JA, ES GEHT AUFWÄRTS. Vieles läuft falsch, aber nicht alles.

Irgendwann nach Jahresbeginn habe ich in einer Zeitung einen Jahresausblick gelesen. Er erwähnte durchaus objektiv, was alles falsch läuft in unserer Welt, lenkte aber die Aufmerksamkeit auf all das Positive in der Entwicklung der letzten Jahrhunderte.
- ARMUT: Die weltweite Armut ist auf einem in der Menschheitsgeschichte noch nie dagewesenen Nivau (1820 lebten weltweit noch 84% der Menschen in extremer Armut, 1990 waren es 35%, 2015 weniger als 10%!)
- KINDERSTERBLICHKEIT: 1990 noch 35.000 Kinder pro Tag, 2016 weniger als die Hälfte.
- APHABETISIERUNG: 1950 konnten nur 36% lesen und schreiben, heute sind es 86%.
Und so weiter. Insgesamt befinden wir uns also in einer Aufwärtsspirale. Dem ganzen Negativnachrichten-Sperrfeuer zum Trotz ist es uns noch nie so gut gegangen. Das kapitalistische System hat zwar auch unerfreuliche Nebenwirkungen, aber es ist doch ein Erfolgsrezept. Fazit:
Profil
Wenn wir unsere heutige Situation mit der nach dem Krieg vergleichen (die ich gottseidank nicht miterlebt habe, sondern nur aus den Erzählungen meiner Eltern kenne), ist nicht zu bestreiten: Es geht uns viel, VIEL besser. Überhaupt kein Vergleich. Wenn man mit Krieg, Folter, Verhungern, Verdursten, Kindersterblichkeit, Armut, Analphabetismus… die ganzen Dinge vergleicht, die in den letzten Jahrzehnten die öffentlichen Diskussionen und die „sozialen“ Medien erhitzen — geschlechtsneutrale Wortformen, nicht-diskriminierende Toiletten(schilder), anzügliche Witze von Universitätsprofessoren, verbal oder physisch übergriffige Künstler, Gender-Diskussionen auf der doppelt-reflexiven Meta-meta-Ebene, die etwaige Verletzung der religiösen Gefühle fundamentalistischer Muslime, die minimalste Diskriminierung der Minderheit einer Minderheit…–, dann kann man sich durchaus fragen, ob uns nicht Außerirdische, die uns seit Jahrtausenden bei unserm Treiben von oben zuschauen jetzt für vollkommen deppert halten.
ABER…
Sollte, dürfte man deshalb aus der obigen Gegenüberstellung schließen: „Eh alles nicht so schlimm! Ist eh schon viel besser als früher! Stellt euch nicht so an!“?
Ich glaube, nein. Das Bild von der Aufwärtsspirale ist total treffend. Die zivilisierte Welt grenzt sich dadurch von ihrer eigenen Vergangenheit und von einer weniger zivilisierten ab, dass sie bestimmte Dinge, die „schon immer so“ waren und „völlig normal“ scheinen irgendwann nicht mehr „normal“ findet. Dass ihnen vieles nicht mehr wurscht ist. Dass sie Dinge berühren, die sie früher kalt gelassen haben. G.Chr.Lichtenberg (1742–1799) notierte: „Es tun mir viele Sachen weh, die andern nur leid tun.“ Das beschreibt ebenso einfach wie tief einen markanten Unterschied in der Sensibilität. Vielen Menschen geht es heute ähnlich: Es tun ihnen Sachen weh, seelisch und bis in den Körper hinein weh, die andern Zeitgenossen nur leid tun — oder ganz egal sind (das Schicksal der Nutztiere z.B.).
Die Menschheit ist tatsächlich auf einer Wendeltreppe aufwärts unterwegs. So wie mein Horizont, wenn ich auf dem Bauch im Gras liege eben nur bis zum nächsten Maulwurfshügel reicht, wenn ich mich aufsetze bis zum Ende des Hügels, und wenn ich aufstehe darüber hinaus bis zu den Bergen: genau so reicht heute der Horizont vieler Menschen — sicher nicht aller — kognitiv und emotional weiter als früher. Goethe legte in seinem Faust II einem (Spieß)Bürger die entlarvenden Worte in den Mund:
Als ein Gespräch von Krieg und Kriegsgeschrei,
Wenn hinten, weit, in der Türkei,
Die Völker aufeinander schlagen.
