#METOO, DAS GUTE AM SCHLECHTEN UND DIE EVOLUTION
Nun ist es endlich heraus: Bis in höchste politische, kulturelle und wirtschaftliche Positionen war / ist sexuelle Gewalt von Männern gegen Frauen gang und gäbe: die gesamte Bandbreite von Anmache über Erpressung, sexuellem Missbrauch und Nötigung bis zu Vergewaltigung (ggf. mit anschließendem Schweigegeld). In Politik, im Spitzensport, beim Film, in der Kunst, in der Kirche… Endlich wird es publik, und endlich werden Namen genannt, egal um wen es geht.
Es wird ein paar Mistkerle weniger im öffentlichen Leben geben; sehr gut. Und andere, ebenso agierende Männer sind vorgewarnt: Pass auf, was du dir herausnimmst; du kannst der Nächste sein. Das ist das Gute am Schlechten.
Die Tatsache, dass Männer Frauen gegenüber psychische oder physische Gewalt ausüben ist aber nicht nur deren miesem Charakter zuzuschreiben. Das wäre in einer Kultur gar nicht möglich, in der Frauen grundsätzlich gleich viel wert wären wie Männer, absolut gleichberechtigt, genau die gleichen Einkommen hätten, die gleichen Karrierechancen…
Auf dem Papier mag das so sein, und selbst das noch nicht seit langem:
Bis 1958 hatte der Ehemann auch das alleinige Bestimmungsrecht über Frau und Kinder inne. Auch wenn er seiner Frau erlaubte zu arbeiten, verwaltete er ihren Lohn. Das änderte sich erst schrittweise. Ohne Zustimmung des Mannes durften Frauen kein eigenes Bankkonto eröffnen, noch bis 1962. Erst nach 1969 wurde eine verheiratete Frau als geschäftsfähig angesehen.(Quelle: Focus)
Männer, die in dieser Zeit aufgewachsen sind sind also nicht im selben Klima sozialisiert worden wie heute. Sie wuchsen in eine Kultur männlicher Macht hinein, in der Diskriminierung von und Gewalt gegen Frauen nicht bloß akzeptiert, sondern sogar in Gesetze gegossen war. Das ist nicht als Entschuldigung oder Relativierung gemeint, sondern um einen Bild aufs Ganze zu bekommen.
Das Ganze hat nämlich immer vier Seiten, wie der Philosoph Ken Wilber aufgezeigt hat: Eine innere und eine äußere, sowie eine individuelle und kollektive. Wilber hat diese vier Aspekte der Gesamtwirklichkeit in vier Quadranten dargestellt:
- individuell-innen (z.B. Gedanken, Gefühle, Überzeugungen…); links oben (LO)
- individuell-außen, d.h. von außen wahrnehmbar (Handlungen); rechts oben (RO)
- kollektiv-außen (Strukturen, Systeme, explizite Regeln, die das Verhalten regeln); rechts unten (RU)
- kollektiv-innen (gemeinsame Überzeugungen, Werte, Sitten, Tabus…); links unten (LU)

Wenn man also im Kontext von #metoo das Problem als Ganzes sehen will, muss man alle vier Seiten anschauen. Es reicht nicht, die jüngst enthüllten Täter an den Pranger zu stellen und zur Verantwortung zu ziehen (so notwendig das ist). Das erfasst nur die oberen Quadranten, nicht aber den Boden, auf dem so etwas überhaupt erst gedeihen konnte: eine Kultur der männlichen Dominanz und Machtausübung (LU), die sich bis in Gesetze (RU) niedergeschlagen hat.

Das ist beileibe keine akademische Spitzfindigkeit: Wenn sich die jüngst zutage gekommenen Skandale darin erschöpfen, dass einzelne Personen aus ihren Positionen entfernt oder eingesperrt werden, die Kultur männlicher Überlegenheit und Übermacht jedoch unverändert bleibt, die das überhaupt ermöglicht hat, dann wird alles beim Alten bleiben.
Die oben genannten Gesetzesänderungen sind jedoch bereits ein Beleg für ein Umdenken – auch wenn es in der Kultur noch nicht ganz angekommen ist. Und die Gesetzesentwicklung ging ja weiter und führte zu einer Vielzahl von Diskriminierungsverboten, nicht nur was Frauen betrifft. In diesem Bereich (RU) gab es enorme Fortschritte.
Diese wären nicht möglich gewesen ohne eine kulturelle Entwicklung, die sie als wünschenswert, ja notwendig erscheinen hat lassen. Wenn ich mich erinnere, welches Männer- und Frauenbild während meiner Jugend in den 70ern völlig normal war…! Wandelnde Testosteronbomben mit wucherndem Rotzbremser und zur Schau gestelltem Brustpelz buhlten in Film und Fernsehen mit Macho-Sprüchen um Frauen – heute betrachtet, wie Neandertaler aus der Zeitmaschine. Demonstrativ „männliches“ Gehabe war kulturell positiv besetzt (vielfach ist es das bis heute).
Da hat sich definitiv viel in der Kultur geändert. Frauen werden heute – zumindest von einer gewissen „Elite“ unter den Männern (sie deckt sich nur teilweise mit den o.g. Eliten) als gleichwertige Wesen erlebt und gesehen (LU). Nur weil das so ist, wurden auch Gleichstellungsgesetze beschlossen (RU), die Gleichheit in der Gesellschaft zementieren und Zuwiderhandeln sanktionieren (RO). Inwieweit das in bestimmten Köpfen (LO), Gruppierungen und Subkulturen (LU) angekommen ist, ist freilich eine andere Frage. Hier tut sich derzeit eine gesellschaftliche Spaltung auf in zeitgemäß und rückständig, die sich bis ins politische Wählerverhalten niederschlägt.
