„MIETE? EIGENHEIM? UNBEZAHLBAR!“ – MITNICHTEN.

So lange Wohnraum als Ware gehandelt wird, kann der Wohnungsmarkt nicht funktionieren. Höchste Zeit für Alternativen.
Alle paar Tage wird in den Medien thematisiert, wie lange wohl die Mieten und die Preise für Eigenheime noch weiter steigen werden. Für Menschen mit Durchschnittseinkommen werden sie zunehmend unbezahlbar. Mit dieser Eigendynamik ist eine zweite verbunden. In attraktiven Stadtvierteln oder Städten findet eine schleichende soziale Auslese statt: Wer es sich leisten kann, zieht dort hin; wer es sich nicht mehr leisten kann, zieht weg oder hatte überhaupt nie die Chance, sich dort niederzulassen. Durch diese soziale Selektion bildet sich – analog zum englischen Landadel (gentry) – ein moderner Geldadel heraus, der attraktive Wohngegenden exklusiv für sich vereinnahmen kann; daher die Bezeichnung gentrification / Gentrifizierung.
Wie bekannt, versucht die Politik nun, dem durch die „Miepreisbremse“ gegenzusteuern. Diese gesetzliche Regelung will einen Interessensausgleich zwischen Vermietern und Mietern dadurch schaffen, dass die Höchstmiete in Gebieten mit angespanntem Wohnungsmarkt höchstens 10 % über dem Niveau der ortsüblichen Vergleichsmiete liegen darf. Denn „Wohnungen sind keine reine Ware, sie sind das Zuhause von Menschen“ (www.mietpreisbremse.bund.de).
DAS WAREN-PARADIGMA
Achtung, hier spricht sich eine – ansonsten selbstverständlich, also stumm akzeptierte – Grundüberzeugung, ein Paradigma aus: Immobilien sind Waren (what else?). Sie sind eine Form von Kapital (Immobilienkapital), das auf einem entsprechenden Markt (dem Immobilienmarkt) gehandelt wird. Die zaghafte Einschränkung, sie seien keine reine Ware ist faktisch eine Bestätigung des Waren-Paradigmas: Was zur Waren gemacht werden kann, darf / soll / muss auch zur Ware gemacht werden. – Aber was heißt „machen“? Ist eine Wohnung denn kein Kapital?
Wenn man auf die Wirklichkeit hinschaut, gibt es Menschen mit einem Bedürfnis nach Wohnraum, und andere, die diesen anbieten. Da stets weniger Wohnungen angeboten als gebraucht werden, haben die Anbieter die Möglichkeit, zu wuchern. Sie treiben die Wohnungspreise in unverschämte Höhen, und die Wohnungsuchenden können sich nicht helfen. In der Ökonomie nennt man es „Knappheit“, wenn von einem Gut weniger vorhanden ist als gewünscht wird. Ein hoher Bedarf an Wohnraum und ein kleines Angebot treiben den Preis in die Höhe. Da offenbar die Märkte das nicht wie immer behauptet am besten eigenständig regeln können, ist der Staat gezwungen, einzuspringen: Er soll das Angebot vergrößern, also Wohnungen bauen. Der Staat spielt also für einen Brand, den er nicht verursacht hat Feuerwehr – und verkündet nichtsdestotrotz, dass sich das Feuer am besten selbst regelt. Ja, hätten die Wohnungsuchenden etwas mitzuentscheiden, dann würde sich der Wohnungsmarkt tatsächlich selbst regeln, und er würde tatsächlich funktionieren. So aber…
Wenn man mit Polanyi empirisch „Waren“ als Güter definiert, die für den Verkauf auf einem Markt produziert werden, dann ist klar, dass Arbeit, Boden und Geld nicht bloß metaphorisch, sondern faktisch-empirisch keine „Waren“ sind. Das bedeutet,
The Great Transformation
Das gilt auch für Immobilienkapital: Wohnungen werden – eigentlich – nicht gebaut, um mit ihnen zu handeln. Das ist nicht ihr Sinn und Zweck. Sie werden als Waren behandelt, gehandelt, und werden somit zu Waren. Aus der Waren-Fiktion entstehen reale Märkte. Die Fiktion wird Realität –: ein Paradebeispiel für die Macht falscher Gedanken. Sie können gar nicht so abwegig sein, als dass sie nicht Realitäten schaffen könnten. „Was du heute denkst, das wirst du morgen sein“ gilt auch für das soziale Leben. Im Konflikt mit der „eigentlichen” Realität spielt somit keine Rolle, dass Wohnungen keine Waren sind; indem sie so behandelt werden, indem nicht gebaut wird, damit Wohnraum entsteht, sondern um mit den Wohnungen zu handeln und zu spekulieren, werden sie zu Waren. Wenn man ein iPad nicht als Tablet verwendet, sondern als Schneidebrett, wird es zum Schneidebrett, auch wenn das nicht sein eigentlicher Verwendungszweck ist (worauf der skurrile Witz dieses Videos beruht). Was zu Ware gemacht werden kann, das darf, soll und muss zur Ware gemacht werden: so lautet das Waren-Paradigma.
