JERUSALEM, DIE UNHEILIGE STADT

Hinweis (16.5.2018): Das hier diskutierte Thema habe ich in einem neuen Artikel umfassender und konkreter bearbeitet: ISRAEL / PALÄSTINA – DIE LÖSUNG LIEGT NICHT DORT, WO MAN SIE SUCHT.
Eine weitere ebenso idiotische wie unnötige Entscheidung dieses Albtraums von einem US-Präsidenten wird nun in Israel zu neuen Unruhen führen, zu Ausschreitungen, Gewalt, Gegengewalt, Verletzten und Toten. [Traurige Bestätigung nach nicht einmal 24 Stunden…; Anm.8.12.] Wie immer besteht sein Rezept für Situationen, die sein Fassungsvermögen übersteigen in radikaler Komplexitäts-Reduktion: den Knoten, den er nicht durchschaut, geschweige denn entwirren könnte einfach durchzuhauen. Und selbstgefällig zu grinsen.
Um diesen gordischen Knoten irgendwie zu lösen, muss man den Impulsen, die in diese vertrackte Situation geführt haben weiter auf den Grund gehen als das üblich ist, und einige Grundüberzeugungen revidieren, die man bislang nicht in Frage gestellt hat. Ich möchte dazu etwas ausholen und mit dem amerikanischen Philosophen Ken Wilber eine Betrachtungsweise vorschlagen, die — soweit mir bekannt als einzige überhaupt — jeden (!) Aspekt einer Sache erfasst. Sie ermöglicht dadurch auch als einzige wirklich ganzheitliche Analysen und Interventionen, die das Ganze verändern und nicht bloß einzelne Teile. (Ich verwende sie auch durchgehend in FGB; sie ist eine der Hauptsäulen des Buches.)
Wilber stellt einerseits Außen und Innen gegenüber — außen der Bereich des Objektiven, innen der des Subjektiven. Was außen / objektiv ist, kann beobachtet (und ggf. kontrolliert / eingefordert) werden, was innen / subjektiv ist, nicht. — Und zum Zweiten hat jede dieser beiden Seiten der Wirklichkeit einen individuellen und einen kollektiven Aspekt, sodass sich vier Quadranten ergeben:

- Links oben — innen-individuell (Denken und Empfinden; im Weiteren mit LO abgekürzt),
- Rechts oben — außen-individuell (Verhalten; RO),
- Rechts unten — außen-kollektiv (Strukturen, Systeme, Gesetze; RU)
- Links unten — innen-kollektiv (gemeinsame Überzeugungen und Werte, Kultur; LU).
Auch das hólon „Gesellschaft” hat vier wesensverschiedene Dimensionen:
- Das Individuum mit seinen persönlichen Gedanken, Überzeugungen, Werten, Empfindungen, Charaktereigenschaften… — das Ich (LO),
- sein Verhalten, seine physischen Merkmale, alles, was an ihm wahrnehmbar, quantifizierbar, messbar, objektiv überprüfbar… ist (RO),
- alle Gesetze und expliziten Regeln, die staatlichen und sonstigen Strukturen (RU), sowie
- die Kultur, die Nation, Traditionen, Sitten, Gebräuche, implizite Regeln, unausgesprochene Normen… — das Wir (LU).
GOTTES|STAAT
Diese Dimensionen muss man in ihrer Verschiedenheit erkennen und anerkennen, und zwar aus ganz praktischen Gründen: Ein Großteil der Störungen des gesellschaftlichen Zusammenlebens werden dadurch ausgelöst, dass die immanenten Prinzipien der einen Seite auf die andere übertragen werden. Beispielsweise im Modell eines Gottesstaats. Das Kompositum selbst spricht ja aus, dass hier zweierlei verbunden ist:
- GOTT — Religion, Überzeugungen, Werthaltungen…, individuell (LO) wie kollektiv (LU), und das verbinden die Menschen einer modernen Gesellschaft mit Freiheit;
- STAAT — Gesetze, Regeln… (RU), sowie ihre Macht über das individuelle Verhalten (RO), und das impliziert Gleichheit und ggf. auch Zwang.
Aufklärung und Säkularisierung haben im Okzident Gott und Staat getrennt: „Links” die persönlichen Überzeugungen und Religion, und das bedeutet: „Das ist meine Privatangelegenheit; das geht niemanden etwas an, hier hat mir keiner dreinzureden.” — „Rechts” das Öffentliche, Offizielle, Gesetze und Staat. Moderne Demokratien sind laizistisch: Der Staat hält sich aus den Religionen heraus und lässt sich seinerseits von den Religionsgruppen nicht dreinreden. Darum rebelliert bei einem modernen Europäer alles gegen die Vorstellung eines Gottesstaats: Er weiß, dass Gott und Staat wie Freiheit und Zwang unvereinbar sind, und dass sie deshalb strikt von einander zu trennen sind.
Die vier Seiten der Religion – individuelle Überzeugungen, individuelle religiöse Praxis, kollektive Überzeugungen, implizite Regeln, Tabus, und explizite Regeln / Gesetze / Politik / Staat / Grenzen – stehen ständig in Wechselwirkung.

