KEIME DER SOZIALEN ERNEUERUNG

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Von ein paar einsamen Rufern in der Wüste abgesehen, ist es Konsens: Die Maschinen werden in ihren Fähigkeiten (und oft sogar in ihrem Design!) immer menschenähnlicher, während die Menschen sich immer mehr mechanisieren. Sie passen nicht die Maschinen an sich an, sondern sich an die Maschinen. Das Leben orientiert sich am Mechanischen, am Toten. Wenn Roboter in wenigen Jahren Millionen Jobs überflüssig machen, dann ist das halt so. Dann kann man nicht etwa daran etwas ändern; dann muss man sich darauf einstellen und das Beste draus machen.

Beim World Economic Forum in Davos hat gestern Jack Ma, Vorstandsvorsitzender der Alibaba Group, dem größten Unternehmen Chinas mit 50.000 Mitarbeitern, dieses Thema in seinem Referat angesprochen:

„Bildung ist die große Herausforderung. Wenn wir nicht die Art, wie wir unterrichten ändern, dann haben wir in 30 Jahren große Probleme. Denn die Art, wie wir lehren, die Dinge, die wir unseren Kindern beibringen, sie stammen aus den letzten 200 Jahren. Sie sind Wissens-basiert. Wir können unseren Kindern nicht beibringen, mit Maschinen zu konkurrieren, die schlauer sind. Wir müssen ihnen etwas Einzigartiges beibringen, worin diese Maschinen niemals zu uns aufschließen werden können. So werden unsere Kinder in 30 Jahren eine Chance haben.

Werte – Glauben – Unabhängiges Denken – Teamwork – sich um andere zu kümmern: diese sind der „weiche Teil“. Wissen wird dir das nicht beibringen. Darum sollten wir unseren Kindern Sport beibringen, Musik, Malen, Kunst. So stellen wir sicher, dass Menschen anders sind. Alles, was wir lehren, sollte sich von Maschinen unterscheiden. Wenn es Maschinen besser können, müssen wir darüber nachdenken.“

Da lacht natürlich das Herz eines Ex-Waldorflehrers wie mir. Endlich jemand, der vor einem Millionenpublikum laut und deutlich ausspricht, dass das bloße Eintrichtern von Wissen ein Holzweg ist. Dass das Eigentlich-Menschliche auch das Eigentlich-Pädagogische ist.

[„Nürnberger Trichter“]

Was mögen von solchen Forderungen wohl die allmächtigen Parteibonzen der weltgrößten Diktatur denken, in die Ma demnächst wieder zurückkehren wird? Sicher nicht, dass er ein Undercover-Agent der Waldorfschulen ist. Vielleicht, dass ihm als ehemaligem Englischlehrer der pädagogische Schimmel durchgegangen ist. Es wird ihnen aber aus einem einfachen Grund völlig gleichgültig sein: Auch wenn Ma hier auf pädagogische Imperative hingewiesen hat, die 100%ig aus den pädagogischen Bedürfnissen der Heranwachsenden abzulesen sind, so impliziert diese vermeintliche pädagogische Revolution doch, dass die technologische Entwicklung einschließlich ihrer sozialen Konsequenzen unvermeidlich und unabwendbar, ja: unbeeinflussbar ist. Man mag Ma also zugutehalten, dass sich hier ein echtes Pädagogenherz ausspricht. Aber was er fordert, fordert er nicht weil es gut ist für die Kinder. Er spricht wie jemand, der zu retten versucht, was angesichts einer Armee von übermächtigen, übermenschlichen Automaten noch zu retten ist. Er akzeptiert diese Entwicklung, und indem er sich nach ihr wie nach einem Naturgesetz richtet, legitimiert und fördert er sie. Sodass mir das obige Lachen im Halse stecken bleibt. Denn ich erlebe mich in einem moralischen Zwiespalt:

Ich kann einerseits Mas Forderungen aus pädagogischer Sicht nur voll und ganz unterstützen. Aber dabei will er implizit die Kinder mit Kompetenzen ausgestattet wissen, welche die Maschinen nicht haben. Das degradiert den Menschen zu einem Lückenbüßer im Reich der Maschinen. Es macht die Heranwachsenden kompatibel mit einem System, das Mensch und Welt zugrunderichtet. Die Kinder auf dieses System zuzurichten ist ein pädagogisches Verbrechen. Zudem wird damit die Übermacht des Maschinenreichs akzeptiert, legitimiert und festgeschrieben. Insofern kann sich Ma ruhig mit derlei verwegenen pädagogischen Forderungen aus dem Fenster lehnen: Er ist faktisch, von der Wirkung seiner Forderungen her ein aktiver Systemerhalter. Er schmiert die Maschinerie im Allgemeinen und den chinesischen Staatskapitalismus im Besonderen.

