ISRAEL / PALÄSTINA: DIE LÖSUNG LIEGT NICHT DORT, WO MAN SIE SUCHT

ISRAEL / PALÄSTINA: DIE LÖSUNG LIEGT NICHT DORT, WO MAN SIE SUCHT

Israel ist in der Palästina-Frage zwischen der Ein- und Zweistaatenlösung zerrissen. Es scheint naheliegend, dass es außer Eins und Zwei kein Drittes geben könne. Tatsächlich?

Wie bei vielen scheinbar ausweglosen Problemen verstellt sich hier die Ausgangs-Fragestellung den Blick auf die eigentliche, auf die grundlegende Lösung. So als ob man mit der Taschenlampe in die falsche Zimmerecke leuchtet: Je heller es dort ist, desto dunkler überall sonst. Je mehr der Blick auf diesen hellen Fleck fixiert ist, desto weniger sucht man in den dunklen Ecken, wo das Gesuchte aber eigentlich liegt.

Oft ahnt man aber nicht, dass man sich von Anfang an das falsche Eck ausgesucht hat, und oft erliegt man der Versuchung, dort zu aus dem einfachen Grund,  dass man schon immer dort gesucht hat. Weil es dort so schön hell ist.

Paul Watzlawick hat es in einer bekannten Parabel karikiert:

Unter einer Straßenlaterne steht ein Betrunkener und sucht und sucht. Ein Polizist kommt daher, fragt ihn, was er verloren habe, und der Mann antwortet: "Meinen Schlüssel." Nun suchen beide. Schließlich will der Polizist wissen, ob der Mann sicher ist, den Schlüssel gerade hier verloren zu haben, und jener antwortet: "Nein, nicht hier, sondern dort hinten – aber dort ist es viel zu finster." (Aus Anleitung zum Unglücklichsein)

Was oft und lange Zeit ein Erfolgsrezept gewesen sein mag, ist irgendwann überlebt. Sich dennoch daran festzuhalten, anstatt neue, ungewohnte und unerprobte Lösungen zu suchen, wird dann selbst zum Problem. Denn es

führt zu einer zweifachen Blindheit: erstens dafür, daß im Laufe der Zeit die betreffende Anpassung eben nicht mehr die bestmögliche ist, und zweitens dafür, daß es neben ihr schon immer eine ganze Reihe anderer Lösungen gegeben hat oder zumindest nun gibt. Diese doppelte Blindheit hat zwei Folgen: Erstens macht sie die Patentlösung immer erfolgloser und die Lage immer schwieriger, und zweitens führt der damit steigende Leidensdruck zur scheinbar einzig logischen Schlußfolgerung, nämlich der Überzeugung, noch nicht genug zur Lösung getan zu haben. Man wendet also mehr derselben "Lösung" an und erreicht damit genau mehr desselben Elends. (ebd.)

Zurück zu Israel und Palästina. Ich bin überzeugt, dass beide Optionen – Ein- & Zweistaaten„lösung“ – nicht zielführend sind. Den sie beruhen beide auf Grundannahmen, die sich überlebt haben. Dann ist auch die „Wahl“ zwischen Ein- oder Zweistaaten"lösung" kein Teil der Lösung mehr ist, sondern Teil des Problems.

DAS NATIONALSTAATS-MODELL: NICHT MEHR TEIL DER LÖSUNG, SONDERN TEIL DES PROBLEMS

Die Grundannahme, die beiden Optionen zugrunde liegt und die noch nie infrage gestellt worden ist, ist das Nationalstaats-Paradigma. Ein Nationalstaat ist lt. Duden ein „Staat, dessen Bürger (überwiegend) einer Nation angehören.“ Und „Nation“ definiert der Duden als „große, meist geschlossen siedelnde Gemeinschaft von Menschen mit gleicher Abstammung, Geschichte, Sprache, Kultur, die ein politisches Staatswesen bilden“ – eben den Nationalstaat.

Sobald man sich voraussetzungslos überlegt, wie dieses Modell auf Israel / Palästina sinnvoll angewendet werden sollte, merkt man, dass es nur in Konflikte führen kann. Faktisch leben auf einem Territorium, das vor 70 Jahren einem der beiden Völker ab- und einem anderen zugesprochen wurde nach wie vor beide. Es sind zwei Nationen auf einem Territorium. Damit scheint der Schluss naheliegend: ergo kann nur in einer Aufteilung dieses Territoriums in zwei Staaten die Lösung liegen. Doch konkret und realistisch betrachtet ist das Problem damit keineswegs gelöst. Die beiden Völker leben ja nicht wirklich geografisch getrennt, und sie haben sich in vielfacher Weise durchmischt. Nach dem Nationalstaats-Modell (ein Staatswesen mit einem Volk einer Abstammung, einer Geschichte, einer Sprache, einer Kultur) müssten Israelis und Palästinenser klar getrennt werden, und das in einer Region, die von beiden seit vielen Jahrzehnten gemeinsam besiedelt ist, in der beide Völker leben und arbeiten… Bei einer Zweistaaten„lösung“ müssten sich die Einen aus dem Territorium der Anderen zurückziehen (oder noch weit schlimmer: vertrieben werden!) und dort lassen, was sie sich in Jahrzehnten aufgebaut haben. Diese „Lösung“ hätte zwangsläufig eine Spaltung zur Konsequenz. Wie überall: Der Separatismus ist ein gesellschaftlicher Spaltpilz. Auch in Europa; vgl. derzeit Katalonien, Schottland…

