MÄRCHENSTUND’ HAT GOLD IM MUND

Gestern Nacht, als ich wieder Simone Weil las hat mich eine Stelle besonders berührt.
Weil hielt 1942 vielerlei Märchen und Mythen fest, um sie später für ihre Arbeiten zu verwenden. Darunter war auch das Märchens vom Riesen, der kein Herz im Leib hatte. (Das Motiv ist bekannt und auf der ganzen Welt verbreitet: Ein mächtiger, menschenfressender Riese ist unsterblich weil er sein Herz sehr weit weg versteckt hat, etwa in einem Ei, das im Bauch einer Ente ist, die im Bauch eines Fisches ist, der in einem See ist, den ein Drache bewacht o.ä. So lange das Ei intakt bleibt, kann dem Riesen nichts geschehen. Erst als die Prinzessin dem Riesen das Geheimnis entlockt, wo er sein Herz verborgen hat kann der Held das Ei finden, zerstören und den Riesen so töten.)
Wie zu jeder dieser volkskundlichen Erzählungen fügt sie auch ihre Deutung des Märchens hinzu:
Œuvres complètes vol. IV, t. 2: Écrits de Marseille
Diese knappe, trockene Interpretation ist zwar eigentlich nur ein Gedanken-Stenogramm. Aber Weil scheint mir damit voll ins Schwarze zu treffen.
Tagtäglich lese oder höre ich von mächtigen Menschen – da es meist Männer sind: mächtigen Männern –, die zu Dingen fähig sind, die ich selbst nicht übers Herz (!) brächte. Nie im Leben nicht. Ich erwähne exemplarisch nur ein paar von den großen Sauereien: Menschen in Afrika elend verdursten und verhungern zu lassen, Schweine und Rinder in gigantischen Zuchtbetrieben zu quälen, die Weltmeere mit Dreck und Müll zu ruinieren… Es gibt tagein, tagaus allerorts noch zahllose kleinere Sauereien, bei denen man sich fragt: Wie völlig moralisch verkommen muss man sein, um…? – aber sei's drum. Es geht ums Warum.
Dank ihrer Empathielosigkeit haben diese Herren eine unglaubliche Macht. Denn sie können ihre Ellbogen einsetzen und sich nach oben kämpfen, ohne das geringste schlechte Gewissen über die Leichen auf ihrem Weg zu bekommen. Sie kennen ihre Werte und Prioritäten, denn an die erinnern sie jeden Tag die Börsennachrichten. Es gehört eben ein dickes Fell dazu, auf Grundnahrungsmittel zu spekulieren und sich emotionslos vorzustellen, wie die Menschen in Afrika wegen diese Preisschwankungen verhungern. Oder vielmehr: es sich nicht vorzustellen weil es einem völlig gleichgültig ist. Aber nicht nur der übt Gewalt aus, der einen afrikanischen Bauern von seinem Acker vertreibt, sondern auch der Investor, der auf die Preisentwicklung seines Ernteertrags auf dem Finanzmarkt spekuliert. Der Begründer der Friedensforschung, Johan Galtung, hat drei Facetten der Gewalt aufgezeigt:
- Personale Gewalt, also wenn ein Mensch einem anderen direkt Gewalt antut (Drohungen, Raub, Körperverletzung, sexuelle Belästigung, Folter…)
- Strukturelle Gewalt, durch die Entscheidungsträger das Leben unzähliger Menschen maßgeblich beeinträchtigen können, ohne direkt mit ihnen in Kontakt zu kommen. Diese Gewalt kann bis zum Verdursten- und Verhungernlassen gehen, weshalb der Schweizer Soziologe Jean Ziegler die darauf basierenden Verhältnisse eine "kannibalische Weltordnung" nennt.
- Beide sind eingebettet in eine Kultur, die solche Gewalt nicht tabuisiert, sondern überhaupt ermöglicht und legitimiert. „Religion und Ideologie, […] Sprache und Kunst, Wissenschaft und Recht, Medien und Erziehung“ (Galtung) üben also eine kulturelle Gewalt aus. Die oben beispielhaft genannten Herren treffen ihre Entscheidungen in der Regel hoch oben in ihren Chefetagen, tausende Kilometer weit weg von deren Auswirkungen auf konkrete Menschen. Sie üben also vor allem strukturelle, anonyme Gewalt aus. Das erleichtert harte Entscheidungen ungemein. Sie sehen die Menschen und Tiere nicht leiden, sie hören sie nicht schreien, sie spüren ihre geschundenen Körper nicht, riechen den Gestank nicht, in dem sie leben müssen… Die Verringerung des Verantwortungsgefühls durch Distanzierung lässt sich bei jeder Form von Gewalt beobachten, wie Stanley Milgram 1961 in dem berühmt-berüchtigten, nach ihm benannten Experiment nachwies. Er konnte zeigen, dass die Mehrzahl der Menschen offensichtlich bereit waren, andere Menschen zu foltern, wenn sie keinen Kontakt mit diesen hatten und „wissenschaftliche Autoritäten“ sie dazu veranlassten.
daß die Bereitschaft zur Grausamkeit steigt, je größer die Distanz zum mutmaßlichen Opfer empfunden wird:
Je rationaler Handeln gesteuert und organisiert ist, desto leichter ist es, Leiden zu verursachenDialektik der Ordnung Darum sind jene Herren auch kühle Rationalisten, denn das heißt: sie haben ihr Herz irgendwo kaltgestellt. Distanz und Rationalität ergänzen und verstärken einander: je rationaler jemand agiert, desto distanzierter wird er dabei, und je distanzierter er wird, desto rationaler kann er agieren. Michael Ende hat diese "grauen Herren" in seinem Roman Momo literarisch verewigt. Jeder von ihnen weiß zur Genüge, welche Konsequenzen seine Entscheidungen für ihre Mitmenschen, für die Tiere, die Pflanzen und für die Erde als globales Ökosystem haben. Und trifft sie trotzdem. Trügen diese Menschen ihr Herz da, wo es hingehört wären sie zu so etwas nicht fähig. Aber sie haben es ausgelagert und gut verborgen. In die Familie etwa, wo sie am Wochenende liebevolle Familienväter sind. Oder in die Kunst, wo ihr Treiben tagsüber sie nicht daran hindert, abends bei Wagner vor Ergriffenheit feuchte Augen zu bekommen. Oder sie haben diesen lästigen, juckenden Teil von sich irgendwo dauerhaft entsorgt. Wie auch immer, sie haben einen Teil von sich abgespalten – den empfindenden, mitempfindenden. Der liegt irgendwo auf Eis, wo keiner ihn findet, nicht einmal sein Besitzer selbst. So fühlen sie sich mächtig und unverwundbar. Die Lebenswirklichkeit holt sie dennoch immer wieder ein, wie man etwa bei manchen deutschen Automanagern derzeit sieht. Es ist also nur eine Illusion von Unverwundbarkeit, von Über-allem-drüber-Stehen, von Grandiosität. Manche holt die Gerechtigkeit eben schon zu Lebzeiten ein, bei anderen lässt sich die Vorsehung mehr Zeit. Aber was hieße es tatsächlich, keinen Keil zwischen Denken und (Mit)empfinden zu treiben? Mit dem Herzen zu denken, mit dem Kopf zu empfinden? Und welche Konsequenzen hätte das für die Zivilgesellschaft?👉 Fortsetzung
