großteil der Probleme rührt 1.) von einer destruktiven Eigendynamik von Politik, Wirtschaft und Kultur her und 2.) von ihrer destruktiven Wechselwirkung, bzw. von ihrer unterdrückten konstruktiven Entwicklung und Wechselwirkung.

Was ist das verbindende Muster im Kulturbereich? Dass seine Freiheit attackiert und unterdrückt wird. Das primäre Ziel autoritärer Regime ist es, abweichende Meinungen und kritische Stimmen (Medien, Kultur im engeren Sinne, Bildungswesen) zu knebeln und das gesamte Geistesleben gleichzuschalten. Abgesehen davon haben gerade die reichweitenstärksten Medien ihre Freiheit seit jeher an den Mammon verkauft und prostituieren sich für das Großkapital.

Das gemeinsame Muster im Politischen ist die Vergewaltigung des Gleichheits-Grundsatzes durch Korruption, Beschädigung und Zerstörung des Rechtsstaats. Eine Politik, die dem gesellschaftlichen Interessenausgleich dienen müsste wird durch das Macht-Apriori der Parteien von ihrem opportunistischen Eigeninteresse verdrängt. So entsteht eine demokratiepolitische Abwärtsspirale (Demokratie-Demenz), die Demokratien zu Oligarchien,  Mafiastaaten und korrupten Autokratien pervertiert, in denen von Gleichheit und Gerechtigkeit in keinster Weise mehr die Rede sein kann.

Im Wirtschaftlichen herrscht das Faustrechts-Regime der GeldMacht, das seine Eigeninteressen gegen die Interessen der anderen Marktteilnehmer durchsetzt ("exklusive Marktwirtschaft"), sich Monopole schafft, mit denen es sein Faustrechts-Regime befestigt. Unstillbare Gier und Egoismus der Mächtigsten prägen das Wirtschaftsleben.

Die logische Konsequenz eines staatlich gleichgeschalteten bzw. von der GeldMacht prostituierten Geisteslebens, einer von der GeldMacht korrumpierten Staatsordnung und einer Faustrechts-Wirtschaft ist in Summe die gesellschaftliche und die ökologische Krise des 21. Jahrhunderts.

Der dreifache Backlash 🔄 – politisch, wirtschaftlich und kulturell – hat bereits eingeschlagen.

DIE FLAMMENSCHRIFT AN DER WAND

Die Magier kamen, doch keiner verstand / Zu deuten die Flammenschrift an der Wand. (Heinrich Heine, "Belsatzar")

Das Gute am Schlechten: das Muster in der Chaotik dieses Krisen-Tsunami ist eine "Flammenschrift an der Wand". Dadurch werden in den Krisenphänomenen selbst ihre Lösungsansätze erkennbar. Die politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Krisenphänomene sind ein verzerrtes Spiegelbild dessen, was in diesen drei gesellschaftlichen Subsystemen eigentlich entstehen will. Sie sind Geburtswehen von etwas Neuem, das an seinem Zur-Welt-Kommen noch gewaltsam gehindert wird, aber doch zur Welt kommen muss, unweigerlich zur Welt kommen wirdby design or by disaster.

"What is attempting to emerge," um mit Scharmer zu sprechen; was erschüttert wie ein Menschheits-Beben die Welt in ihren Grundfesten?

  • Was aus einem gleichgeschalteten Bildungssystem und aus einem gleichgeschalteten bzw. korrumpierten Medienwesens entstehen will, ist FREIHEIT.
  • Was sich gegen ein korrumpiertes Staatswesen entfalten will, ist GLEICHHEIT und GERECHTIGKEIT.
  • Was von einer monopolistischen Faustrecht-Wirtschaft unterdrückt wird, ist BRÜDERLICHKEIT: GEMEINSINN, KOOPERATION, GEMEINWOHL.
Der dreifache Kompass für die Gesellschaft des 21. Jahrhunderts

