MAN KANN NICHT MEHR MITEINANDER REDEN

Ein Spalt geht durch die Gesellschaft: zwischen denen, die irgendwie vernünftig über das Flüchtlingsthema reden wollen und jenen, die bereits beim ersten Anzeichen, dass hier irgendwer irgendwas verstehen will die Kommunikation abbrechen. Für die einen besteht der Diskurs aus Erörtern und Diskutieren, für die andern aus Verhöhnen, Denunzieren, Hetzen. Das ist keine Schwarzweißmalerei: die Wirklichkeit ist schwarz-weiß geworden. Durchaus auch im bildhaften Sinn: Die dunkle Macht, das sind die jeweils Anderen. Und jede Seite ist stolz darauf, dass sie so ist, wie sie ist.

Ganz abgesehen davon, wie man selber zum Thema Flüchtlinge steht (ich verwende es hier nur als Beispiel): Einig dürften alle sich nur noch in einem sein – in der Diagnose, dass es keinen Sinn mehr hat, miteinander zu reden. Die Beteiligten haben nicht mehr das Gefühl, sie befänden sich noch auf einem gemeinsame Terrain, wo ein Gespräch fruchtbar sein könnte. Es ist wie in einer gescheiterten Beziehung: Du hast das Gefühl, du brauchst gar nicht mehr den Mund aufzumachen weil du sowieso falsch verstanden wirst, und das noch mit böswilliger Absicht. Also lässt du’s.

Oft werden Facebook und Twitter für diese Echokammer-artige Isolierung die Schuld zugeschoben. Wenngleich diese Medien unbestreitbar entscheidend an dieser Dynamik beteiligt sind, sind sie nur ein Teil von ihr. Für jeden Selbstverstärkungskreislauf sind zwei Teile notwendig, die sich gegenseitig aufschaukeln. Es ist wie bei einer Rückkopplung: Je mehr Schall ins Mikrophon, desto mehr in den Lautsprecher; je mehr aus dem Lautsprecher, desto mehr ins Mikrophon… Es war noch nie so, dass die Masse der Menschen z.B. Nachrichten kritisch-reflektiert verfolgt und bei jedem unausgewogenen Urteil sofort gedacht hätte: Moment, da sollte man doch auch die andere Seite hören. Seit jeher will jeder am liebsten das hören, was ihn in seinen Meinungen, Sympathien / Abneigungen und Gewohnheiten bestärkt, und nicht das, was ihn nötigt, alles was er bislang gedacht, empfunden und schon immer so getan hat zu revidieren. Die Linken hatten ihre linken Tageszeitungen, die Konservativen ihre konservativen, und detoc alles, was es sonst noch im politischen Meinungsspektrum gab. Alle hatten seit jeher ihre mehr oder weniger dichte Filterblase. Wenn jetzt Facebook und Twitter all das auch ermöglichen, ist es nicht neu, sondern nur moderner, schneller, effektiver.

Die sozialen Medien sind Teil des Symptomenkomplexes, nicht die eigentliche Ursache der gesellschaftlichen Spaltung. Diese findet durch jene Medien zu einer Stimme, und diese Stimme verstärken sie. Sie bringen sie aber nicht hervor. Das tun wir schon alle selber.

Mit anderen Worten, wir stehen wieder am Anfang, bei dem Problem der zusammengebrochenen Gesprächsbasis. Mir ist nicht bekannt, dass jemand das Konflikteskalationsmodell von Friedrich Glasl auf die derzeitige gesellschaftliche Spaltung angewendet hätte; es scheint mir aber sehr aufschlussreich. (Eine ausgezeichnete Zusammenfassung von Peter Liatowitsch, Uni Basel, findet man hier.)

Liegt es in Anbetracht dessen nicht auf der Hand, dass wir es zur Zeit mit einem quer durch die Gesellschaft gehenden, sich ständig verschärfenden Konflikt zu tun haben?

Und um es noch zu präzisieren: Wo stehen wir auf dieser „Konfliktskala”?

