KATALONIEN, SPANIEN: DIE GRUNDLEGENDE LÖSUNG DES KONFLIKTS

Mich wundert immer wieder, wie unterschiedlich nationale Unabhängigkeitsbewegungen beurteilt werden: Hier als ein legitimer, unterstützenswerter Impuls, dort als gefährliche Entwicklung zum Rechtsnationalismus. Offenbar herrscht eine große Begriffsverwirrung bzgl. "Nation", "Freiheit", "Identität", "Kultur"…. (Wer an der ausgezeichneten Analyse der Verhältnisse in Katalonien und ihrer Entwicklung von Birgit Aschmann interessiert ist, findet sie in der FAZ.)
Hilfreich dafür ist das Modell der 3 Ebenen der Organisationskultur, das Edgar H. Schein, einer der Begründer der Organisationspsychologie und der Organisationsentwicklung ausgearbeitet hat. Es gibt demnach in einer Organisation – in einer Gruppe, einem Netzwerk, einem Unternehmen… – drei Ebenen:
- Artefakte: wahrnehmbare Strukturen und Prozesse – Architektur, Sprache, Technologie, Produkte, Kunstwerke, Stil (Kleidung, Umgangsformen, emotionale Bezeugungen, Mythen und Geschichten über die Organisation, publizierte Werte-Listen, wahrnehmbare Rituale.
- Öffentliche Überzeugungen und Werte – was wird unter richtig / gut (falsch / schlecht) verstanden, was macht uns aus, was uns verbindet und zusammenhält (bzw. von den Anderen unterscheidet), was uns stützt und Sicherheit gibt; erwünschtes Verhalten (nicht immer deckungsgleich mit tatsächlichem Verhalten)
- Zugrundeliegende Annahmen – so „natürlich”, dass sie nicht mehr als Annahmen / Möglichkeiten wahrgenommen werden, sondern als Gegebenheiten. Bilder der Wirklichkeit gelten als die Wirklichkeit. Der verinnerlichte Orientierungsrahmen, anhand dessen die Gruppe denkt, empfindet und agiert; völlig selbstverständlich, d.h. wie in einer Gegend, in der man sich auskennt, ohne noch auf eine Landkarte sehen zu müssen.
An der Oberfläche sind, offen erkennbar, die Artefakte (1.). Sichtbar, aber doch auch nicht sind die öffentlichen Überzeugungen und Werte (2.). Gänzlich unsichtbar, da aus den tieferen, verborgenen Schichten kommend sind die Grundannahmen (3.).
Wenn ich diese drei Ebenen den vier Quadranten zuordne, sind die Artefakte im Außen und wahrnehmbar, also rechts, während alle Formen von Überzeugungen und Annahmen links einzuordnen sind:

Oft lassen Artefakte gewisse Rückschlüsse auf die Organisationskultur zu – ein Hochhaus sagt etwas anderes aus als ein Passivenergiehaus, Beton, Chrom und Glas etwas anderes als Holz… Es ist aber letztlich unmöglich, die inneren (linksseitigen) Aspekte der Organisationskultur eindeutig aus dem Äußeren (rechts) zu erschließen. Es ist eine Frage von Einfühlungsvermögen, Intuition… Ihre tieferen Schichten sind verborgen und den Mitgliedern der Organisation zum Teil gar nicht bewusst, so sehr sind sie ihnen in Fleisch und Blut übergegangen. Erst wenn jemand gegen die gemeinsamen Grundannahmen verstößt, zeigen die Reaktionen, dass solche durchaus vorhanden und überaus wirksam sind.
Ähnlich kann man auch den Unterschied zwischen Staat und Nation (Volk) beschreiben. Der Staat, das sind die sichtbaren, spürbaren Artefakte der Gesellschaft: Strukturen, Verfassung, Gesetze, Territorium und damit auch Grenzen (RU). Die Nation (oder die Ethnie / das Volk; ich verwende diese Begriffe synonym) ist dasjenige, was die Menschen, die sich aufgrund einer gemeinsamen Sprache, Geschichte, Kultur, Religion… als Gemeinschaft empfinden: als Wir (LU). Es ist auch das Wir-Gefühl von Menschen aus der gleichen Lebensumgebung, in der sie verwurzelt sind – ihrem Dorf, ihrer Region, ihrem Stadtviertel. Heimat ist, wo dieses Wir-Gefühl ein regionales Spiegelbild hat. Regional, nicht national. Darum betonen Ulrike Guérot und Robert Menasse ganz richtig, dass die Nation eine Fiktion sei und nur die Region real. Man kann nicht in einem Gebiet von 1000 mal 800 Kilometern verwurzelt sein, nur in seiner überschaubaren, vertrauten Umgebung. So lange nicht durch „Bedrohungen” von außen eine überregionale Solidarisierung stattfindet, empfinden sich die Menschen mehr als Berchtesgadener denn als Bayern, und mehr als Bayern denn als Deutsche (von „Europäertum” ganz zu schweigen).