Wie kann man dem Separatismus begegnen? Innerhalb des Nationalstaats-Modells nur mit entweder-oder. Entweder die Abspaltung zulassen oder die separatistischen Impulse unterdrücken, nötigenfalls mit Gewalt – z.B. unter Berufung auf die verfassungsmäßige „unauflösliche Einheit der Nation“.

Wo verschiedene Völker auf ein und demselben Territorium koexistieren (müssen), funktioniert das Nationalstaats-Modell umso weniger, je stärker sich das Nationale / Religiöse zur Geltung bringt; bzw. umgekehrt: Wo verschiedene Ethnien / Religionen koexistieren, funktioniert das umso besser, je mehr alles Nationale in den Hintergrund tritt. Anders gesagt: Je mehr auf einem multi-ethnischen / multi-religiösen Territorium die einzelnen Völker auf ihr „Selbstbestimmungsrecht“ pochen, desto mehr werden Konflikte eskalieren.

  • Die Palästinenser sprechen (mit Unterstützung diverser arabischer Staaten) Israel das Existenzrecht ab; radikale Kräfte (Hamas, Hisbollah) führen gegen Israel einen irregulären Krieg, in dem die Israelis sich notwendigerweise und zu Recht verteidigen.
  • Israel besiedelt das vorwiegend palästinensisch besiedelte Ostjordanland – israelisches Staatsgebiet – mit Israelis; Israel verlegt zuletzt gemeinsam mit den USA die US-Botschaft ins geteilte Jerusalem (Kommentar hier); niemals wird Israel einen Todfeind als Nachbarstaat akzeptieren, und damit einen unabsehbaren Macht-, Kontroll- und Gesichtsverlust.
  • Und tatsächlich ist nicht zu erwarten, dass die Araber im allgemeinen und die Palästinenser im besonderen nach Jahrzehnten der gewaltsamen Konflikte und gegenseitigen Verletzungen sich mit einem eigenen Staat zufrieden gäben und diesen nicht dazu nützen würden, um Israel weiter und noch effektiver zu bekämpfen.

Das Nationalstaats-Paradigma führt immer wieder zu Polarisierungen, Eskalationen und Entweder-Oder-Entscheidungen. Diese sind im Zusammenleben der Menschen fatal: Sie führen immer zu Gewinnern und Verlierern – womit der aktuelle Konflikt vielleicht symptomatisch gelöst, der nächste aber bereits gesät wäre.

Wie in Katalonien, im ehemaligen Jugoslawien und in anderen Mehrvölkerstaaten wird auch in Israel ein Festhalten am Nationalstaats-Paradigma zu weiteren Konflikten und Eskalationen führen, und das umso mehr, je vehementer die eine Seite einen eigenen Staat zu erzwingen bzw. die andere den bestehenden Gesamtstaat zu bewahren sucht. Das Festhalten am Denken in Nationalstaats-Kategorien entspricht jenen zwei „Regeln“, die mit Sicherheit eine Lösung verhindern:

Erstens, es gibt nur eine mögliche, erlaubte, vernünftige, sinnvolle, logische Lösung des Problems, und wenn diese Anstrengungen noch nicht zum Erfolg geführt haben, so beweist das nur, daß er sich noch nicht genügend angestrengt hat. Zweitens, die Annahme, daß es nur diese einzige Lösung gibt, darf selbst nie in Frage gestellt werden; herumprobieren darf man nur bei der Anwendung dieser Grundannahme. (Watzlawick, a.a.O.)

Das würde erstens bedeuten, es gibt nur eine mögliche, erlaubte, vernünftige, sinnvolle, logische Lösung des Problems, nämlich eine nationalstaatliche (ein Staat oder zwei). Dass diese Anstrengungen noch nicht zum Erfolg geführt hätten, würde beweisen, dass sich beide Konfliktparteien noch nicht genügend angestrengt hätten. Und wie Watzlawick zusammenfasst: Diese „Strategie“ des Mehr desselben führt zuverlässig zu noch mehr desselben. Oder mit dem bekannten Diktum: "Insanity is repeating the same mistakes and expecting different results." Auf dem Weg der Nationalstaatlichkeit wird jeder Versuch der Lösungsfindung weiterhin zur Lösungsverhinderung.