Glasl beschreibt 9 Eskalationsstufen, die Schritt für Schritt abwärts führen:

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Egal, welches der derzeit konfliktträchtigen gesellschaftlichen Themen man anschaut, es ist überall dasselbe Bild: Die Meinungsverschiedenheiten sind längst über sachliche Kontroversen hinaus. Die Seiten sind nicht nur polarisiert, verhärtet (Stufe 1); die Debatte ist nicht nur polemisch geworden und mit Provokationen gewürzt (Stufe 2). Jede Partei schreitet zur Tat, je nachdem, wovon sie überzeugt ist, und versucht Tatsachen zu schaffen (Stufe 3). Während die Gleichgesinnten („Rechtgesinnten”) Koalitionen schmieden, nehmen sie die Anderen zunehmend als Gegner (Stufe 4) und Feinde wahr, werten sie ab, diffamieren sie öffentlich, machen sie lächerlich… (Stufe 5). Weitere Eskalationsschritte (verbale und physische Gewalt) sind noch die Ausnahme, etwa bei Demonstrationen, wo die Gruppendynamik die Konflikte noch weiter anheizt und die Hemmschwellen sinken lässt. Aber da niemand wirklich der Wurzel der Konflikte auf den Grund geht, sondern sie vielmehr aus politischem Kalkül bewusst geschürt werden, um sie dann instrumentalisieren zu können ist eine Deeskalation nicht in Sicht.

Um es nochmals zu betonen: Dutzende weitere Gründe zu finden, warum die jeweils andere Seite falsch gepolt ist, ist nicht Teil der Lösung, sondern Teil des Problems. Und über diverse Medien zu schimpfen, die diese Polarisierung — aus verschiedenen Formen von Opportunismus — weiter verschärfen ist bloße Schattenboxerei. Auch die Flüchtlinge selbst sind — ich will das Thema inhaltlich aussparen; die Diskussion bringt hier nichts — sind nicht das eigentliche Problem; es wird durch sie nur sichtbar. Sie lösen Ängste und deshalb Aggressionen aus, doch sie sind nicht die Ursache dieser Ängste. Die eigentliche Wurzel des Problems liegt woanders.

Das Grundproblem liegt in der fundamentalen gesellschaftlichen Verunsicherung der letzten Jahrzehnte.

Als ich ein Kind war, herrschte die – berechtigte! – Meinung unter den Erwachsenen: unsere Kinder werden es besser haben als wir. Viele Eltern konnten ihren Kindern ein Studium finanzieren, ein Eigenheim anschaffen (oder zumindest anzahlen), ein Auto kaufen; sie konnten ihre Kinder auch als Erwachsene finanziell unterstützen… Wer kann das heute seinen Kindern noch versprechen? Im Gegenteil! Allen ist klar, dass die kommende Generation es nicht besser, ja nicht einmal gleich gut haben, sondern dass sie schlechter dastehen wird als die jetzige Elterngeneration (und dabei ist von der Zerstörung unseres ganzen Planeten noch gar nicht gesprochen!).

Irgendeine nicht klar erkennbare Macht hat die Verhältnisse in den letzten 30 Jahren so verändert, dass eine Umkehrung der Zukunftsperspektiven stattgefunden hat. An die Stelle hoffnungsvoller Erwartung ist vielfach banger Pessimismus getreten. Jedenfalls bei denen, die nicht zu den verhältnismäßig wenigen Gewinnern dieser Entwicklung gehören.

Womit wir endlich — danke für die Geduld! die Dinge sind aber eben nicht so einfach — beim Kern des Problems wären. Was ich in FGB in mehreren Kapiteln mit Fakten belegt und systemisch untersucht habe, kann ich hier nur kurz anreißen (es gibt auch genügend andere ausgezeichnete Analysen, z.B. von Ulrich Beck und Zygmunt Bauman).