Wohnungen werden also nicht gebaut, um das Bedürfnis nach Wohnraum zu befriedigen, sondern um sie nachher möglichst teuer zu verkaufen und auf ihre Preissteigerung zu spekulieren. Sie werden von Investoren errichtet oder aufgekauft, um mit ihnen Renditen zu generieren. Je mehr die Wohnungsuchenden bereit sind zu zahlen, desto höher die Rendite - je mehr, desto mehr. Dass die Preise durch die Decke gehen, ist also kein Zufall, sondern eine systemische Gesetzmäßigkeit.
Das Bizarre am Waren-Paradigma ist also, dass es die Realität erschafft, die es zu beschreiben glaubt, und sich von dieser Realität dann bestätigt fühlt.
ES GEHT AUCH ANDERS: GENOSSENSCHAFTEN
Es gibt aber eine Alternative zum Wohnungs-"Markt": Genossenschaften. Eine Genossenschaft ist ein eigenständiger und freiwilliger Zusammenschluss von Personen mit dem Ziel, Bedürfnisse, die sie alleine nicht befriedigen könnten gemeinsam zu befriedigen. Ganz nach dem Motto von Raiffeisen: „Was einer alleine nicht schafft, das schaffen viele.“ Die Mitglieder / Eigentümer einer Genossenschaft finanzieren diese gemeinsam und erzeugen einen gemeinsamen ökonomischen, sozialen oder kulturellen Nutzen. Sie sind Eigentümer und Kunden zugleich. Die Genossenschaft ist im gemeinsamen Besitz und demokratisch kontrolliert. Entscheidend für die Geschäftstätigkeit der Genossenschaft sind nicht die Menge und die Verwertung des eingebrachten Kapitals, sondern die Individuen mit ihren Bedürfnissen. Sie ist also nicht profit-, sondern nutzenorientiert. Dadurch werden allfällige Gewinne nicht abgeschöpft, sondern zirkulieren im Unternehmen zum Nutzen der Mitglieder weiter.
BEST PRACTICE: WOGENO
Die traditionellen Genossenschaften beschränken sich auf den gemeinsamen Nutzen als Unternehmensziel; neue Genossenschaften legen sich die Latte höher und sind sehr an gemeinsamen Werten orientiert, wie etwa die Münchener Wohnungsgenossenschaft WOGENO, einer „Genossenschaft für selbstverwaltetes, soziales und ökologisches Wohnen”:
„Die WOGENO ist eine genossenschaftliche Dachorganisation für vielfältige und lebendige Wohnprojekte. Seit ihrer Gründung 1993 hat sie 20 Häuser mit über 530 Wohnungen erworben oder neu gebaut. Das Genossenschaftsprinzip ermöglicht Mitgliedern aller Einkommensschichten ein spekulationsfreies und selbstbestimmtes Wohnen. Gemeinsam mit den Mitgliedern planen und realisieren wir weitere ökologisch und sozial geprägte Neubauvorhaben. Diese Projekte verstehen wir auch als Bausteine einer nachhaltigen und lebendigen Quartiersentwicklung.”