DIE GESELLSCHAFTLICHEN GRUNDBEDÜRFNISSE

Je mehr die Freiheits-, Gleichheits- und Brüderlichkeits-Impulse behindert und unterdrückt werden, desto mehr werden diese Geburtswehen die Menschheit erschüttern. Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit (oder besser: Geschwisterlichkeit) sind also keineswegs nur schöngeistige, aber weltfremde Ideale. Sie sind die drei Urbedürfnisse des Menschen als Gesellschaftswesen. Das wird überall dort deutlich, wo die Menschen ihren Lebensverhältnissen schon eine Richtung geben können. Da haben sie diese drei Impulse nämlich bereits realisiert:

  • Religionsfreiheit, Gedankenfreiheit, Redefreiheit, Kunstfreiheit, Pressefreiheit, Forschungsfreiheit, freie Schulwahl… sind die Säulen eines liberalen, pluralistischen Geisteslebens.
  • Das Rechtsleben und der Staat beruhen auf dem Prinzip der Gleichheit. Nur die Gewaltenteilung des säkulären Rechtsstaats ermöglicht Gleichheit und Gerechtigkeit.
  • Überall, wo die Schwächeren nicht von den Stärkeren, die Ohnmächtigen nicht von der GeldMacht daran gehindert werden, ist solidarisch-wirtschaftliche Kooperation entstanden, lebt in diesen Kooperativen Gemeinsinn, entsteht in diesen Oasen des Gemeinsinns Gemeinwohl.

Wie "Foto-Negative" dieser Impulse werden nun ihre Gegenbilder deutlich –

  • wenn Politiker Menschen über gleichgeschaltete Medien indoktrinieren; wenn Politiker die kulturelle, religiöse, sprachliche Autonomie von Minderheiten unterdrücken, wenn Profit-gesteuerte Medienkonzerne Neid und Hass befeuern und zu Antreibern gesellschaftlicher Polarisierung und Spaltung werden;
  • wenn das Prinzip der Gewaltenteilung ausgehebelt wird, wenn Parteien und Politiker ihren Wahlerfolg über das Gemeinwohl stellen, wenn sie sich von Macht und Geld und Lobbying korrumpieren lassen und Gesetze auf die Partikularinteressen einflussreicher Gruppen ausrichten anstatt auf das Wohl Gesellschaft und des Planeten;
  • wenn Milliardäre durch hemmungslose Gier und Egoismus auf Kosten der Gesellschaft aberwitzige Vermögen anhäufen, ihre GeldMacht bis in die Politik ausweiten (Oligarchien, Mafiastaaten) und gemeinsam mit der Politik Monopole schaffen, wenn Konzerne den Planeten und die Menschen skrupellos ausbeuten und zerstören…

Die massiven gesellschaftlichen Verwerfungen der Gegenwart und das ökologische Desaster gehen darauf zurück, dass die Flammenschrift an der Wand nicht verstanden wird, dass die drei gesellschaftlichen Grundbedürfnisse der Menschen missachtet werden, dass das Freiheitsbedürfnis im Kulturellen, das Gleichheitsbedürfnis des Rechtslebens und das elementare Bedürfnis der Menschen nach Gemeinwohl ignoriert oder unterdrückt werden. "The more we ignore what is attempting to emerge in society, the more emergencies we will get."

DIE SELBSTORGANISATION DER GESELLSCHAFT

Der alles entscheidende Hebelpunkt liegt darin, die Menschen – erstmals! – in die Lage zu versetzen, diesen drei Impulsen konsequent folgen zu können. Die aktuellen kulturellen, politischen und wirtschaftlichen Verhältnisse lassen das ja nicht zu; sie unterdrücken es vielmehr. Nur eine Auflösung und Metamorphose des Status quo kann die menschliche Zivilisation retten.

In dieser Pauschalität klingt das ja eingängig und unschwer konsensfähig. Man darf aber nicht vergessen, dass jede Lösung der Polykrise des 21. Jahrhunderts keine niedrigere Komplexität aufweisen darf wie sie selbst. Vereinfachende, unterkomplexe Rezepte gibt es ja zuhauf, und sie sind nun gerade kein Teil der Lösung, sondern Teil des Problems!