Kurz gesagt, in den letzten 30 Jahren hat sich eine Denkungsrichtung — weniger theoretisch als lebenspraktisch — durchgesetzt, die den Einfluss der Politik (und damit den Einfluss der Menschen auf ihre eigenen Lebensumstände) zurückgedrängt und durch Marktkräfte ersetzt hat. Diese Ideologie wird „Neoliberalismus” genannt (vgl. dazu den großartigen Artikel von Christian Felber!). Deregulierung und Liberalisierung sind ihre Mantren, mehr Markt, mehr privat, weniger Staat. Nach dem Zusammenbruch des Sozialismus schien der Kapitalismus so völlig alternativlos, dass ein US-Historiker sich schon dazu verstieg, vom „Ende der Geschichte” zu schwadronieren — so restlos war staatliche Intervention in die Wirtschaft durch das Scheitern dieser Staaten diskreditiert. Wir kennen die Folgen: Sozialabbau, Ökonomisierung aller Gesellschaftsbereiche, welche früher Bedürfnis-orientiert waren (Wohnbau, Krankenversorgung, Pflege, überhaupt aller öffentlichen Dienste), globale Konkurrenz unter den Arbeitnehmern, prekäre und irreguläre Arbeitsverhältnisse, Zwang zu Mehrverdienertum, und, und… Die ganze Bandbreite von ökosozialen Bedrohungen, die viele Menschen heute mit einer tiefen Zukunftsunsicherheit, wo nicht Zukunftsangst erfüllen.

So werden also diejenigen Menschen immer mehr, die den eigenen sozialen Abstieg als Damoklesschwert über sich spüren und um die eigene Zukunft und um die ihrer Kinder fürchten. Und es gibt niemanden mehr, der diese Kräfte bändigen könnte oder auch nur wollte: Die Ultra-Marktliberalen in der Politik haben ihre Selbstentmachtung sowieso aktiv gefördert, und die Linken haben ja seit Blair und Schröder überall de facto abgedankt und sind auf den selben Kurs eingeschwenkt. (Wo es noch ein vereinzelte Exemplare gibt — Sanders, Corbijn… –, werden sie in einem weltumspannenden, geifernden Bashing diffamiert und lächerlich gemacht. Was nicht heißt, dass ich ihre linken Ideen / Konzepte teile; ganz und gar nicht.)

Im Jubelgeschrei über den Untergang des Ostblocks und im Siegestaumel des Kapitalismus ging jedoch unter, dass man mit der neoliberalen Revolution im Begriff war, bei der radikalen wirtschaftlichen Liberalisierung das Kind mit dem Bade auszuschütten. Bis heute wurde meines Wissens nach nirgends (außer nun in FGB) klar darauf hingewiesen, dass die staatlichen Eingriffe ins wirtschaftliche Management der Wirtschaft zwar zwangsläufig zum Scheitern verurteilt waren — warum sollten Politiker das Geringste von Unternehmensführung verstehen?! –, dass der Staat sich deshalb aber keineswegs auch gleich aus jeglicher rechtlichen Regulierungsfunktion zurückziehen müsste.

Wer, wenn nicht die Politik soll die Spielregeln festlegen?

Ich stimme völlig zu: Parteipolitik incl. Postenschacher hat im Wirtschaftlichen nichts verloren. Und je mehr die Politik ins Management von Unternehmen (und, nebenbei bemerkt, von Schulen) hineinpfuscht, desto größer das Chaos, das sie anrichtet. Aber: Wer, wenn nicht die Politik soll die gesellschaftlichen Spielregeln festlegen? Wer, wenn nicht die Politik kann und darf definieren, was eine Wirtschaftsfrage ist, die von Unternehmen selbständig zu bearbeiten ist, aber was eine Rechtsfrage ist, die zu entscheiden allein den Bürgern und ihren Vertretern zusteht? Sollen das etwa die entscheiden, die durch diese Entscheidung Milliarden absahnen?

Genau solche grundlegenden rechtlichen Fragen zu klären und zu entscheiden ist die zentrale Aufgabe des Staats. Weil dies die Machfrage schlechthin ist, zielen alle Freihandelsabkommen genau auf diesen Punkt: den Staat zu entmachten, ihm seine rechtlichen Kompetenzen zu entziehen, sich mit Staaten auf eine Stufe zu stellen, nicht-staatliche Gerichte zu installieren… Es geht in diesen Abkommen nur vordergründig um Freihandel— der ist nur der Köder, oder welcher geistig Gesunde wollte gegen Freihandel sein?! Die „Handels”abkommen sind in Wahrheit Rechtsabkommen, d.h. Entrechtungs-Abkommen zum Zweck der weiteren Zurückdrängung, Entmachtung und Ersetzung des Staats durch die Märkte, insbesondere durch das Finanzkapital.