Jene Sprach- und Kulturgemeinschaft lebt im „Normalfall” innerhalb eines gemeinsamen Staatsgebiets. Die Zeitläufte haben aber dazu geführt, dass eine Reihe von nationalen Minderheiten auf dem Territorium eines anderen Staates leben (Slowenen in Kärnten, Basken und Katalanen in Spanien, Kurden in der Türkei, Palästinenser in Israel…). Das führt zu der bereits erläuterten Inhomogenität durch unterschiedliche Gruppenidentitäten.

Nationen sind also keineswegs nur „imagined communities”, wie der Soziologe Benedict Anderson sie in seinem gleichnamigen Standardwerk nennt. Das Zusammengehörigkeitsgefühl ist nicht bloß „imaginiert”, sondern höchst real. Nationen sind eine kollektive Identität, die in sprachlichen, religiösen, kulturellen… Gemeinsamkeiten wurzelt. Es besteht hier eine ständige Wechselbeziehung: Aus einer gemeinsamen Identität entstehen bestimmte typische Artefakte, die ihrerseits wieder die gemeinsame Identität bekräftigen und stabilisieren. Da es sich um eine gefühlte Gemeinschaft handelt, ist sie nicht scharf zu bestimmen und abzugrenzen. Vielmehr überlagern sich wie bei einem Aquarell sogar viele Schichten von individuellen und kollektiven Identitäten von denen nur ein kleiner Teil etwas mit der Nationalität zu tun hat: Geschlecht, Ethnie, Religion, Weltanschauung… Manche Identitäten überschreiten sogar die (eben gar nicht vorhandenen) „Grenzen” der Nationalität; so empfindet ein bayerischer Bauer mehr Gemeinsamkeiten mit einem Salzburger Bauern als mit einem Münchner Hipster; so empfinden viele Großstädter sich mehr als Europäer oder Weltbürger denn als Spanier, Norweger, Italiener… Worin sich zeigt, dass das Wir eben auf viele Ichs zurückgeht. Nationen setzen Individuen voraus, aber nicht umgekehrt.
Wenngleich sich die Menschen Artefakte bis hin zu einem Staatsgebilde schaffen, die ihre Gemeinsamkeiten ausdrücken, dürfen Nation und Staat nicht in eins gesetzt oder verwechselt werden. Die Nation ist ein Überbegriff für gefühlte Gemeinsamkeiten im Gebiet Sprache und Kultur. Diese Gemeinsamkeit haben eine emotionale, subjektive Realität, keine objektive, äußere. Für das Gemeinschaftsgefühl existiert im Außen kein Korrelat, das „Nation” heißt. „Dort”, im Außen gibt es den Staat, nicht aber eine Nation. Redet man sich ein, dass die Nation objektiv existiert, erfindet man eine Fiktion, von der man sich einbildet, sie als Tatsache zu finden. Es ist eine selbsterfüllende Prophezeiung.
Diese Unterscheidung bedeutet keinerlei Bewertung. Sie will nur klarstellen: Eine objektive, äußere Realität (RU) hat nur der Staat mit seinen Strukturen, Einrichtungen und den dort tätigen Menschen, nicht die Nation. Diese ist eine subjektive, innere Realität für viele Menschen; etwas, das sie aufgrund einer Reihe von Gemeinsamkeiten miteinander in einem Gemeinschaftsgefühl verbindet [LU]. Doch um präzis zu sein: Das Gemeinschaftsgefühl ist auch stets ein individuelles, von Subjekten empfundenes. Eine abstrakte Gruppe kann nicht fühlen, nur reale Menschen. Sie können durch Kommunikation feststellen, dass sie dasselbe empfinden. Der „Entstehungsort” und „Schauplatz” des Wir-Gefühls ist aber stets das Ich (LO).