"Politische Reformen allein, Wirtschaftsreformen allein, Bildungsreformen allein, Lebensreformen allein waren, sind und werden zur Unzulänglichkeit und zum Scheitern verurteilt sein. Jede Reform kann nur dann Fortschritte machen, wenn auch die anderen Reformen Fortschritte machen. Die Reformwege sind korrelativ, interaktiv, interdependent.
Keine politische Reform ohne Reform des politischen Denkens, was wiederum eine Reform des Denkens selbst voraussetzt, was wiederum eine Reform des Bildungswesens voraussetzt, was wiederum eine politische Reform voraussetzt. Keine Wirtschafts- und Sozialreform ohne politische Reform, die wiederum eine Reform des Denkens voraussetzt. Keine Lebensreform oder ethische Reform ohne eine Reform der wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen des Lebens, und keine soziale und wirtschaftliche Reform ohne eine Lebensreform und ethische Reform.
Noch tiefer: Das Bewusstsein der überlebenswichtigen Notwendigkeit, den Weg zu ändern, ist untrennbar mit dem Bewusstsein verbunden, dass das große Problem der Menschheit seit jeher der oft erbärmliche und ungeheuerliche Zustand der Beziehungen zwischen Individuen, Gruppen und Völkern ist. Die uralte Frage nach der Verbesserung der zwischenmenschlichen Beziehungen, die so viele revolutionäre Bestrebungen, so viele politische, wirtschaftliche, soziale und ethische Projekte hervorgebracht hat, ist nun untrennbar mit der Überlebensfrage des 21. Jahrhunderts verbunden, das das Jahrhundert des neuen Weges und der Metamorphose ist." (Edgar Morin, La Voie. Pour l'avenir de l'humanité)

Auf die Herausforderung hoher Komplexität gibt es zwei Antworten: Komplexitätsreduktion (vgl.o., nein, danke) oder Selbstorganisation. Die Zivilgesellschaft muss also ihr kulturelles, staatliches und wirtschaftliches Leben so organisieren, dass sich 1.) jeder ihrer Lebensbereiche für sich entsprechend seiner "DNA" entwickeln kann, und 2.) mit den beiden anderen fruchtbar zusammenwirken kann.

Das ist das Ziel der gesellschaftlichen Metamorphose, nach der die Polykrise schreit: So wie sich eine Schmetterlingsraupe in ihrem Kokon auflöst und als Falter wiederersteht, muss die Gesellschaft ihre bestehenden Strukturen verflüssigen, um entfalten zu können, was sie entfalten muss. Denn die "Alternative" wäre noch mehr vom Gleichen, was nur noch mehr vom Gleichen bringt: "The more we ignore what is attempting to emerge in society, the more emergencies we will get." Diese dreifache Selbstorganisation ist die Antwort auf die Krise der "Beziehungen zwischen Individuen, Gruppen und Völkern", die "nun untrennbar mit der Überlebensfrage des 21. Jahrhunderts verbunden" ist – dem "Jahrhundert des neuen Weges und der Metamorphose".

WO ANSETZEN?

Die Zivilgesellschaft muss wie ein Keim die Schale sprengen, die sie an Wachstum und Gedeihen hindert. Innerhalb der herrschenden Strukturen und Regeln wird das schwerlich möglich sein, denn Politik und Wirtschaft haben sich ja just die Struktur dieser "Schale" zu ihrer Stabilisierung geschaffen. Innerhalb dieser Strukturen und Regeln, die den Status quo stabilisieren und von ihm stabilisiert werden 🔄 eine Verwandlung herbeiführen zu wollen, wäre für die Gesellschaft ein Widerspruch in sich. Sie verhielte sich wie eine Raupe, die sich in ihrem Kokon krampfhaft dreht und wälzt, aber nicht bereit ist, ihrer eigenen DNA zu vertrauen – ihrer Zukunft als Schmetterling.

Wovon ich spreche, ist ein gesellschaftlicher Evolutionsschritt revolutionärer Tragweite – eine rEvolution. Er beginnt damit, dass die Zivilgesellschaft sich gegen jede weitere Unterdrückung dessen auflehnt, was in ihr und durch sie entstehen will. Sie darf im Kampf für das Neue, Künftige aber nicht das Alte, Vergangene reproduzieren: Parteilichkeit. Ihr Anliegen ist nicht das einer Opposition im vergangenen, parteipolitischen Sinn. Es ist vielmehr genuin menschlich, menschheitlich. Es ist vor-parteilich (vgl. dieses Skriptum). Die Zivilgesellschaft muss sich als Souverän erweisen, indem sie sich souverän versteht, empfindet, verhält.