Der Schluss daraus ist: Nur wenn man das Nationalstaats-Paradigma und die von ihm abgeleiteten Optionen grundlegend infrage stellt, werden sich neue, bislang noch nicht erkannte Möglichkeiten eröffnen.

VOM NATIONALSTAAT ZU DEN GESELLSCHAFTLICHEN GRUNDBEDÜRFNISSEN

Zur Erinnerung: Ein Nationalstaat ist ein Staatswesen, bestehend aus Menschen (überwiegend) gleicher Abstammung, Geschichte, Sprache und Kultur. Wodurch entstehen nun in heterogenen Staaten die Konflikte? Sie entstehen dadurch, dass Menschengruppen verschiedener Identität (verwurzelt in gemeinsamer Abstammung, Geschichte, Sprache und Kultur) in ein einheitliches Staatswesen gepresst werden, welches von einer Gruppe – der Mehrheit – geprägt ist. „Cuius regio, eius religio“ lautete die Formel, die den Dreißigjährigen Krieg beenden half: Wer regiert, bestimmt in seinem Reich die Religion. Die moderne Form dieser Formel lautet „cuius regio, eius natio“ (Zygmunt Bauman): wer regiert, der definiert die Nation. Wie in Israel, Spanien, Großbritannien, Ex-Jugoslawien, in den Staaten der ehemaligen Sowjetunion… Die allermeisten Nationalitätenkonflikte entzünden sich an den nationalen Markern: Abstammung, Interpretation der „gemeinsamen“ Geschichte, Sprache, Traditionen / Sitten (Stichwort: Kopftuch, Händeschütteln…), und vor allem: Religion.

Die Konflikte zwischen den verschiedenen nationalen / religiösen Gruppen innerhalb eines Staates flammen 1. auf, wenn die Mitglieder der Minderheit ihre Religion nicht praktizieren, ihre Sprache nicht überall sprechen, ihre Sitten und Gebräuche nicht pflegen dürfen – kurz: wenn sie ihre identitätsstiftenden kulturellen Praktiken nicht in Freiheit leben dürfen.

Diese Konflikte flammen 2. auf, wenn jene Minderheit wegen ihrer gemeinsamen Identität nicht Gleichheit vor dem Recht genießt, wenn sie diskriminiert wird, wenn die Mitglieder der Mehrheit mehr Rechte oder Rechtsvorteile genießen, wenn faktisches Unrecht gesetzlich legitimiert oder systematisch geduldet wird…

Und sie flammen 3. auf, wenn diese Minderheit wirtschaftlich benachteiligt wird, etwa indem sie in ihrem Warenverkehr behindert wird – das Gegenteil wirtschaftlicher Kooperation, oder, mit dem historischen Terminus: Brüderlichkeit.

Freiheit im geistigen Leben, Gleichheit (Gerechtigkeit) im staatlich-rechtlichen, sowie Brüderlichkeit (Kooperation) im wirtschaftlichen Leben sind die drei gesellschaftlichen Grundbedürfnisse einer modernen Gesellschaft.

Sie sind deshalb auch der Kompass für jede gesellschaftliche Entwicklung, die Konflikten zwischen Gesellschaftsgruppen von vornherein den „Brennstoff“ entziehen will. Je mehr Öl man ins Feuer gießt, wie das beide Konfliktparteien in Israel seit Jahrzehnten tun, desto mehr regiert die Logik der Konflikteskalation. Je mehr dem Impuls zur Abspaltung vom Mehrheitsstaat hingegen die Nahrung entzogen wird, desto mehr wird dieser Impuls sich abschwächen und schließlich einschlafen.

Das ist keine Utopie, kein weltfremdes Wunschdenken; das ist eine prosaische Tatsachen-Feststellung. Man kann damit von heute auf morgen anfangen, im Großen wie im Kleinen; das Eine behindert das Andere in keiner Weise. Jeder große wie kleine Schritt, der in die Richtung geht, die dieser dreifache Kompass weist, wird in Israel (wie überall sonst, wo verschiedene Nationen / Religionsgruppen mehr oder weniger freiwillig koexistieren die gesellschaftliche Freiheit, den sozialen Frieden und den Wohlstand vergrößern.