Dem vielfältigen Rückgang der Gewalt widmet der Evolutionsbiologe Steven Pinker sein 1200-seitiges Buch: Gewalt – Eine neue Geschichte der Menschheit. Wenngleich er sich in mancher Hinsicht begründete Kritik zugezogen hat, bestreiten nicht einmal seine Kritiker seine Grundaussage:
„Die Gewalt ist über lange Zeiträume immer weiter zurückgegangen, und heute dürften wir in der friedlichsten Epoche leben, seit unsere Spezies existiert. Natürlich war es kein stetiger Rückgang; die Gewalt ist auch nicht auf Null zurückgegangen; und es gibt keine Garantie, dass es so weitergeht. Aber es ist eine unverkennbare Entwicklung, und man sieht sie in den verschiedensten Maßstäben, von Jahrtausenden bis zu einzelnen Jahren, von der Kriegsführung bis zur Züchtigung von Kindern“ (S.11).
Pinker macht diese Entwicklung an verschiedenen Punkten deutlich, von denen ich nur ein paar herausgreife, die mir in dem vorliegenden Zusammenhang besonders relevant erscheinen. Er zeigt, dass sich in der Nachkriegszeit „ein wachsender Widerwille gegen Aggressionen im kleineren Maßstab“ entwickelte, „unter anderem was Gewalt gegen ethnische Minderheiten, Homosexuelle, Frauen, Kinder und Tiere angeht.“
Wer dagegen einwendet, dass sich gerade da ja gar nichts tut, wo wir nicht sogar einen massiven Rückfall erleben, sollte sich vor Augen halten, dass das Empfinden eines Rückfalls den bereits erfolgten Fortschritt voraussetzt; dass der Einwand sich somit selbst aufhebt. Dass diese Gewalt nicht mehr als „normal“ angesehen und sozial toleriert ist, ist ein Evolutionsschritt – auch wenn ihn viele noch nicht vollzogen haben. Die Evolution ist beim Menschen kein einheitlicher Prozess mehr weil sie entscheidend von den Individuen abhängt.
Pinker weist auf fünf historische Kräfte hin, die den Rückgang der Gewalt vorangetrieben haben (S.18):
- Die Entwicklung von Staat und Justiz mit einem Gewaltmonopol
- Wirtschaftliche Zusammenarbeit, wo Gewalt kontraproduktiv ist
- Ein wachsender Respekt vor den Interessen und Werten von Frauen („Feminisierung“): „Da Gewalt im Wesentlichen ein Zeitvertreib der Männer ist, entfernen sich Kulturen, die den Frauen mehr Macht geben, in der Regel von der machohaften Verherrlichung der Gewalt […].“
- Ein wachsendes Weltbürgertum aufgrund wachsender Bildung, Reisen, Massenmedien… führt dazu, dass sich immer mehr Menschen in andere hineinversetzen können, die anders sind als man selbst. Was man nachvollziehen und vor allem empathisch nachempfinden kann, dagegen kann man schwerlich Gewalt ausüben.
- Eine zunehmende Anwendung der Vernunft auf die menschlichen Angelegenheiten führt zu der Einsicht, dass Gewalt keine grundlegende und nachhaltige Lösung von Problemen ist.
Daher Pinkers Resumee: „Der Rückgang der Gewalt dürfte die bedeutsamste und am wenigsten gewürdigte Entwicklung in der Geschichte unserer Spezies sein“ (S.1027).
Wiegesagt, bei allem berechtigten Zweifel im Detail und bei allen Rückschlägen ist unabweisbar, dass wir einen Evolutionsschritt der Menschheit miterleben. Er fällt uns nur deshalb nicht auf weil uns die Distanz fehlt. Aus der zeitlichen Nähe – im Verhältnis zu unserer kurzen Lebensspanne – scheint uns nichts voranzugehen bzw. Ewigkeiten zu brauchen, dabei dauert es im Verhältnis zur Evolution des Menschen nicht einmal einen Wimpernschlag. Dass auch Ungerechtigkeit gegenüber Frauen, männliche Dominanz bis zur Gewalt durch #metoo ins öffentliche Bewusstsein gehoben und nicht mehr akzeptiert oder sogar bewundert, sondern ausdrücklich angeprangert und tabuisiert werden, beweist, dass es vorwärts geht. Zumindest in Teilen der Bevölkerung. Sie sind die Zukunft. Es wird nie mehr werden wie zuvor. Die Uhr der Evolution lässt sich nicht zurückdrehen. Das gibt – bei aller Vorsicht – Anlass zum Optimismus. Wir müssen nur dran bleiben. 👍
[Diese in kürzeren Abständen erscheinenden Beiträge setzen sich mosaikartig zu einem neuen Gesamtgesellschaftsmodell zusammen. Sie sollen dessen organische Konsistenz und universelle Anwendbarkeit zeigen. Ihr eigentlicher Sinn und Zweck ist jedoch die Umsetzung dieses Modells – im Kleinen wie im Großen. Dafür müssen Sie weiter verbreitet werden. Vielen Dank im Voraus!]