Diese Souveränität hat sie seit langem mit den Wahlen abgegeben: "Wählen heißt Abdanken" (Élisée Reclus). Aus diesem Sumpf muss sie sich wie der Baron Münchhausen am eigenen Schopf herausziehen: indem sie so von ihrer Souveränität Gebrauch macht, erschafft sie sie – und erschafft sie sich selbst als Souverän. Es ist die Selbstermächtigung der Gesellschaft, über ihr langfristiges Wohlergehen und über das ihres Heimatplaneten selbst zu entscheiden.

VON DEN BÜRGERRÄTEN ZUR REPRÄSENTATIVEN (LOS)DEMOKRATIE

Die konkreten Ausgestaltungen einer solchen Selbstermächtigung sind vielfältig. Gemeinsam ist ihnen aber die Einsicht, dass nicht die Parteien, dass nicht die repräsentative Demokratie repräsentativ für die Gesellschaft ist, sondern nur eine repräsentative Zufallswahl. Wahlen und Parteien bauen per definitionem auf dem Prinzip der Parteilichkeit und Parteien-Gegensätze auf, somit strukturell schon auf Gegensatz, Abgrenzung, Konkurrenz, Polarisierung und Spaltung. Wie sollte man von von ihnen also Gemeinsamkeit, Unparteilichkeit, Kooperation und Brückenbauen erwarten?! Je mehr die Parteien sich als Parteien zur Geltung bringen, desto parteilicher und polarisierter wird auch die Gesellschaft. Partei schafft Wähler-Parteilichkeit schafft Partei.

Darum ist echte Repräsentation sowohl strukturell (Losverfahren) als auch von den Abläufen her (Deliberation) nur in repräsentativ aus der gesamten Gesellschaft ausgelosten Gremien angelegt. Wie repräsentativ solche Gremien sind, zeigt diese Grafik:

Für den Klima-Gesellschaftsrat von Herefordshire (GB) wurden als Kriterien für die Repräsentativität in dieser Thematik die Kriterien Geschlecht, Alter, Ethnie, gesundheitliche Einschränkungen, Sorge bzgl. der klimatischen Entwicklung, mögliche Mehrfach-Benachteiligung in der betr. Gegend (Herefordshire), sowie das Verhältnis Stadt-/Landbevölkerung gewählt. Die erste Spalte spiegelt die tatsächliche Zusammensetzung der Bevölkerung von Herefordshire, die zweite die Zusammensetzung der 520 Antworten (d.h. der potentiellen Teilnehmer, vor Korrektur), und die dritte – nach nochmaliger Korrektur der Schichtung – die endgültige Zusammensetzung der 48 Teilnehmer des Gesellschaftsrats. Man sieht: repräsentativer geht kaum.

Was die zweite Säule betrifft, die Deliberation: Hier gibt es verschiedene Formate, je nachdem, ob es sich um einen temporären Gesellschaftsrat oder um eine dauernde losdemokratische Legislative handelt; zu letzterer vgl. das Modell von Terrill Bouricius (von mir referiert) bzw. hier im (englischen) Original. Deliberation ist der entscheidende Gegenentwurf zur Parteilichkeit, Spaltung und Polarisierung des Parteien-Systems. Vielfach erprobt und bewährt sind Zufallswahl und Deliberation bereits bei Bürgerräten. Ihre wichtigsten Merkmale und Vorteile:

  1. Repräsentative Zufallsauswahl: Vielfalt als Motor für Entwicklung
  • Durchmischung der Gruppe: Die zufällige Auswahl per Losverfahren sorgt für eine heterogene Zusammensetzung (Alter, Beruf, Bildung, kultureller Hintergrund). Diese Diversität zwingt Teilnehmende, aus ihrer eigenen „Blase“ auszubrechen und sich mit Lebensrealitäten auseinanderzusetzen, die ihnen fremd sind.
  • Empathie durch Perspektivwechsel: Der Kontakt mit Menschen, die andere Werte oder Erfahrungen haben, fördert aktives Zuhören und die Fähigkeit, Konflikte nicht als Bedrohung, sondern als Bereicherung zu begreifen.
  • Inklusion „stillere Stimmen“: Menschen, die sich sonst nicht politisch engagieren, bringen ungefilterte Alltagserfahrungen ein – das stärkt ihr Selbstbewusstsein und zeigt der Gruppe, wie vielfältig gesellschaftliche Bedürfnisse sind.
  1. Deliberation: Schule der respektvollen Auseinandersetzung
  • Professionelle Moderation: Neutrale Moderator:innen sorgen dafür, dass jeder Raum zum Sprechen hat und Machtgefälle (z. B. durch Bildung) ausgeglichen werden. Dies vermittelt Sicherheit, auch kontroverse Meinungen zu äußern.
  • Strukturierte Diskussionsformate: Methoden wie Kleingruppen, Rollenspiele oder Konsensrunden trainieren Kommunikationsfähigkeiten: Wie formuliere ich Argumente präzise? Wie reagiere ich auf Kritik, ohne abzuwerten?
  • Konflikt als Lernchance: Durch das gemeinsame Ringen um Lösungen lernen Teilnehmende, dass Dissens kein Hindernis, sondern ein Schritt zu tragfähigen Kompromissen ist. Dies prägt eine Kultur des Dialogs statt der Polarisierung.
  1. Experteninput & Reflexionsphasen: Wissen vertiefen, Haltungen hinterfragen
  • Ausgewogene Informationsgrundlage: Expert:innen aus Politik, Wissenschaft und Zivilgesellschaft vermitteln Fakten, aber auch ethische Dilemmata (z. B. Klimaschutz vs. Wirtschaftsinteressen). Dies zwingt zur Abwägung von Werten und Prioritäten.
  • Zeit zum Nachdenken: Im Gegensatz zu oberflächlichen Debatten ermöglichen Bürgerräte mehrere Tage oder Wochen für die Meinungsbildung. Diese Tiefe fördert kritisches Denken und die Einsicht: „Ich habe früher zu simplifiziert gedacht.“
  • Selbstreflexion durch Feedback: Teilnehmende erhalten Rückmeldung, wie ihre Argumente auf andere wirken – ein Spiegel für unbewusste Vorurteile oder blinde Flecken.
  1. Gemeinsame Lösungsfindung: Vom Ich zum Wir
  • Konsensorientierung: Das Ziel, möglichst einstimmige Empfehlungen zu erarbeiten, erfordert Kompromissbereitschaft und Kreativität. Teilnehmende erleben, wie scheinbar unvereinbare Interessen durch neue Ideen integriert werden können.
  • Geteilte Verantwortung: Da alle gleichberechtigt sind, entsteht ein Gefühl von kollektiver Verantwortung – nicht „die Politik“ soll lösen, sondern „wir gemeinsam“.
  • Erfolgserlebnisse: Das gemeinsame Erreichen von Zwischenergebnissen stärkt das Vertrauen in die Gruppe und die Überzeugung: „Auch in komplexen Themen können wir etwas bewegen.“
  1. Politische Wirksamkeit: Vom Dialog zur demokratischen Selbstwirksamkeit
  • Einbindung in Entscheidungen: Wenn Bürgerrats-Empfehlungen z. B. im Parlament debattiert oder umgesetzt werden, spüren Teilnehmende: Mein Engagement hat Gewicht. Dies bekämpft Ohnmachtsgefühle und stärkt das Vertrauen in die Demokratie.
  • Transparenz als Vertrauensgrundlage: Öffentliche Dokumentation der Beratungen zeigt, dass Meinungen nicht manipuliert, sondern ernst genommen werden.
  • Langfristige Netzwerke: Oft entstehen aus Bürgerräten informelle Gruppen, die sich weiterhin engagieren – ein Nährboden für zivilgesellschaftliches Engagement.

