NATIONALSTAAT? EUROPA? – VON DER RAUPE ZUM SCHMETTERLING

Unter einer Straßenlaterne steht ein Betrunkener und sucht und sucht. Ein Polizist kommt daher, fragt ihn, was er verloren habe, und der Mann antwortet: ‚Meinen Schlüssel.‘ Nun suchen beide. Schließlich will der Polizist wissen, ob der Mann sicher ist, den Schlüssel gerade hier verloren zu haben, und jener antwortet: ‚Nein, nicht hier, sondern dort hinten – aber dort ist es viel zu finster.‘
Die Europa-Diskussion ist in einem ähnlichen Verhaltensmuster gefangen wie der Betrunkene im Paul Watzlawicks Geschichte: Man sucht dort, wo das Licht besser ist – in vertrauten, bewährten Denkmustern –, nicht dort wo wohl der Schlüssel liegt. Das Ergebnis ist das von ihm karikierte: Mehr vom Gleichen. Man kommt damit zwar auf keinen grünen Zweig, aber man erspart sich das grundlegende Umdenken und die grundlegenden Veränderungen. So not|wendig sie auch wären.
Die derzeit diskutierten Europa-Konzepte bewegen sich auf dem vertrauten Terrain zwischen mehr Europa und weniger. Die sog. „Pro-Europäer“ befürworten eine noch weiter gehende europäische Integration („vereinigte Staaten von Europa”, eine gemeinsame Regierung, ein gemeinsames Finanzministerium…), die sog. „Europa-Gegner“ wollen zurück zum Nationalstaat nach dem Motto "jeder ist sich selbst der Nächste". Beide „Lösungen“ sind aussichtslos. Diejenigen, die die Europakrise dadurch lösen wollen, dass sie ein vereintes Europa vorantreiben, unterminieren dieses damit genauso wie jene, die es gezielt sabotieren. Die Vereinigungsbestrebungen bewirken zwar eine stärkere Solidarisierung unter den „Europa-Befürwortern“, provozieren aber auch noch mehr Widerstand bei den „Europa-Gegnern“. Die Folge ist eine weitere Polarisierung, Verhärtung der Fronten und Eskalation – mit den entsprechenden Kollateralschäden (Stichwort: Populismus…). Mehr vom Gleichen bringt mehr vom Gleichen. "Es ist eine Definition von Wahnsinn, immer das Selbe zu tun und andere Ergebnisse zu erwarten."
Zur Klarstellung: Ich gehe hier nicht von meinen Wunschvorstellungen aus, wie Europa und seine Staaten strukturiert sein sollten, sondern von Realitäten.
Was meine ich damit?
1. DIE WIRTSCHAFTLICHE LEBENSREALITÄT
In der historischen Entwicklung wuchs die Regionalwirtschaft im Mittelalter über ihre Grenzen hinaus und entwickelte sich durch landesweite Handelsbeziehungen weiter zur Volkswirtschaft. Die europäischen Monarchen förderten und bevorzugten jeweils die Ökonomie ihres eigenen Reichs und schränkten die länderübergreifenden Handelsbeziehungen ein (Merkantilismus). Das Wirtschaftsleben bemüht sich seit dem 18. Jahrhundert um eine Abgrenzung von politischen Steuerungen und Einschränkungen (was als neoliberale Entgrenzung missverstanden wurde). In Wirklichkeit gibt es heute nur noch eine Weltwirtschaft. Europa als abgegrenzter Wirtschaftsraum ist faktisch ebenso überwunden wie ihre nationalen und regionalen Vorstufen. Die Globalisierung ist über die EU in wirtschaftlicher Hinsicht hinausgewachsen. Jeder Protektionismus wäre auch auf EU-Ebene (wie „America First”) ein moderner Merkantilismus, ein Anachronismus.
Klar wird an dieser schrittweisen Entwicklung die wirtschaftliche Lebensrealität: Vernetzung und Ausweitung. Das Wirtschaftsleben überschreitet aus sich heraus alle Ländergrenzen. Das Territorialitätsprinzip ist ihm völlig wesensfremd, deshalb es sie mit Staatsgrenzen nicht vereinbar.