Darum ist es so gefährlich, wenn Nationalisten an subjektive Gefühle wie Stolz, Ehre, Würde… appellieren und diese als kollektive ausgeben: Kaum etwas schafft eine größere nationalistische Soldarisierung als zu verkünden, X habe „den Stolz, die Ehre, die Würde… unserer großen Nation” verletzt. Nur Individuen können auf etwas stolz sein, Ehrgefühle und Würde empfinden, nicht Kollektive! Vielmehr wird das emotionale Kollektiv durch eine solche Demagogie überhaupt erst geschaffen: Die nationalistischen Scharfmacher appellieren an etwas, was sie durch diesen Appell erst ins Leben rufen. Sie schaffen aus Individuen eine Masse, die ihrer eigenen Gruppendynamik folgt. Als Masse sind die Menschen viel leichter manipulierbar, fanatisierbar und i.d.F. zu Dingen imstande, die sie als Individuen niemals tun würden.
Der Nationalismus besteht auf einer Gleichsetzung von Nation und Staat, von einem gefühlten Wir und einem Territorium.
Viele Menschen fühlen sich in ihrer (regionalen) Heimat verwurzelt; diese ist das territoriale Korrelat zum psychologischen Wir, nicht die Nation. Diese Unterscheidung ist keine bloße begriffliche Haarspalterei, sondern entscheidend für das Verständnis des Nationalismus. Denn zwischen einem natürlichen Gemeinschafts- und Heimatgefühl und dem Nationalismus gibt es eine subtile Grenze. Sie liegt im obigen Diagramm auf der Trennlinie zwischen Nation (LU) und Staat (RU). Der Nationalismus besteht auf einer Gleichsetzung von Nation und Staat, von einem gefühlten Wir und einem Territorium. Demnach sollen in einem bestimmten Staat nur Menschen leben dürfen, die dem Wir angehören – die "zu uns gehören". Der Nationalismus strebt also danach, eine weitestgehende identitäre Homogenität herzustellen – gleiche Sprache, gleiche Ethnie, gleiche Sitten, gleiche Gebräuche, gleiche Religion, gleiche Moral… – und grenzt gleichzeitig Minderheiten aus, die dem nicht entsprechen.
Sobald das nationale Gemeinschaftsgefühl (LU) Territorium und Staat (RU) vereinnahmt, wird es totalitär. Es wird zu Nationalismus (bzw. im geographisch kleineren Rahmen zu Regionalismus. Dass dieser nicht weniger militant und gewalttätig sein muss wie der Nationalismus, haben zahlreiche separatistische Bewegungen unter Beweis gestellt).
Die erste solche Synthese von gemeinsamer Identität und Territorium geht auf den Augsburger Reichs- und Religionsfrieden 1555 zurück. Dort wurden die Konflikte zwischen Katholiken und Protestanten (vorübergehend) durch die Formel cuius regio, eius religio beigelegt – Wessen Reich, dessen Religion. Der jeweilige Landesfürst bestimmte die Religion seiner Untertanen. Territorium = Identität. Was nicht passt, wird passend gemacht: Die Bürger mussten konvertieren oder auswandern. So konnten die Religionskonflikte freilich nicht beigelegt werden. Im Gegenteil; sie entluden sich 1618 im dreißigjährigen Krieg, der die Bevölkerung Europas um ein Drittel dezimierte, in manchen Gegenden um drei Viertel. – Zu Beginn des 19. Jahrhunderts setzten überall in Europa nationale Mythenbildungen und nationalistische Bestrebungen ein, die sich durch ein Wir definierten: durch eine gemeinsame Sprache und Kultur: Eine Sprache – eine Nation – ein Staat. Das Konzept des Nationalstaats war geboren, das Amalgam von Territorium und Ethnie. Jedem Volk sein Territorium. Gruppen gemeinsamer Ethnie, Sprache, Kultur… waren aufgerufen, sich von den Anderen abzugrenzen. Innerhalb dieser Grenzen: das Gemeinsame und Vertraute; innerhalb sind wir. Draußen: sie, die Fremden, und dort sollen sie auch bleiben. Dazu das Postulat, dieses gefühlte Wir habe nicht nur das Recht, sondern geradezu die Pflicht, ein Territorium exklusiv zu beanspruchen: den Nationalstaat. Cuius regio, eius religio wurde zu cuius regio, eius natio (Bauman, S.63). – Mehr dazu weiter unten). Es ist der säkuläre Wiedergänger der religiösen In-eins-Setzung von Geistesleben (LU) und Territorium (RU) des Augsburger Religionsfriedens: cuius regio, eius religio.