Man steht am Fenster, trinkt sein Gläschen aus
Und sieht den Fluß hinab die bunten Schiffe gleiten;
Dann kehrt man abends froh nach Haus,
Und segnet Fried und Friedenszeiten.“
Worauf ein anderer ihm beipflichtet:
Sie mögen sich die Köpfe spalten,
Mag alles durcheinander gehn;
Doch nur zu Hause bleib’s beim alten.“
Diese Mischung aus sozialer Gleichgültigkeit, Empathielosigkeit und Selbstbezogenheit, die Goethe hier zu Wort kommen lässt ist auch heute — ich erspare mir die Beispiele — tragischerweise vielfach immer noch gang und gäbe. Aber anders als vor zwei Jahrhunderten gibt es heute Abermillionen von Menschen, denen es nicht wurscht ist, was ein Erdogan „hinten, weit in der Türkei“ mit den Kurden anstellt, denen es nicht wurscht ist, unter welchen Bedingungen Menschen in Afrika für unsere Smartphones und in Asien für unsere Billigklamotten schuften, denen es nicht wurscht ist, wie die Tiere ihr Leben zugebracht haben, deren Fleisch wir lippenleckend verspeisen. Solche Menschen sind auf der Wendeltreppe schon höher oben; ihr Sinnen und Empfinden reicht weiter und tiefer als es früher der Fall war.
JA: ES GIBT EINE SOZIALE EVOLUTION — DURCH UNS.
Wo früher Blut und Tod notwendig waren, um Menschen aufzurütteln, dafür reichen heute eben Dinge, die seinerzeit vergleichsweise lächerlich erschienen wären. Das ist keine Neurasthenie; das heißt einfach: Vor 500 Jahren ging es Menschen nicht einmal unter die Haut, wenn sie Mitbürger auf dem Scheiterhaufen verbrennen gesehen haben; im Gegenteil: sie haben sich in Massen an dem Spektakel ergötzt. Später lehnten sie das zwar ab, aber Folter und Hinrichtungen wurden immer noch als selbstverständlich hingenommen und auf öffentlichen Plätzen sensationsgierig begafft. Wieder verging eine Zeit, und solche Grausamkeiten wurden als unerträglich empfunden — jedenfalls gegenüber Menschen. Heute teilt sich die Gesellschaft in empathielose Kretins, die andere Menschen quälen und es mit dem Handy filmen und solchen, denen sich bei dieser Vorstellung der Magen umdreht. Aber viele von uns quält das Leid misshandelter Schweine inzwischen mehr als einen Durchschnittsbürger vor 500 Jahren das Leid anderer Leute plagte. Mit den sozialen Fortschritten sind auch die Ansprüche gestiegen, und das nicht nur in dem Sinn, dass vor einigen Jahren noch ein Viertelkilo-Handy etwas Besonderes war und nun ein Smartphone das Mindeste ist, was man haben muss. Ich meine die Ansprüche hinsichtlich dessen, was man von der Gesellschaft, der man angehört erwartet. Welche Mindeststandards bzgl. Verhalten man zu akzeptieren bereit ist, bzw. wo man nun sagt: „Das geht gar nicht!“. Um ein guter Ehemann zu sein, reicht es heute eben nicht mehr wie vor 50 Jahren, wenn du deine Frau nicht schlägst und jedes Monat das Geld nachhause bringst. Um eine gute Mutter zu sein, reicht es heute eben nicht mehr, wenn du deine Kinder nicht hungern und dreckig und in Lumpen herumlaufen lässt. Um ein guter Lehrer zu sein, reicht es heute eben nicht mehr, wenn du die Schüler disziplinierst und ihnen das vorgeschriebene Wissen wenn nötig mit Ohrfeigen und Stockhieben buchstäblich einbläust. Im Privatleben, im Beruf, in den gesellschaftlichen Normen, in unseren Beziehungen zum Rest der Welt…: überall stellt man heute höhere Ansprüche als vor einer Generation und vieles, was damals keinen gekümmert hätte ist heute ein Skandal.