Die WOGENO fußt auf folgenden Prinzipien:
- Doppelcharakter: Die Genossenschaft ist sowohl Wirtschaftsunternehmen als auch konkrete Sozial- und Kulturgemeinschaft.
- Identitätsprinzip: Träger und Nutzer der Genossenschaftsleistung sind identisch.
- Demokratieprinzip: Jedes Mitglied hat eine Stimme unabhängig von seinem Kapitaleinsatz.
- Förderprinzip: Zweck ist primär die Mitgliederförderung, nicht der Dienst an Dritten oder der Allgemeinheit.
- Nutzungsprinzip: Genossenschaften dienen nicht der Kapitalmehrung, sondern der Sicherung preiswerter Dienste; daher wird der Überschuß nicht nach Kapitaleinsatz, sondern gemäß der Nutzung (Verbilligung der Dienste) verteilt. Darüber hinaus können bis maximal 4 Prozent einer Beteiligung an den Gewinnen ausgeschüttet werden.
- Solidaritätsprinzip: Der Zusammenschluss dient und fördert die wechselseitige Unterstützung, beispielsweise durch gemeinsame Haftung, gemeinsame Verantwortung und gemeinsame Arbeit.
Da jedes Genossenschaftsmitglied aktives und passives Wahlrecht genießt, entscheidet die Mitgliedschaft direkt über die Unternehmenspolitik.
In einem der aktuellen Bauprojekte der WOGENO steht nachhaltige Mobilität im Zentrum. Die Bewohner / Eigentümer können sich in einer gemeinsamen Mobilitätsstation Autos und Fahrräder ausleihen und brauchen dadurch kein eigenes Auto o.ä. mehr. Für Langstrecken stehen Autos mit Verbrennungsmotor zur Verfügung, für mittlere und Kurzstrecken Elektroautos, dazu Elektroroller und -fahrräder. Wer ein Fahrzeug nutzen will, meldet sich bei einer lokalen Carsharing-Plattform an und bucht per App das Fahrzeug seiner Wahl; die Schlüssel hängen in einem Tresor, der mit Magnetkarte geöffnet wird. Man kann sich aber auch eine übertragbare Netzkarte für die Öffis leihen.
EIGENTUM KANN NACH BELIEBEN GE-, VER- UND MISSBRAUCHT WERDEN
Warum kann das Waren-Paradigma die Lebenswirklichkeit einfach so überrollen? Weil Wohnungen Eigentum sind.
Bis ins 19. Jahrhundert galt Grundeigentum als patrimonium, als Erbgut, das man von seinem Vater (pater) vererbt bekam und an seine Nachkommen weiterzugeben hatte. Das implizierte die Verpflichtung, es zu bewahren und zu pflegen. Raubbau und Zerstörung wären ein Bruch dieser Verpflichtung gegenüber den Nachfahren gewesen. Mit dem Code civil, dem napoleonischen Zivilrechts-Gesetzbuch (1804), das eine weltweite Wirkung erlangte wurde ein Paradigmenwechsel vollzogen: Darin wurde das Verständnis des Eigentums als patrimonium durch den – bis heute überall gültigen – römischen Eigentumsbegriff dominium (Herrschaft) ersetzt. Die gesetzlichen Definitionen von Privateigentum (vom lateinischen privare, berauben / vorenthalten) schließen explizit andere von jeder Einwirkung auf das Eigentum aus. Der Eigentümer als Beherrscher seines dominium hat das Recht, sein Eigentum (im Rahmen des Gesetzes) nach Belieben zu ge- bzw. zu verbrauchen bzw. zu missbrauchen (1).