Darum liegt eine tragische Ironie darin, dass ausgerechnet jene Parteien, die sich jetzt als die Vertreterinnen des „kleinen Mannes” gerieren und gegen all jene hetzen, die seine Interessen scheinbar bedrohen (allen voran früher gegen die Ausländer, nun gegen die Flüchtlinge), dass also ausgerechnet jene Parteien sich ja offiziell dem Neoliberalismus verschrieben haben! Und wie man gleich nach der jüngsten Wahl in Österreich gesehen hat, ziehen sie diesen Marktradikalismus auch sofort durch — ohne dass ihre Wähler kapieren, wie sie verarscht werden.

Die notwendige grundlegende Gesellschaftsreform

Womit wir wieder beim ursprünglichen Thema wären und der Kreis sich geschlossen hätte. Der Spaltung unserer Gesellschaft, etwa beim Thema Flüchtlinge, werden wir nicht beikommen, wenn wir weiter an den Symptomen herumdoktern und über die Lautsprecher schimpfen, die die schlechte Nachricht verstärkt in die Welt posaunen (Facebook, Twitter…). Die Spaltung unserer Gesellschaft werden wir nicht durch weitere kosmetische Reförmchen, sondern nur durch eine grundlegende soziale Reform abbauen können. Durch eine Reform, die

einen stärkeren Staat denn je zum Ziel hat, aber keinen, der deshalb meint, in alle Gesellschaftsbereiche (Wirtschaft, Bildung, Forschung, Kunst, Religionen…) hineinfuhrwerken zu dürfen. Und durch eine Reform, die

eine gemeinwohlorientierte Wirtschaft durch Selbststeuerung ermöglicht. Staatliche Interventionen werden dadurch überflüssig, dass alle Betroffenen (Stakeholdergruppen) vor allem an den Preisbildungs-Prozessen mit-entscheidend beteiligt sind. Diese wirtschaftliche Selbstorganisation hat mit Kapitalismus so wenig zu tun wie mit Sozialismus; sie ist ein neuer, dritter Weg des Wirtschaftens, für den z.B. Christian Felber großartige Vorarbeit geleistet hat.

Im Zuge dieser Selbstorganisation wird sich aus der DNS des Staates bzw. der Wirtschaft selbst eine Eigendynamik entwickeln, die nicht nur für eine kleine Elite gut ist, sondern für die ganze Gesellschaft. Dann werden die Menschen das Gefühl wieder spüren, Einfluss auf ihre Lebensverhältnisse zu haben. Und diesen Einfluss werden sie nutzen, um ihre Lebensumstände so zu gestalten, wie es am besten für sie ist.

(Mir ist klar, dass der letzte Abschnitt zu wenig erklärt und deshalb nicht ausgesprochen überzeugend ist, aber irgendwas muss ich mir ja für FGB auch noch aufbehalten. — Spaß beiseite, die Dinge sind so komplex, dass sie in einem solchen Essay nicht erschöpfend behandelt werden können. Hier möge der Denkanstoß für den Augenblick genügen.)

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ZUR VERTEIDIGUNG DES RECHTSSTAATS

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Am 19. Februar 2025 haben sechs Bürgerrechtsorganisationen eine gemeinsame Erklärung zur anstehenden Bundestagswahl veröffentlicht: "Gegen die Angriffe auf den demokratischen Rechtsstaat!" Die dort geäußerten Sorgen um die Rechtsstaatlichkeit teile ich ohne Einschränkung: die Infragestellung der Grund-/Menschenrechte, martialische Law-and-Order-Forderungen, exekutiven Ungehorsam (also die Strategie, Gerichtsentscheide schlicht zu ignorieren)

By Hanspeter Rosenlechner