Dieser Weg wird, realistisch betrachtet, gerade in Israel kein leichter:

  • Die Ausgangsbedingung ist ein beiderseitiger Gewaltverzicht und ein ernsthafter Eskalationsstopp.
  • Dann müssten beide Seiten ihre religiösen Fanatiker in die Schranken weisen, die den Konflikt auch noch religiös zusätzlich aufladen, indem sie den von Gott geschenkten bzw. geforderten Staat zur „heiligen Mission“ überhöhen. Anhänger aller Religionen müssen diese ungehindert praktizieren können.
  • Beide Seiten müssten auf Augenhöhe diskutieren, wie eine rechtliche Gleichstellung von Israelis und Palästinensern erreicht werden kann und diese gemeinsam beschließen, am besten in Form einer gemeinsamen Verfassung. Die von beiden Seiten beschlossenen und deshalb von beiden Seiten mitgetragenen Gesetze werden am besten von einer gemeinsam gebildeten Exekutive umgesetzt und kontrolliert. Religiöse Einflüsse auf den Staat sind weder von jüdischer noch von islamischer Seite zu tolerieren. Eine friedliche Koexistenz verschiedener Religionsgruppen ist nur in einem säkulären Rechtsstaat möglich.
  • Und schließlich darf die Wirtschaft nicht mehr zur politischen Waffe instrumentalisiert werden. Der Austausch von Waren und Dienstleistungen muss ungehindert von politischen Interventionen ablaufen können.

Viele werden entgegnen, allein diese Bedingungen reichten aus, um meinen ganzen Vorschlag als Wunschdenken zu entlarven. Zugegeben, es gibt Näherliegendes – wie die weitere gewaltsame Durchsetzung des israelischen Herrschaftsanspruchs (und der weiteren palästinensischen Gegengewalt), wie eine Zweistaaten„lösung“, die am Sankt-Nimmerleins-Tag beschlossen werden wird… Nichts ist derzeit realistischer als mehr desselben. Bis der Leidensdruck und / oder die Einsicht soweit gewachsen sind, um das vermeintlich Unrealistische zu versuchen. Der hier angedeutete und in FGB ausführlich dargestellte gesellschaftliche Kompass ist überall anwendbar, wo die Menschen jene drei gesellschaftlichen Grundbedürfnisse zu ihrem Anliegen machen. Darum herrschen sie auch überall schon (hier mehr, dort weniger), wo die Bürger auf ihre gesellschaftlichen Verhältnisse Einfluss ausüben können – in Form von Religions-, Meinungs, Rede-, Presse…freiheit, in Form eines liberal-sekulären Rechtsstaats mit Gewaltentrennung, in Form wirtschaftlicher Kooperativen. Man braucht „nur“ konsequent fortzusetzen, was die Gesellschaft aus sich heraus bereits dreifach angelegt hat, dann löst sich das Amalgam Nationalstaat in seine drei Elemente auf: ein selbständiges, selbstorganisiertes Geistesleben, ein selbständiges, selbstorganisiertes Wirtschaftsleben, und einen unabhängigen Rechtsstaat, der die Spielregeln für alle drei definiert.

Wiegesagt, das ist genausowenig eine Utopie wie bzgl. einer Kastanie der ausgewachsene Kastanienbaum eine Utopie ist. Es ist das, was werden wird, sobald es werden kann. In Israel wie überall auf der Welt.


P.S. Oktober 2023 (aus tragischem Anlass – dem groß angelegten Terrorangriff der Hamas auf Israel): Das Erfolgsrezept z.B. in der Schweiz und in Kanada ist eben die Freiheit, mit der dort die verschiedenen Sprachgruppen koexistieren und sich dadurch nicht mehr als „Nationen“ empfinden und von einander abgrenzen müssen: Nationalität (Identität) ≠ Territorialität!

  • Je freier sich verschiedene Ethnien / Sprach- / Religionsgruppen… auf ein und demselben Territorium entfalten und interagieren können,
  • je gleichberechtigter sie sind – ungeachtet der Mehrheits- und Machtverhältnisse,
  • je ungehinderter Waren und Dienstleistungen in alle Richtungen fließen können,

desto bedeutungsloser wird die Staatenfrage.

(Vielen Dank für den Einwand! 😊)

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ZUR VERTEIDIGUNG DES RECHTSSTAATS

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Am 19. Februar 2025 haben sechs Bürgerrechtsorganisationen eine gemeinsame Erklärung zur anstehenden Bundestagswahl veröffentlicht: "Gegen die Angriffe auf den demokratischen Rechtsstaat!" Die dort geäußerten Sorgen um die Rechtsstaatlichkeit teile ich ohne Einschränkung: die Infragestellung der Grund-/Menschenrechte, martialische Law-and-Order-Forderungen, exekutiven Ungehorsam (also die Strategie, Gerichtsentscheide schlicht zu ignorieren)

By Hanspeter Rosenlechner