Das reale Grundbedürfnis der Menschen als Wirtschaftssubjekte ist Vernetzung, Kooperation, Solidarität – oder, mit einem alten Wort gesprochen: Brüderlichkeit.

2. DIE GEISTIGE LEBENSREALITÄT
Die zweite Lebensrealität ist, dass die Menschen sich seit der Renaissance in geistig-kultureller Hinsicht zunehmend von jeder Fremdbestimmung abgenabelt haben. Der blinde Gehorsam früherer Epochen ist Geschichte. Die Menschen lehnen religiösen und weltanschaulichen Zwang ab. Weltanschauliche Autoritäten werden geprüft, bejaht, und akzeptiert bzw. zurückgewiesen. Wenn die Menschen heute Traditionen, Sitten, Bräuchen folgen, dann immer weniger weil das halt schon immer so gewesen ist und deshalb auch so bleiben muss, sondern zunehmend in bewussten persönlichen Entscheidungen. Sie wollen auch nicht mehr wie früher mit ihrer Familie gleichgesetzt werden, mit einem bestimmten Geburtsort, einer Nationalität, einer Ethnie, einer Religionsgemeinschaft usw., sondern als eigenständige, unverwechselbare Persönlichkeiten wahrgenommen und verstanden werden. Kurz, die zweite, die geistige Lebensrealität besteht in der Individuation.

Auch diese Entwicklung hat mit dem Territorialitätsprinzip nicht das Geringste zu tun. Wenn Regierungen die Bürger darauf einschwören, dass der Staat, in dem sie leben ihre Identität determiniere – cuius regio, eius natio (Zygmunt Bauman) –, so diente das nur dazu, aus Individuen Massen zu machen. Als solche sind sie leicht zu manipulieren und zu verhetzen. Die die Abermillionen Kriegstoten, die das gekostet hat sollten uns eine Lehre sein, dass dieses Amalgam von Territorialität und Identität, genannt Nationalismus, verheerende Folgen hat.
Bedingung dafür, dass die Menschen individuelles Glück suchen können ist Freiheit. Die Freiheit, nach seiner Fasson selig zu werden – soweit es dasselbe Bestreben Anderer nicht tangiert –, ist das zweite reale Grundbedürfnis der Menschen,
3. DIE RECHTLICH-POLITISCHE LEBENSREALITÄT
Territorialität ist das Grundprinzip von Staaten schlechthin. Ein Staat ohne Staatsgebiet wäre eine absurde Vorstellung. Wenn dieses Staatsgebiet aber weder ein Wirtschaftsraum sein soll (vgl.o., erstes gesellschaftliches Grundbedürfnis), noch ein abgegrenzter, religiös / sprachlich / ethnisch / kulturell / national gesäubertes Gebiet (vgl.o., zweites soziales Grundbedürfnis), was ist dann die Aufgabe des Staates auf seinem Territorium?
Die eigene Freiheit hört bekanntlich bei der Freiheit des Anderen auf. Wo dem individuellen Freiheitsdrang Grenzen zu ziehen sind, muss von gleichberechtigten Gesprächspartnern geklärt und ausgehandelt werden. Dieses Grundprinzip setzt sich in der gesamten Gesetzgebung entsprechend fort. Und auch dort gilt: Nur wenn vor dem Gesetz alle gleich sind und nicht einige „gleicher“, werden die Rechtsverhältnisse als gerecht empfunden. Das dritte gesellschaftliche Grundbedürfnis der Menschen ist also Gleichheit i.S.v. Gleichberechtigung.
Dies ist das trennende und verbindende Element der Menschen als Bürger. Das „Innen“, das verbindende Element jener "Vertragspartnerschaft" bedeutet zugleich eine Abgrenzung von einem „Außen“, vom Nicht-Dazugehörigen.