Das Eigentumsrecht erlaubt also, nach Belieben mit Wohnungseigentum zu schalten und zu walten (soweit es geltendes Recht nicht verletzt): Es ist absolut legal, das Gesetz von Angebot und Nachfrage zu nützen und die Mieten seiner Wohnungen in die Höhe zu treiben. Es ist absolut legal, wenn ein Investmentfonds Wohnungen bauen lässt, sie dann zum Höchstpreis weiter verhökert oder vermietet mit dem alleinigen Zweck, das investierte Kapital in seinem Wert zu steigern und so Renditen zu schaffen. Es ist absolut legal, Wohnungen leer stehen zu lassen und abzuwarten bis ihr Wert hoch genug gestiegen ist, um sie auf den Markt zu werfen. Es ist absolut legal, Immobilien verfallen zu lassen, wenn das profitabel ist. Ich kann mein Eigentum ge-, ver und missbrauchen, wie es mir beliebt. Es ist nicht nur erlaubt; das System forciert das geradezu: Was Ware werden kann, das darf, soll, muss zur Ware gemacht werden und in die "Teufelsmühle" des Marktes (Karl Polanyi) geworfen werden.
NUTZUNGSRECHT STATT EIGENTUMSRECHT
Es nun freilich keine Alternative, mit Proudhon ("Eigentum ist Diebstahl") jegliches Eigentumsrecht aufzuheben und gewaltsam (wer gibt freiwillig sein Eigentum her?) eine besitzlose Gesellschaft zu schaffen. Ohne Investitionskapital kann überhaupt kein Wohnraum geschaffen und erhalten werden. Es gilt das Eigentumsrecht so einzuschränken, dass kein gesellschaftlich schädlicher Missbrauch mehr getrieben werden kann. Dieses Paradigma werden die derzeitigen Entscheidungsträger wohl nicht freiwillig so beschließen; da wird massiver Druck von unten notwendig sein. Bis es soweit ist, ist auch hierfür das Genossenschaftswesen eine ausgezeichnete Übergangslösung, denn es ersetzt das Eigentumsrecht durch ein unbefristetes Nutzungsrecht. Wenn ich mit dem Preis, den ich für eine Wohnung bezahle nur das Nutzungsrecht an dieser erwerbe, das mit der Nicht-Nutzung erlischt, ist sie mein Besitz, aber nicht mein Eigentum. Dadurch, dass die Eigentümergemeinschaft per Abstimmung über die grundlegenden, Richtung-gebenden Unternehmenswerte und über die Art und Weise ihrer Umsetzung entscheiden kann, kann sie auch Profitorientierung und Spekulation von vornherein verunmöglichen. Nicht "der Markt", sondern die Genossen entscheiden, nach welchen ethischen Grundsätzen und zu welchem Zweck das gemeinsame Kapital eingesetzt wird.
DIE GESELLSCHAFTLICHE NUTZENMAXIMIERUNG
Es ist erstaunlich, was alles möglich ist, wenn nicht der maximale Gewinn im Zentrum der Geschäftstätigkeit steht, sondern der größtmögliche gemeinsame Nutzen. Dieser muss ins Zentrum jeder gesellschaftlich relevanten wirtschaftlichen Aktivität gestellt werden. Die Mietpreisbremse ist nur eine symptomatische Maßnahme, die das eigentliche Grundübel nicht anzutasten wagt: die Eigennutz-getriebene Marktwirtschaft, die alles, was zur Ware gemacht werden kann in ihr Mahlwerk zieht. Die Märkte entscheiden, was zur Ware gemacht werden kann und darf; das muss aber eine Entscheidung der betroffenen Menschen (Stakeholder) sein. Man braucht nur alle Stakeholder-Gruppen an den grundlegenden, Normen-gebenden Entscheidungen zu beteiligen. Dann werden diese – vorerst weniger aus ethischen Erwägungen als aus Eigennutz – den größtmöglichen gemeinsamen Nutzen schaffen. Im Laufe der Zeit werden sie dann merken, dass aus Egoismus niemals Gemeinwohl entstehen kann und dass nicht die persönliche Nutzenmaximierung das wirtschaftliche Erfolgsrezept ist, sondern die gesellschaftliche Nutzenmaximierung, das Gemeinwohl. Das Ergebnis (nicht die Prämisse) dieser Entwicklung wird dann Brüderlichkeit sein.
(1) „Dominium est ius utendi et abutendi re sua, quatenus iuris ratio patitur”, François Hotman, frz. Jurist des 16. Jh. Das Verb „abutere” hat alle drei Bedeutungen: gebrauchen, verbrauchen und missbrauchen.