"Flexiblere Wertvorstellungen"

Es gibt Momente, die blitzlichtartig vieles erhellen, was sich sonst immer nur vage und ungreifbar im Dämmerlicht befindet. So ein Moment war gestern, am 10. Jänner 2025, als der Halleiner Wirtschaftsbund-Obmann und sein Stellvertreter von ihren Funktionen zurückgetreten und aus der ÖVP ausgetreten sind – aus Protest gegen die Zusammenarbeit der Bundes-ÖVP mit der FPÖ:

Und jetzt kommt's: Die Reaktion darauf…

Der Wirtschaftsbund Salzburg betonte, dass es sich bei den Rücktritten um die persönliche Meinung von Habersatter und Wasserbacher handle. Der Halleiner Wirtschaftsbund wird auch nicht aufgelöst, da der Vorstand in seinem Statement davon ausgeht, dass sich ein neuer Obmann mit „flexibleren Wertvorstellungen“ finden wird.

Diese Wortwahl – noch dazu in einer offiziellen Stellungnahme, die für die Nachfolge der Zurück- und Ausgetretenen als richtungsweisend zu verstehen ist – ist mehr als bemerkenswert.

"Flexiblere Wertvorstellungen" ! Damit ist alles gesagt. Nach Meinung des Wirtschaftsbundes, eines Vereins im Rahmen der ÖVP, haben Wertvorstellungen "flexibel" zu sein. Sie müssen sich an die jeweilige Situation anpassen können. Sie sind also kein Paradigma, das der Tagespolitik richtungsweisend übergeordnet wäre; im Gegenteil: Die Erfordernisse der Tagespolitik definieren die Ausrichtung der jeweils opportunen Wertvorstellungen. Man könnte politischen Opportunismus und Machiavellismus, man könnte die pandemische Demokratie-Demenz kaum treffender illustrieren.

Seit meiner Jugend sind meine Wertvorstellungen dieselben. Sie haben sich weiterentwickelt, Gott sei Dank, aber in ihrer Substanz waren und sind sie seit jeher unverändert. Wenn ich zurückdenke, gab es keinen Zeitpunkt, wo ich nicht aus tiefster Seele all das abgelehnt hätte, was Kickl, Orban, Höcke, Trump und wie sie alle heißen verkörpern. Es gab keinen Zeitpunkt, wo ich nicht aus tiefstem Herzen von diesen Feinden der Freiheit und Pluralität, der Gleichheit und Gerechtigkeit, der Sozialität und des Gemeinwohls empört gewesen hätte. Es gab keinen Zeitpunkt, zu dem meine Wertvorstellungen "flexibel" gewesen wären.

Denn so wie ich "Wertvorstellungen" verstehe, macht es sie geradezu aus, dass sie unflexibel, dass sie stabil sind. Auch wenn sich im Laufe eines Lebens die Prioritäten verändern: die Grundwerte eines Menschen mit Charakter sind stabil. Daher die Metapher vom "Rückgrat". "Flexible" Wertvorstellungen hingegen sind damit eine andere Bezeichnung für Rückgratlosigkeit, das heißt in der Politik: machttaktischer Opportunismus, Machiavellismus, und als Resultat eben: Demokratie-Demenz.

Die ÖVP sucht also neue Führungspersönlichkeiten für ihre stärkste Fraktion in der Wirtschaftskammer, den Wirtschaftsbund, die als Basis-Qualifikation Rückgratlosigkeit aufzuweisen haben. Eigentlich wenig verwunderlich, in Anbetracht der Rückgratlosigkeit ihrer Spitzenfunktionäre. Dass die Leiter des Wirtschaftsbundes von künftigen Kandidaten hingegen ganz explizit "flexiblere Wertvorstellungen" als die der bisherigen Obleute erwarten, zeigt überdeutlich, dass sie dabei keinerlei schlechtes Gewissen haben – sofern sie überhaupt eines haben, denn das Gewissen ist ja untrennbar mit Wertvorstellungen und Rückgrat verbunden. Sie denken sich überhaupt nichts dabei, die Wertvorstellungen der Zurück- und Ausgetretenen als "unflexibel" herunterzumachen, ihr Rückgrat zu desavouieren! Es erscheint ihnen als das Natürlichste der (politischen) Welt! – Ja, es ist tragisch: genau das ist praktizierte Demokratie-Demenz. Deshalb ist es wert, vor dem Vergessen bewahrt zu werden.

Update: Am 13.1. machte der Nachfolger des von von den Lobby-Organisationen Industriellenvereinigung und Wirtschaftskammer gestürzten Karl Nehammer, ÖVP-Obmann Christian Stocker eine ebenso frag- wie denkwürdige Aussage: "Wir werden für die Freiheitliche Partei, für ihre Aussagen, Haltungen & ihr Personal, keine Verantwortung tragen. Das ist so." Die ÖVP spielt also Steigbügelhalter für die Rechtsradikalen, springt machtgeil mit aufs Pferd und gibt ihm mit die Sporen, übernimmt aber für die Konsequenzen dieses Höllenritts keine Verantwortung?! Welches Delirium…