Effekte auf Persönlichkeit und Gemeinschaft:

Persönlichkeitsentwicklung

  • Selbstwirksamkeit: „Ich kann etwas bewirken, auch ohne Expertenstatus.“
  • Ambiguitätstoleranz: Umgang mit Unsicherheit und komplexen Fragen wird leichter.
  • Empathie: Die Fähigkeit, Motive anderer nachzuvollziehen, ohne sie gutheißen zu müssen.

Gemeinschaftsentwicklung

  • Sozialer Zusammenhalt: Durch das gemeinsame Ziel entstehen Brücken zwischen Milieus, die sich sonst nie begegnen würden.
  • Abbau von Vorurteilen: Persönliche Begegnungen reduzieren pauschale Feindbilder (z. B. „Die Jugend ist unmündig“ oder „Ältere blockieren nur“).
  • Demokratische Kultur: Die Erfahrung, dass Streit nicht in Hass, sondern in Lösungen münden kann, wirkt als Vorbild für gesellschaftlichen Umgang.

Dies ist Punkt für Punkt das diametrale Gegenteil dessen, was sich seit jeher als "repräsentative Demokratie" verkauft, als die vermeintlich einzig demokratische Verfasstheit der Gesellschaft.

Wird das Erfolgsprinzip der Bürgerräte – Zufallswahl und Deliberation – ausgebaut (und um das Rotationsprinzip erweitert), gelangt man zu einer tatsächlich repräsentativen Demokratie, zur Losdemokratie:

Quelle: DemocracyNext

Eine solche Losdemokratie widerspricht bislang jeder demokratischen Verfassung. Und in einer Zeit, wo die liberal-pluralistische Demokratie unter schwerem Dauerbeschuss steht und einzustürzen droht, kalten sich ihre Verteidiger umso energischer am Bestehenden fest. Es ist also doppelt schwierig, Verständnis und Offenheit für eine neue, weitaus offenere, liberalere, repräsentativere, nicht-korrumpierbare, kurz: demokratischere Demokratie zu finden. Ohne dass aber aus diesem Impuls zur Selbstorganisation der Zivilgesellschaft eine Massenbewegung wird, wird ihr kein Erfolg beschieden sein. Das liegt in der Natur der Sache. Um nochmals Edgar Morin zu Wort kommen zu lassen:

"Man muss wissen, wie man beginnt, und der Anfang kann nur abweichend und randständig sein. […] Auch die Reform wird auf periphere und randständige Weise beginnen. Wie immer kann die Initiative nur von einer Minderheit ausgehen, die anfangs unverstanden ist und manchmal verfolgt wird. Dann erfolgt die Verbreitung der Idee, die, indem sie sich ausbreitet, zu einer treibenden Kraft wird."  (Edgar Morin, La tête bien faite)

Sicherlich, die Wahrscheinlichkeit spricht gegen den Erfolg einer derartigen rEvolution. Die Wahrscheinlichkeit ist eindeutig auf der Seite des Bestehenden, der herrschenden Verhältnisse, der Selbstzerstörung unserer liberal-pluralistischen Gesellschaft, der Zerstörung unseres Heimatplaneten. Die rEvolution erscheint praktisch unmöglich. Wie wollen wir herausfinden, wenn wir es nicht versuchen?

"Aber jede große Schöpfung im Bereich des Lebens erscheint uns logisch unmöglich, bevor sie entsteht und manchmal sogar noch, nachdem sie in Erscheinung getreten ist. […]
Das heißt, dass das Undenkbare möglich ist. Gewiss bleibt die Möglichkeit der revolutionären 'Neugeburt' der Menschheit eine sehr unwahrscheinliche Möglichkeit, und die Wahrscheinlichkeit liegt weiterhin auf der Seite des Rückschritts und des Todes.
Doch wenn die Vorhersage das Schlimmste aufzeigt, geht die Hoffnung in Richtung des Unwahrscheinlichen und des Unvorstellbaren. Die Schöpfung ist vorher immer unsichtbar, auf dieses Unsichtbare gilt es zu wetten." (Edgar Morin, Pour sortir du XXe siècle)

Hanspeter Rosenlechner, 5.2.2025; bearbeitet

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By Hanspeter Rosenlechner