Dieses Unterscheidungsmerkmal im Rechtsleben ist ein objektives, objektivierbares. Ob jemand Regeln und Gesetze achtet oder nicht, ist jederzeit verifizierbar und kontrollierbar. Ihre Einhaltung ist auch durchsetzbar (was bei allem, was die individuelle Identität betrifft zwangsläufig zu Gesinnungszwang und -Terror führt). Im „Innen“ einer Rechtsgemeinschaft wird ein bestimmter Gesetzeskorpus anerkannt. Sie grenzt sich damit zugleich von dem „Außen“ ab, wo dieser Konsens nicht gilt. So ergibt sich quasi organisch ein Geltungsraum, ein abgegrenztes Territorium – ein Staat. Freilich wurden und werden nach wie vor Staatsgrenzen anders gezogen. Das organische Funktionsprinzip ist aber sehr wohl für alles Zukünftige hoch relevant, wie etwa neu der Frage der europäischen Integration. Wo gemeinsame, übernationale, europäische Gesetze gelten sollen, müssen diese in einer gemeinsamen Legislative anerkannt sein und beschlossen werden. Nur dann können sie in einer gemeinsamen Exekutive umgesetzt und in einer gemeinsamen Judikative durchgesetzt werden. Damit grenzt sich ein Staaten-übergreifender Rechtskörper von anderen Staaten ab, die andere Prinzipien verfolgen.
Wie bei den beiden erstgenannten gesellschaftlichen Grundbedürfnissen geht es hier nicht um einem „Trend“, sondern um die gesellschaftliche Evolution. Die Menschheitsentwicklung steht nicht still, sie geht weiter, und das hat im individuellen, im wirtschaftlichen und im politischen Leben die beschriebenen Auswirkungen. Wird diese Evolution unterdrückt, führt das zu sozialen Spannungen und Unruhen, womöglich bis zum Bürgerkrieg. Die politische Lebensrealität ist also das unaufhaltsame Streben der Menschen nach Mitbestimmung auf dem Prinzip der Gleichheit.
Die Gesellschaft des 21. Jahrhunderts will sich also aus diesen drei Impulsen heraus in drei selbständige Bereiche mit ihrer jeweils eigenen "sozialen DNS" gliedern:
- In einen geistigen Bereich, der auf das Individuum und seine freie Entfaltung ausgerichtet ist,
- in einen wirtschaftlichen Bereich, der sich aus sich heraus global vernetzt, kooperiert und die Existenz der Menschen solidarisch gewährleistet, sowie
- einen staatlich-rechtlichen Bereich, der sich nach außen territorial abgrenzt und nach innen die wechselseitige Abgrenzung von Geistes-, Rechts- und Wirtschaftsleben definiert und schützt. Durch Legislative, Exekutive und Judikative werden diese Regeln definiert, umgesetzt und durchgesetzt.

DAS EUROPA DES 21. JAHRHUNDERTS IST WEDER EIN STAATENBUND NOCH EIN EINHEITSSTAAT: ES IST ETWAS NEUES
Nationalistische Bestrebungen laufen dem genauso zuwider wie solche, Europa zu einem einheitlichen Staat zusammenzuschließen. Sie gehen dreifach an der Lebensrealität vorbei.
Das erkennt man entweder aus der Beobachtung des Lebens (vgl.o.) oder aus den Krisen, die aus der Missachtung dieser Lebensgesetzmäßigkeiten resultieren. Das reale gesellschaftliche Leben verläuft eben anders als man es sich ausdenkt hat oder sympathisch findet. Es hat seine immanenten Gesetzmäßigkeiten, und wenn man die ignoriert, bekommt man dafür die Rechnung.
Die Krisenphänomene sind tagein, tagaus in allen Medien; ich fasse sie hier nur nach ihrem jeweils gemeinsamen Muster zusammen:
- Wo es Tendenzen zur ideologischen Gleichschaltung gibt, zu Nationalismus, Meinungszwang, Unterdrückung von Minderheiten, Diskriminierung von Menschen mit anderer sexueller, religiöser, weltanschaulicher, kultureller… Identität, da revoltieren die Menschen, denn es widerspricht dem Grundbedürfnis jedes Individuums nach seiner geistigen FREIHEIT.
- Wo Lobbyismus, Ungerechtigkeit und Korruption blühen, wo alle theoretisch zwar gleich sind, manche aber doch gleicher (weil sie einer bestimmten Partei angehören, weil sie über die entsprechende GeldMacht verfügen…), wo die Gewaltentrennung unterminiert oder aufgehoben wird, da widerspricht das dem Grundbedürfnis der Bürger nach GLEICHHEIT im staatlich-rechtlichen Leben.