Das Judentum hat seit jeher nicht nur eine religiöse (LU), sondern auch eine politisch-soziale Dimension (RU). Beide sind in der jüdisch-christlichen Bibel („Altes Testament“) nicht getrennt. Die religiösen Führer der Israeliten selbst waren sowohl religiöse als auch politische Führer und Feldherrn: von den Stammvätern Abraham, Isaak und Jakob über Moses und Josua, den Richter bis zu den Königen (Saul, David, Salomo) und den Propheten (als Verkündern des Willens Gottes). Sie haben ihre Religion im Namen Gottes mit dem Schwert verbreitet (politische Religion) und ihre Politik als Willen Gottes legitimiert (religiöse Politik). Das Konzept Israel ist seit jeher das des von Gott versprochenen „Gelobten Landes“. Politische Religion und religiöse Politik waren und sind für orthodoxe Juden, Muslime… untrennbar eins — umso mehr, je wörtlicher (je weniger historisch-kritisch) ihr Religionsverständnis ist. Der Zionismus ist eine logische Folge des orthodoxen Religionsverständnisses, da in diesem Denksystem schlechthin nichts dem Wirken Gottes entzogen werden darf, schon gar nicht die Politik. Von den mythischen Anfängen des Volkes Israel an erfolgte das politische Handeln — einschließlich der damit verbundenen Eroberungen und Genozide— in direktem Auftrag Gottes.
Man erkennt daraus: Je kompromissloser Religionen aufgefasst und gelebt werden, desto universalistischer sind sie, desto bedingungsloser verfolgen sie die Verschmelzung der linken und rechten Quadranten. Jeder Fundamentalismus verschmilzt, was in einer modernen Gesellschaft getrennt werden muss: Religion und Staat. Man sieht an diesem Punkt klar, dass der universalistische Anspruch des sekulären Rechtsstaats (strikte Trennung von Religion und Staat; bedingungsloses Primat des Rechtsstaats) unvereinbar ist mit dem universalistischen Anspruch einer Religion (untrennbare Einheit von Religion und Staat; bedingungsloses Primat des Auftrags Gottes).
JERUSALEM: DER TANZ UM DAS GOLDENE KALB
Jerusalem gilt Juden, Muslimen und Christen als „heilige Stadt“. Diese Zuschreibung konzentriert gleichsam in einem Brennpunkt die fatale Übertragung von etwas Sakralem, das persönlich-innerlich (LO) und gemeinsam (LU) als heilig empfunden wird auf das Äußere, Sinnliche, Materielle, Geographisch-Politische (RU). Diese Verschmelzung hat einen Namen: Götzendienst – der Tanz um das goldene Kalb.
Sie ist die Wurzel der Konflikte in Palästina, wie sie auch das Paradigma des Islamischen Staats ist. Das gilt ebenso für nicht-religiöse Ideologien (Nationalismus, Rassismus…), die ihre Überzeugungen und Werte auf ein Territorium übertragen und mit diesem in eins setzen („Blut und Boden“). Die gemeinsame Schnittmenge ist die Links-Rechts-Übertragung von Innen nach Außen: Cuius regio, eius religio (Rechtssatz des Augsburger Religionsfriedens 1555: „wessen Gebiet, dessen Religion“) — cuius regio, eius natio („wessen Gebiet, dessen Nation“; Zygmunt Bauman). Das Paradigma einer „heiligen Stadt“ entweiht, was es sakralisieren will. Es macht Jerusalem zur unheiligen Stadt (vgl. dazu Uri Avnery, den israelischen Journalisten, Bürgerrechtler, Friedensaktivisten und Träger des World Livelihood Award 2001).

Das Jerusalem-Problem stellt sich also bei tiefer gehender Betrachtung als eine Problematik heraus, die weit über Israel und das Judentum hinausgeht. An den Konflikten um Jerusalem wird eine menschheitliche Entwicklungs-Herausforderung des 21. Jahrhunderts sichtbar. Sie besteht darin, die Links-Rechts-Übertragung (als Gottes-Staat wie als National-Staat) als atavistischen Reflex zu durchschauen, der zu immer weiteren Konflikten, Gewalt und (Bürger)Kriegen führen muss.
EIN UNPARTEIISCHER LÖSUNGSANSATZ
Ein solcher Reflex ist als psychologisches Phänomen nicht von außen verifizierbar, geschweige denn beeinflussbar (er ist links oben „verortet“). Beeinflussbar ist hingegen das Verhalten der Menschen durch Strukturen und Gesetze. Es gibt nur eine Lösung für den Jerusalem-Konflikt im Speziellen und alle Konflikte durch Anwandlungen von Gottes-Staaten, (ethnisch, religiös, …) bzw. „gesäuberten“ National-Staaten im Allgemeinen: die konsequente Trennung von
- Links und Rechts,
- Innen und Außen,
- Religion/Nation und Territorialität,
- Geistesleben und Rechtsleben/Staat.