Weil sie sich sowohl die religiöse als auch die säkuläre Ausformung dieses Amalgams als Wir gegen sie definieren, also durch Ausgrenzung, sind sie beide autoritär. Die Bruchlinie zwischen uns und den Anderen entsteht durch die Ab- und Ausgrenzung überhaupt erst. Feindbilder sind im Nationalismus zur Selbstdefinition des Wir unverzichtbar. Samuel P. Huntington zitiert zur Illustration den nationalistischen venezianischen Demagogen aus dem Roman Roman Dead Lagoon von Michael Dibdins:
„ ‚Ohne wahre Feinde keine wahren Freunde! Wenn wir nicht hassen, was wir nicht sind, können wir nicht lieben, was wir sind. Das sind die alten Wahrheiten, die wir heute, nach dem sentimentalen Gesülze von hundert Jahren, unter Schmerzen wieder entdecken. Wer diese Wahrheiten leugnet, der verleugnet seine Familie, sein Erbe, seine Kultur, sein Geburtsrecht, sein ganzes Ich! Das wird ihm nicht so leicht vergessen.’ ”
Huntington schließt daraus: „Für Menschen, die ihre Identität suchen und ihre Ethnizität neu erfinden, sind Feinde unabdingbar, und die potentiell gefährlichsten Feindschaften begegnen uns an den Bruchlinien zwischen den großen Kulturen der Welt” (Huntington, S.18). Für Nationalisten gibt es kein Wir ohne die, keinen Freund ohne Feind. Je mehr das Wir sich idealisiert, desto mehr wird der Feind dämonisiert.
Staatsgrenzen dürfen keine Kulturgrenzen sein
So lange Menschen verschiedenster Herkunft, Sprachen, Kulturen, Religionen… diese frei ausleben können, und wenn sie alle die gleichen Rechte und Chancen haben, gibt es nichts Trennendes zwischen ihnen. Jeder kann nach seiner Façon selig werden. Dieses friedliche, tolerante, bunte Durcheinander gerät umso mehr in den Sog einer Konflikteskalation, je schärfer sich Wir-Gruppen abgrenzen. Die gemeinsame „Nation” ist eine Fiktion, die überhaupt erst durch den Nationalismus geschaffen wird. Also ist der Nationalismus, um diese Fiktion aufrecht zu erhalten gezwungen, die Wir-Faktoren weiter zu forcieren – gemeinsame Sprache, Ethnie, Religion, Bräuche, Sitten, Traditionen… – und alles zurückzuweisen und wenn möglich zu unterdrücken, was anders ist als wir. Sowohl die ständige Radikalisierung als auch die Intoleranz gegen das Nicht-Wir sind somit keine "unerwünschten Nebenwirkungen" des Nationalismus, sondern sein Wesen. Deshalb ist die letzte Konsequenz seiner inneren Logik stets Gewalt.
So lange nicht durchschaut wird, dass Staatsgrenzen keine Sprach- und Kulturgrenzen sein dürfen, und so lange diese Einsicht nicht in einer klaren Trennung von Rechts- und Geistesleben zementiert wird, so lange wird der Nationalismus immer wieder aufflammen. Was sich beim Nationalismus als fatal erwiesen hat – das Amalgam von Nation und Staat, Geistes- und Rechtsleben – umreißt zugleich ex negativo die Lösung: Je mehr das Geistesleben (das sprachliche, kulturelle, religiöse, ethnische… Ich und Wir) losgelöst und unabhängig wird vom Staat, desto weniger kann ein Nationalismus entstehen, und wenn er noch vereinzelt entsteht, desto weniger Möglichkeiten hat er, politisch relevant zu werden. Je weniger der Staat überhaupt die Möglichkeit hat, Wir-Gruppen auszugrenzen und zu diskriminieren, und je weniger er selbst die Materialisierung irgendeiner Wir-Gruppe (kollektiven Identität) ist, desto weniger Konfliktpotential gibt es. Je gleichberechtigter und freier „Nationalitäten” sich entfalten können, desto weniger entstehen diese überhaupt erst und desto mehr bleiben sie Wir-Gruppen, die sich gegenseitig nicht stören. Und je weiter diese Entwicklung geht, desto irrelevanter werden Staatsgrenzen. Hierin liegt die echte Lösung der Nationalitätenkonflikte und auch des Europa-Dilemmas. Nicht ein europäischer Staat ist zu bilden aufgrund einer europäischen Identität – ein neues, diesmal supranationales Amalgam aus Territorium und imaginiertem Wir. Je mehr die Individuen befreit werden, d.h. je mehr jeder seine ethnische, sprachliche, kulturelle, sexuelle… Identität leben kann, desto mehr werden die Nationalitäten befreit; je mehr die Nationalitäten befreit werden, desto weniger müssen sie sich ideell und territorial abgrenzen; je weniger Abgrenzung, desto weniger Regionalismus und Nationalismus und desto mehr Europa – egal wie vergangene Kriege irgendwann die Grenzen gezogen haben.