So ändern sich die Zeiten. Und sie ändern sich gottlob zum Besseren, zu immer weiter und tiefer reichender Bewusstheit. Es ist tatsächlich eine Aufwärtsspirale. Wir erleben eine gesellschaftliche Evolution.
Wie schon immer gibt es auch bei dieser Evolution Vorreiter. Das das sind diejenigen Menschen mit dem wacherem Bewusstsein — mental und empathisch. Nur an der Oberfläche geht heute ein sozialer, weltanschaulicher und politischer Riss durch unsere Gesellschaft. In Wirklichkeit ist es ein Graben auf zwischen jenen, die Zusammenhänge erkennen (wollen), die mit dem Leid anderer Wesen mitfühlen können und wollen, die daran etwas ändern wollen – und den anderen. Die Zukunft gehört denen mit mehr mitempfindendem Verstehen, mit mehr verstehendem Mitempfinden.
Es war schon immer so: Was zuerst Eliten vorbehalten war, wurde im Laufe der Zeit „normal“. Womit ich die echten Eliten meine, die sich immer schon dadurch ausgezeichnet haben, dass sie einen höheren Grad an Bewusstheit erlangt hatten als andere. Bei „Evolution“ denkt jeder an die plakativen Bilderreihen von einem Affen, die sich über einen Neanderthaler zum Homo sapiens sapiens entwickelt. Aber war es nicht der Homo sapiens sapiens, der im letzten Jahrhundert die ärgsten Verbrechen der gesamten Erdgeschichte angerichtet hat — gerade mittels seiner Schlauheit, auf die er so stolz ist? Offenbar ist seine Schlauheit seiner Empathie zu weit vorausgaloppiert; offenbar können sich da Menschen nicht genügend in andere hineindenken und -fühlen; offenbar fehlt es ihnen an einem mitempfindenden Verstehen, an einem verstehenden Mitempfinden; offenbar sind das keine echten, sondern bloß angemaßte Eliten (wie es in der Erziehung authentische und angemaßte Autorität gibt). Die wahren Eliten sind diejenigen, die aufgrund ihrer besonderen Qualitäten von anderen dafür gehalten werden.
Die soziale Evolution ist dadurch gekennzeichnet, dass sie von geringerer zu höherer Bewusstheit führt, was jeden von uns selbst, aber auch unser Verhältnis zu anderen Wesen betrifft. Die, die auf der Wendeltreppe noch ein Stück weiter unten sind mögen die „oben“ als „Gutmenschen“ diffamieren. Das ändert nichts daran, dass ihnen die Zukunft gehört. Sie sind es, die die Evolution nun vorantreiben. Denn diese geht nicht mehr von selbst weiter. Die Zeiten einer Führung durch Autoritäten sind vorbei. Der Mensch ist frei, und somit ist er auch voll für sich und sein Tun und Lassen verantwortlich. Dafür, was er verstehen und nachempfinden will und was nicht. Dafür, welche Entscheidungen er aufgrund dieses empathischen Verstehens und bewussten Mitempfindens trifft. Dafür, wie er sich selbst dadurch weiterentwickelt — und damit die Welt. Für die Evolution. Diese geht nicht mehr wie bisher von selbst weiter; sie liegt nun in den Händen der Menschen. Von keinem Gott und keiner Vorsehung hängt es ab, ob es bergauf und nicht bergab geht, sondern ausschließlich von uns selbst. Von jedem von uns, jeden Tag, in jedem Augenblick.
Post-scriptum 12.4.2018: 32 gute Nachrichten http://m.faz.net/aktuell/wirtschaft/die-welt-wird-immer-besser-32-gute-nachrichten-15524076.html?GEPC=s9
[Diese in kürzeren Abständen erscheinenden Beiträge setzen sich mosaikartig zu einem neuen Gesamtgesellschaftsmodell zusammen. Sie sollen dessen organische Schlüssigkeit und universelle Anwendbarkeit zeigen. Ihr eigentlicher Sinn und Zweck ist jedoch die Umsetzung dieses Modells — im Kleinen wie im Großen. Dafür müssen Sie weiter verbreitet werden. Vielen Dank dafür im Voraus!]