- Und wo die Menschen nicht mehr wissen, wovon sie leben sollen, wo ihre Zukunft und die ihrer Kinder bedroht ist, wo die Reichen immer Reicher und die Armen immer ärmer werden… weil die Menschen keinen Einfluss auf die Märkte haben, denen sie ausgeliefert sind… – : da entstehen soziale Spannungen, denn es widerspricht dem Grundbedürfnis der Menschen nach solidarischer BRÜDERLICHKEIT im wirtschaftlichen Leben.
Freiheit! Gleichheit! Brüderlichkeit! – das waren bislang bloße Schlagworte. Sie wurden nicht als das erkannt, was sie realiter sind: die unaufhaltsamen sozialen Evolutionsimpulse der Menschen.
Diese sozialen Lebenstatsachen werden nach wie vor in den Pro- oder Contra-Europa-Diskussionen nicht wahrgenommen. Diese sind noch vollkommen in den Denkmustern des 19. und 20. Jahrhunderts gefangen: Nationalstaaten, Grenzen, Parteien, Wahlen, Parlament, Regierung… Man hat seit Jahrzehnten versucht, mit „Europa” das Nationalstaats-Modell auf europäische Dimensionen aufzublasen. Das musste scheitern, denn es entspricht ja nicht einmal auf nationaler Ebene den drei Lebensrealitäten, geschweige denn auf europäischer! Darum konnte es auch gar nicht anders kommen als dass die EU, ja der ganze Europagedanke für viele Menschen zum Feindbild wurde und sie nun nur noch vorwärts in die Vergangenheit wollen. Sowohl der Europa-Romantizismus als auch der National-Romantizismus ignorieren, dass das bisherige, einheitliche Gesellschaftsmodell ein fataler Anachronismus ist.
Die Menschen wollen ihr Leben (Sprache, Religion, Weltanschauung, Kultur im engeren Sinne, ethnische und sexuelle Identität…) individuell und frei leben, ohne dass der Staat (und sein Territorialitätsprinzip) sie dabei irgendwie einschränken. Sie akzeptieren es nicht, wenn eine Staatsmacht sie diesbezüglich innerhalb von Staatsgrenzen einzwängt (ein Staat – ein Volk – eine Ethnie – eine Sprache – eine Religion…). Sie revoltieren dagegen bis zu Sezessionsbewegungen, und am Ende der Konflikteskalation steht manchmal sogar der Bürgerkrieg. Ob Region oder Staat oder Europa: für das individuelle, geistige Leben sind solche Grenzen nicht nur irrelevant, sondern Fesseln.
Auch für das wirtschaftliche Leben ist "Europa" bedeutungslos. Das Wirtschaften gedeiht umso besser, je weniger ihm das Territorialprinzip aufgezwungen wird (etwa indem die Politik einen abgeschotteten, protektionistisch-merkantilistischen Wirtschaftsraum schafft wie dzt. in den USA). Je mehr der Staat sich in Unternehmen einmischt (Planwirtschaft, Staatsbetriebe, parteipolitische Einflussnahmen…), desto dysfunktionaler werden sie; je weniger Staat, desto besser gedeihen sie.