Die Lösung für Katalonien und Spanien
Das ist auch die Lösung für den latenten Konflikt zwischen Katalonien und Spanien. Staatsgrenzen dürfen keine Kulturgrenzen sein. Je freie die Kultur in Katalonien sich entfalten kann, desto weniger werden separatistische Forderungen Gehör finden. Die politischen Grenzen werden im selben Maße bedeutungslos als die Bürger sich geistig frei entfalten können. Alles Staatlich-Politische ist aus sich heraus im wörtlichen Sinn konservativ; es will den Status quo erhalten, also auch sein Territorium und dessen Grenzen. Darum führt es zwangsläufig zu gesellschaftlichen Erschütterungen, wenn diese Grenzen verändert werden sollen. Man provoziert damit völlig unnötige Konflikte. Man braucht sich nur an den österreichisch-ungarischen Vielvölkerstaat zu erinnern: Der Funke eines nationalistischen Attentats reichte, um ihn in seine kulturellen Einzelteile auseinanderzusprengen. Die Gleichestzung von Staats- und Sprachgebiet hatte katastrophale Folgen für die ganze Welt. Das hätte vermieden werden können, wenn das Reich – bei gleichbleibenden Staatsgrenzen – in seine drei Einzelsysteme aufgelöst worden wäre: in das geistige, in das politische und in das wirtschaftliche Leben, die jeweils nach ihren eigenen Gesetzmäßigkeiten funktionieren können.
Ebenso kann in Katalonien weiteren Konflikten im Ansatz vorgebeugt werden, wenn das Staatlich-Politische (RU) und das Kulturelle (LU) bis in die Strukturen getrennt wird. Je mehr ersteres nach dem Gleichheitsprinzip eingerichtet wird und letzteres nach dem Freiheitsprinzip, und je mehr beide sich als getrennte gemäß ihrer jeweiligen "sozialen DNS" entwickeln können, desto friedlicher wird ihre Koexistenz sein.
Wenn also ein großer Teil der Spanier heute die "staatliche Einheit" zu wahren versucht und ein großer Teil der Katalanen unabhängig sein will, so ist das kein Widerspruch. Denn die staatliche Einheit kann gewahrt bleiben wenn die Menschen 1. ihre Freiheit in allem Kulturellen entfalten können: In ihrer Regionalsprache, in politisch absolut unabhängigen Schulen – sowohl von der spanischen wie von der katalanischen Regierung –, im Religiösen (Katholizismus, Agnostizismus, Atheismus… dürfen frei nebeneinander existieren), und so weiter und so fort. Und wenn die Menschen 2. Gleichheit in allem Rechtlichen genießen, egal, welcher Kultur-, Traditions-, Sprach…gemeinschaft sie angehören.
Diese systemische und grundlegende Lösung fordert freilich von beiden Seiten ein großes Umdenken. Aber mit den bisherigen Denkgewohnheiten wird man nirgendwo anders hinkommen als dahin, wohin sie bisher geführt haben. Immer das Gleiche zu tun, aber andere Ergebnisse zu erwarten…
Zitierte Literatur:
Zygmunt Bauman, Retrotopia, Frankfurt (Suhrkamp) 2017.
Samuel P. Huntington, Der Kampf der Kulturen / The Clash of Civilizations. Die Neugestaltung der Weltpolitik im 21. Jahrhundert, München/Wien (Europa-Verlag) 1996
Dies ist ein überarbeitetes Kapitel aus FGB.