Doch auch der Umkehrschluss wäre sowohl pädagogischer wie auch sozialer Unsinn: die Kinder so zu erziehen, dass sie nicht mit der Welt, wie sie ist zurechtkommen. – Es ist ein Bilderbuch-Dilemma.

Mas Prognose, dass unser überlebtes Uralt-Bildungswesen an der technologischen Entwicklung scheitern wird ist sicher zutreffend. Doch sie ist zugleich eine unausgesprochene Bankrotterklärung: So sehr diese Entwicklung den Menschen auch schaden mag: sie ist nicht in Frage zu stellen, und niemand kann sie beeinflussen. Systemzwänge eben. Da muss man sich fügen; da kann man nur das Beste draus machen.

Zugegeben, ein Bildungswesen, aus dem man ohne die geringste „Ahnung von Steuern, Miete und Versicherungen“ hervorgeht ist wohl lebensfremd zu nennen.

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DER TEUFELSKREIS DER STAGNATION

Aber das eigentliche Problem mit dem Bildungswesen ist nicht, dass es — wie laufend von Wirtschaftslobbyisten genörgelt wird — zu wenig auf „das Leben“ vorbereitet, d.h. auf die Erfordernisse der Marktwirtschaft (weshalb die doch endlich im Kindergarten Programmieren unterrichten sollten, Herrgott nochmal!). Das eigentliche Problem ist, dass die „Industrie 4.0“, die Mechanisierung, Digitalisierung… zwar menschenfeindlich sind, dass aber der Gesellschaft und der Wirtschaft ständig Menschen zugeführt werden, die nichts in Frage stellen sondern bloß versuchen, sich noch reibungsloser in diese Maschinerie einzupassen. Zugeführt von einem Bildungswesen, das sich eben nicht an den Menschen, sondern am Status quo orientiert. Wodurch der Teufelskreis der Stagnation geschlossen wäre.

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Die Gesellschaft orientiert sich am politisch-ökonomischen Status quo weil die Menschen nie zum freien, kritischen Denken angehalten wurden, nie dazu erzogen wurden, auf ihre innere Stimme zu hören, auf ihre Gefühle, nie ermutigt wurden, sich gegen den Lauf der Dinge zu stellen… Damit bestätigt und legitimiert das Bildungswesen die herrschenden Verhältnisse — und schreibt sie fort. Politik und Wirtschaft wiederum prägen ihre Werte und Ziele dem Bildungssystem auf, das fest in ihrer Hand ist. Die staatlich oktroyierten Bildungsziele sind a priori systemkonform und systemerhaltend, und alle staatlichen Bildungs„reformen“ zielen nur darauf, die Heranwachsenden noch systemkonformer zu machen. Die von einem solchen Bildungssystem geprägten jungen Leute wollen mehrheitlich im Leben nicht viel anderes erreichen als in dieser Welt Erfolg zu haben; sie wollen sie nicht verändern / verbessern. Später gelangen sie in Positionen, wo sie dank ihres Einflusses selbst nun Andere nötigen, systemkonform und systemerhaltend zu funktionieren. Und die einzige Instanz, die die Gesellschaft aus diesem Teufelskreis herausreißen und ihr Impulse zuführen könnte, die sie von innen erneuern: das Bildungssystem ist selbst vom politisch-wirtschaftlichen System abhängig, geprägt und auf Systemkonformität getrimmt.

Die drohende Katastrophe besteht somit nicht darin, dass in ein paar Jahrzehnten die Heranwachsenden in einer vollkommen mechanisierten, automatisierten, digitalisierten Welt nicht zurechtkommen bzw. diese Welt nicht mit ihnen. Die Katastrophe ist, dass das Bildungswesen nicht systemisch darauf ausgelegt ist, Menschen hervorzubringen, die daran etwas ändern wollten, geschweige denn könnten. (Wenn dennoch immer mehr junge Menschen das versuchen, dann nicht wegen, sondern trotz der Schulen, die sie durchlaufen haben. Weil es sowohl Unterrichtende als auch Heranwachsende gibt, die trotz alledem nicht systemkonform funktionieren wollen.)