Das Wirtschaftsleben darf sich aber nicht seine eigenen Spielregeln festlegen (weder direkt noch indirekt, durch Lobbying). Was bei der wirtschaftlichen Entwicklung und insbesondere bei der Globalisierung schief gegangen ist, war nicht die Entgrenzung des Handels an sich. Der Staat hat dem Wirtschaftsleben gegenüber seine zentrale Aufgabe unzureichend wahrgenommen: ihm Regeln und Grenzen vorzuschreiben. Das gilt insbesondere für Grundsatzfragen wie: Was darf zur Ware gemacht werden und was nicht? Wer muss an den Preisbildungs-Prozessen gleichberechtigt beteiligt werden? Das sind normative Rechtsfragen, keine Wirtschaftsfragen! Stattdessen torkelt der Staat nach wie vor – je nach Regierung – zwischen Regulierung und Deregulierung hin und her („zu wenig und zu viel ist des Narren Ziel“). Weil der Staat seine genuine Aufgabe nicht mehr wahrnimmt und sich den Märkten ausliefert, spaltet die Globalisierung die Menschheit in Gewinner und Verlierer. Solche normativen Grundregeln können freilich nicht von einzelnen Staaten allein umgesetzt werden, nur staatenübergreifend. Länder, in denen das selbe grundlegende rechtsstaatliche Selbstverständnis besteht, brauchen keine Grenzen zwischen einander. Bestehende Grenzen werden nicht aufgelöst; sie werden schlicht bedeutungslos – so wie es mit den aufgehobenen Grenzkontrollen zwischen EU-Staaten schon gut angefangen hat. Die Konsequenz davon ist aber zugleich: diese Staaten müssen sich territorial nach außen klar abgrenzen: von jenen Ländern, wo ein anderes rechtliches Selbstverständnis besteht ("illiberale Demokratien" bzw. Diktaturen). So entstehen stabile und belastbare Staatenverbände. Deren Binnengrenzen sind für die Individuen und Völker (Gruppen gemeinsamer Identität, ethnoi) genauso irrelevant wie für das Wirtschaftsleben. Zwischen Staaten (demoi), die auf einem „Konsens über das Verfahren legitimer Rechtsetzung und Machtausübung“ (Habermas) basieren, ist er die Grundlage für gemeinsames Recht. Sie können gemeinsame Gesetze beschließen, eine gemeinsame Rechtsprechung ausüben und dieses Recht durch gemeinsame Organe durchsetzen. So wird aus Staatsrecht überstaatliches Recht, Weltrecht. Das ist unverzichtbar, damit Grundrechte weltweit durchgesetzt werden können. Eine internationale Legislative, Judikative und Exekutive bedeutet für die Nationalstaaten einen Souveränitätsverlust. Wenn ein Staat die Institutionen des Weltrechts anerkennt, ordnet er ihm die eigenen Rechtsinstitutionen unter. Insbesondere müssen die Institutionen des Völkerrecht über der Macht einzelner Regierungen stehen. Das kann etwa in Form einer Verfassung sein, die von den Bürgern beschlossen wird und auch wieder nur durch Volksentscheide veränderbar sein darf. (Regierungen, die die Menschenrechte ihrer Bürger ungestraft verletzen wollen weigern sich deshalb standhaft, internationale Rechts-Institutionen anzuerkennen, das sich ihrem Einfluss entzieht. Sie könnten ja zur Rechenschaft gezogen werden. Darum ist ihr Pochen auf ihrer nationalen Souveränität stets ein Alarmsignal.)
Wenn man sich also an den drei gesellschaftlichen Realitäten orientiert, erkennt man, dass die historische Aufgabe des Nationalstaats abgeschlossen ist. Dieses Modell taugt im 21. Jahrhundert nicht mehr als Orientierungsrahmen für Europa. Es ist Zeit für die Metamorphose der Raupe zum Schmetterling, für die Verwandlung der Nationalstaaten und der EU zu etwas Neuem, was sich aus dem Bisherigen organisch von selbst entwickelt, wenn man es lässt. Sobald man den drei Impulsen des geistigen, wirtschaftlichen und rechtlichen Lebens nachspürt und jeden sich entwickeln lässt, metamorphosiert sich das Konstrukt „Europa” genauso wie die Nationalstaaten in drei von einander unabhängige, eigenständige, selbstorganisierte und selbstverwaltete Gesellschaftsbereiche.
Weil diese drei Impulse eben keine Utopie sind, sondern dem realen Leben entstammen, haben sie sich auch überall dort, wo den Menschen das nicht verwehrt wurde bereits durchgesetzt.
- Wo das Grundbedürfnis nach geistiger Freiheit sich entfalten kann, hat es zu liberal-pluralistischen Verhältnissen geführt, wo jeder nach seiner Fasson selig werden kann, wo Gedanken-, Gewissens-, Meinungs-, Religions- / Weltanschauungsfreiheit herrschen, freie Wissenschaft und Forschung usw.
- Wo das Bedürfnis nach Gleichheit und Gerechtigkeit sich entfalten konnte, hat das zu Verfassungs-basierten Rechtsstaaten mit Gewaltenteilung geführt.