Werden diese beiden Groß-Systeme klar auseinandergehalten, dann können sie sich ihrem Wesen entsprechend selbst organisieren ohne mit einander in Konflikt zu geraten. Ihrem Wesen entsprechend heißt:
- Alles, was die persönliche Identität der Menschen betrifft (Religion, Weltanschauung, Werthaltungen, Überzeugungen, sexuelle, kulturelle, nationale… Identität) muss jeder in FREIHEIT ausleben können (ohne die Freiheit der Anderen dadurch zu beeinträchtigen).
- Recht und Gesetz hingegen müssen für alle Menschen gleich gelten, egal welcher Religion, Weltanschauung, Nation… sie angehören, welche religiöse Identität sie sich zuschreiben. Im Rechtsleben muss GLEICHHEIT herrschen. Insbesondere darf kein geographisches Territorium von irgendeiner mehrheitlichen Gruppe aufgrund ihrer gemeinsamen Identität exklusiv beansprucht werden. Territorialität muss grundsätzlich inclusiv gesehen und behandelt werden.
Die konsequente gesellschaftliche Trennung von Geistes- und Rechtsleben stellt einen Paradigmenwechsel dar, der sich nicht nur auf Israel beschränkt. Diese Trennung ist entweder überall richtig und notwendig oder nirgends, also auch bei uns.
Was heißt das konkret am Beispiel Jerusalems?
- Jerusalem (Israel) muss allen Religionsgemeinschaften ihre religiöse Praxis ungehindert ermöglichen. Wenn ein friedliches Zusammenleben aller Religionen angestrebt wird, muss jede Religionsausübung dort uneingeschränkt möglich sein. Die Freiheit der jeweils Andersgläubigen ist hier oberstes Gebot. (Und um über den Augenblick hinauszuschauen: "Toleranz sollte eigentlich nur eine vorübergehende Gesinnung sein: sie muß zur Anerkennung führen. Dulden heißt beleidigen", wusste schon Goethe. Je mehr die Toleranz zur Akzeptanz und zur Bejahung wird, desto geringer wird das Konfliktpotential.)
- Was das Territorium Israel oder Jerusalem betrifft, so müssen alle dort lebenden Menschen, ohne Ansehen ihrer Volks- und Religionszugehörigkeit die gleichen Rechte und Pflichten haben, die sie gleichberechtigt gemeinsam diskutieren, klären und beschließen. Je exclusiver die Territorialität gehandhabt wird, desto größer werden die Konflikte werden, je inclusiver, desto mehr wird dem Feuer die Nahrung entzogen.
Wer die Politik der letzten Jahrzehnte in diesem Licht betrachtet wird feststellen: Alle Konflikteskalationen seit der Gründung Israels wurden dadurch ausgelöst, dass diesen beiden Prinzipien zuwidergehandelt wurde (vgl.o. Avnery!). Dasselbe gilt für die gesellschaftlichen Konflikte anderswo; man vergleiche etwa Jugoslawien, die Ukraine, Bergkarabach… – bis zu der Frage des Islam in Europa (vgl. mein diesbezügliches Essay), Kopftuchverbot (ebenso; Verweise nachträglich ergänzt) etc. etc.
Das bedeutet für die Gegenwart und Zukunft: Alle Entscheidungen, die diesen beiden Prinzipien widersprechen werden – in Israel und überall sonst – zu Konflikten führen . Die heute angekündigte Intifada ist der neuerliche Beginn davon. Alle Entscheidungen, die diesen Prinzipien folgen werden die Lage entschärfen und zu einer friedlichen Koexistenz von Israelis und Palästinensern beitragen.
Ein großer Teil dieses Texts stammt aus FGB; ich habe nur überall Islam durch Judentum usw. ersetzt und den Text entsprechend angepasst.
Ich möchte abschließend noch die Aufmerksamkeit darauf lenken, dass es äußerlich gesehen in diesem Beitrag zwar, äußerlich gesehen, um etwas ganz anderes geht als im letzten (Das Bildungswesen am Gängelband illiberaler Demokrat(i)en), dass aber das eigentliche Thema dasselbe ist: die notwendige Trennung von Geistesleben und Staat (und Wirtschaft, sei der Vollständigkeit halber ergänzt), sowie deren Selbstorganisation entsprechend ihrer jeweiligen „DNS“: FREIHEIT, GLEICHHEIT und BRÜDERLICHKEIT. Wäre FGB nur eine weitere ausgedachte Utopie, würde nicht alles sich aus diesem Konzept ergeben bzw. organisch wieder in dieses Konzept einmünden. Dieses Buch ist keine Theorie, sondern das Leben selbst.
[Diese in kürzeren Abständen erscheinenden Beiträge setzen sich mosaikartig zu einem neuen Gesamtgesellschaftsmodell zusammen. Sie sollen dessen organische Konsistenz und universelle Anwendbarkeit zeigen. Ihr eigentlicher Sinn und Zweck ist jedoch die Umsetzung dieses Modells – im Kleinen wie im Großen. Dafür müssen Sie weiter verbreitet werden. Vielen Dank im Voraus!]