DER KREISLAUF DER ERNEUERUNG

Aus diesem Teufelskreis der Stagnation kann sich keine Veränderung ergeben. Er ist selbsterhaltend und selbst-reproduzierend. Deshalb muss er durchbrochen werden. Das Bildungswesen muss radikal von allen politisch-ökonomischen Einflüssen befreit werden. Erst wenn es absolut autonom ist, wenn die Unterrichtenden pädagogisch nur noch den Entwicklungsbedürfnissen der Kinder verantwortlich sind: erst dann werden aus ihnen Menschen hervorgehen, die den Status quo nicht mehr für das Maß aller Dinge halten, die gesellschaftliche Entwicklungen in Frage stellen, die ins Schwungrad der Zeit eingreifen. Nur so wird wirklich Neues in die Gesellschaft kommen, nur wenn sich die Menschen nicht mehr nach den Verhältnissen richten, sondern die Verhältnisse verändern.

Und als Ex-Klassenlehrer erlaube ich mir, mit einem programmatischen Zitat Rudolf Steiners zu schließen, das mich seit 35 Jahren begleitet:

„Worauf es der Gegenwart ankommen muß, das ist, die Schule ganz in einem freien Geistesleben zu verankern. Was gelehrt und erzogen werden soll, das soll nur aus der Erkenntnis des werdenden Menschen und seiner individuellen Anlagen entnommen sein. Wahrhaftige Anthropologie soll die Grundlage der Erziehung und des Unterrichtes sein. Nicht gefragt soll werden: Was braucht der Mensch zu wissen und zu können für die soziale Ordnung, die besteht; sondern: Was ist im Menschen veranlagt und was kann in ihm entwickelt werden? Dann wird es möglich sein, der sozialen Ordnung immer neue Kräfte aus der heranwachsenden Generation zuzuführen. Dann wird in dieser Ordnung immer das leben, was die in sie eintretenden Vollmenschen aus ihr machen; nicht aber wird aus der heranwachsenden Generation das gemacht werden, was die bestehende soziale Organisation aus ihr machen will.

(„Freie Schule und Dreigliederung“, 1919. Wer wissen möchte, wie der Essay weitergeht, findet die die Fortsetzung unten im Anhang.)

Durch eine solche Befreiung des Geisteslebens, insbesondere des Bildungswesens wird der Teufelskreis der Stagnation durch einen Kreislauf der Erneuerung abgelöst:

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Eine Gesellschaft, die ihre Kinder und Jugendlichen Schulen anvertraut, die ihr Bildungsziel nicht in Kompatibilität mit dem Status quo und seiner Fortschreibung sehen, sondern in der vollen Entfaltung des Potentials der Heranwachsenden: so eine Gesellschaft verjüngt, erneuert und befruchtet sich kontinuierlich selbst. Sie pflanzt in sich Zukunftskeime. Dafür müssen die Schulen Teil eines freien Geisteslebens sein; dafür müssen die Unterrichtenden in Einrichtungen ausgebildet werden, die sich ihrerseits der Potentialentfaltung verschrieben haben. Damit ist in keiner Weise präjudiziert, welche die Bildungsziele sein sollen. Das wird sich an freien Schulen im Spannungsfeld zwischen den pädagogischen Bedürfnissen der Heranwachsenden und den Lebenserfordernissen des 21. Jahrhunderts von selbst entwickeln. Nicht nur durch Erfolge; dabei werden auch Unterrichtende (und ganze Schulen!) Rückschläge hinnehmen müssen, und manche werden daran scheitern. Alles hat seinen Preis, insbesondere die Freiheit. Aber je länger wir zuwarten, sie zu verwirklichen, je länger wir die Heranwachsenden auf Systemkonformität trainieren, desto länger werden sie dieses System reproduzieren, das dabei ist, uns zu vernichten. Wir haben die Wahl. Noch.

[Diese in kürzeren Abständen erscheinenden Beiträge setzen sich mosaikartig zu einem neuen Gesamtgesellschaftsmodell zusammen. Sie sollen dessen organische Schlüssigkeit und universelle Anwendbarkeit zeigen. Ihr eigentlicher Sinn und Zweck ist jedoch die Umsetzung dieses Modells – im Kleinen wie im Großen. Dafür müssen Sie weiter verbreitet werden. Vielen Dank dafür im Voraus!]

Anhang / Fortsetzung des oben zitierten Essays:

„Ein gesundes Verhältnis zwischen Schule und sozialer Organisation besteht nur, wenn der letzteren immer die in ungehemmter Entwickelung herangebildeten neuen individuellen Menschheitsanlagen zugeführt werden. Das kann nur geschehen, wenn die Schule und das Erziehungswesen innerhalb des sozialen Organismus auf den Boden ihrer Selbstverwaltung gestellt werden. Das Staats- und Wirtschaftsleben sollen die von dem selbständigen Geistesleben herangebildeten Menschen empfangen; nicht aber sollen sie, nach ihren Bedürfnissen, deren Bildungsgang vorschreiben können. Was ein Mensch in einem bestimmten Lebensalter wissen und können soll, das muß sich aus der Menschennatur heraus ergeben. Staat und Wirtschaft werden sich so gestalten müssen, daß sie den Forderungen der Menschennatur entsprechen. Nicht der Staat oder das Wirtschaftsleben haben zu sagen: So brauchen wir den Menschen für ein bestimmtes Amt; also prüft uns die Menschen, die wir brauchen und sorgt zuerst dafür, daß sie wissen und können, was wir brauchen; sondern das geistige Glied des sozialen Organismus soll aus seiner Selbstverwaltung heraus die entsprechend begabten Menschen zu einem gewissen Grade der Ausbildung bringen, und Staat und Wirtschaft sollen sich gemäß den Ergebnissen der Arbeit im geistigen Gliede einrichten.

Da das Leben des Staates und der Wirtschaft nichts von der Menschennatur Abgesondertes sind, sondern das Ergebnis dieser Natur, so ist niemals zu befürchten, daß ein wirklich freies, auf sich selbst gestelltes Geistesleben wirklichkeitsfremde Menschen ausbildet. Dagegen entstehen solche lebensfremde Menschen gerade dann, wenn die bestehenden Staats- und Wirtschaftseinrichtungen das Erziehungs- und Schulwesen von sich aus regeln. Denn in Staat und Wirtschaft müssen die Gesichtspunkte innerhalb des Bestehenden, Gewordenen eingenommen werden. Zur Entwicklung des werdenden Menschen braucht man ganz andere Richtlinien des Denkens und Empfindens. Man kommt als Erzieher, als Unterrichtender nur zurecht, wenn man in einer freien, individuellen Weise dem zu Erziehenden, zu Unterrichtenden gegenübersteht. Man muß sich für die Richtlinien des Wirkens nur abhängig wissen von Erkenntnissen über die Menschennatur, über das Wesen der sozialen Ordnung und ähnliches, nicht aber von Vorschriften oder Gesetzen, die von außen gegeben werden. Will man ernstlich die bisherige Gesellschaftsordnung in eine solche nach sozialen Gesichtspunkten überleiten, so wird man nicht davor zurückschrecken dürfen, das geistige Leben – mit dem Erziehungs- und Schulwesen – in seine eigene Verwaltung zu stellen. Denn aus einem solchen selbständigen Gliede des sozialen Organismus werden Menschen hervorgehen mit Eifer und Lust zum Wirken im sozialen Organismus; aus einer vom Staat oder vom Wirtschaftsleben geregelten Schule können aber doch nur Menschen kommen, denen dieser Eifer und diese Lust fehlen, weil sie die Nachwirkung einer Herrschaft wie etwas Ertötendes empfinden, die nicht hätte über sie ausgeübt werden dürfen, bevor sie vollbewußte Mitbürger und Mitarbeiter dieses Staates und dieser Wirtschaft sind. Der werdende Mensch soll erwachsen durch die Kraft des von Staat und Wirtschaft unabhängigen Erziehers und Lehrers, der die individuellen Fähigkeiten frei entwickeln kann, weil die seinigen in Freiheit walten dürfen.“

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ZUR VERTEIDIGUNG DES RECHTSSTAATS

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Am 19. Februar 2025 haben sechs Bürgerrechtsorganisationen eine gemeinsame Erklärung zur anstehenden Bundestagswahl veröffentlicht: "Gegen die Angriffe auf den demokratischen Rechtsstaat!" Die dort geäußerten Sorgen um die Rechtsstaatlichkeit teile ich ohne Einschränkung: die Infragestellung der Grund-/Menschenrechte, martialische Law-and-Order-Forderungen, exekutiven Ungehorsam (also die Strategie, Gerichtsentscheide schlicht zu ignorieren)

By Hanspeter Rosenlechner