- Am wenigsten konnte sich das Bedürfnis nach Gemeinwohl-orientierten, solidarischen Wirtschaftsverhältnissen bislang geltend machen. Deshalb war der Staat gezwungen, die Kollateralschäden des zu wenig regulierten Wirtschaftens zu kompensieren – nicht gerade mit durchschlagendem Erfolg. Solche staatlichen Interventionen erübrigen sich, wenn der Staat grundsätzlich festlegt, dass nicht wie bisher die Märkte die Preise bestimmen, sondern die betroffenen Menschen. Wenn nicht nur die mächtigsten, sondern alle Stakeholdergruppen einen Konsens für Preise zu finden, von denen alle leben könen, ist eine politische Intervention von außen überflüssig. "Brüderlichkeit" – oder Sozialität, oder Gemeinwohl… – ist das Ergebnis des Ausgleichs der Interessen aller Beteiligten, wenn alle Interessengruppen ihre Bedürfnisse gleichberechtigt geltend machen können. Das wirtschaftliche Wohl Aller entsteht nicht sofort durch individuelle ethische Impulse, sondern dadurch, dass ihre Eigeninteressen erst einmal aufeinanderprallen und sich i.d.F. im gegenseitigen Verständnis ausgleichen. – Auch diese Realität würde sich sofort durchsetzen wenn nicht die bestehenden Paradigmen (Stichwort: Homo oeconomicus) und Strukturen (Neoliberalismus) sie daran hindern würden. Im Wirtschaftsleben herrscht also auch in den ansonsten höchstentwickelten liberalen Demokratien noch das Recht des Stärkeren, hier ist – man führe sich nur die ökosozialen Auswirkungen des Neoliberalismus vor Augen – der dringendste Veränderungsbedarf.
Wenn man diesen Realitäten folgt anstatt den überlebten Vorstellungen von „Nationalstaat” und „Europa”, transformieren sich auch die bestehenden gesellschaftlichen Einrichtungen schrittweise, und zwar auf jeder Ebene – lokal, regional, national und international:
- Schulen, Universitäten, alle kulturellen und religiösen Einrichtungen und auch die Gerichte entziehen sich jedem politischen Einfluss. Der Staat sorgt nur noch dafür, dass alle Menschen gleichen / gerechten Zugang zur Bildung haben. Er schreibt den Institutionen einen gewissen Rahmen vor, übt aber weder inhaltlich (Lehrpläne) noch personell (Führungsposten) auf diese Institutionen ein.
- Der Staat regelt auch, dass die Wirtschaft sich in eigenständigen „Wirtschaftsparlamenten” koordiniert und in lokalen, regionalen, nationalen und internationalen Kooperativen eigenständig verwaltet. Er regelt auch das Wie, nämlich dass diese Kooperativen aus Stakeholdergruppen gebildet werden, in denen nicht nur wie bisher die Mächtigsten sich ihren Platz verschaffen, sondern in denen alle Betroffenen vertreten sind. Die Globalisierung erhält durch ein Weltrecht einen klaren, verbindlichen Rahmen. Die Wirtschaft herrscht nicht mehr über die Menschen, sondern die Menschen lenken ihre wirtschaftlichen Prozesse.
- Die staatlichen Institutionen werden sich auf ihre rechtlichen Kernkompetenzen fokussieren: Legislative und Exekutive. Letztere wird dann keine Regierung im bisherigen Sinne mehr sein. Fundamentale ökologische und soziale Richtungsentscheidungen werden die Bürger in deliberativen Versammlungen selbst treffen und sie zur Umsetzung der Exekutive übertragen. Dasselbe gilt für die europäischen Instanzen. Die EU wird sich nach und nach in eine Assoziation von Staaten verwandeln, deren verbindende Basis ein freiheitlich-pluralistisches Grundrechte-Verständnis ist. Dafür verzichten die Staaten auf einen Teil ihrer Souveränität, sodass eine inter-nationale Legislative, Exekutive und Judikative möglich werden, die von keiner Regierung mehr geschwächt oder ausgehebelt werden können.
Mit „Staaten” oder mit dem „Europa”, wie wir es jetzt kennen wird das nicht mehr viel zu tun haben. Es liegt auch quer zu allem, was heute politisch und wirtschaftlich diskutiert wird. Mir ist klar, wie ungewohnt und befremdlich diese Überlegungen sind. Der Mensch orientiert sich am Bekannten, Gewohnten, Vertrauten. Er sucht den Schlüssel im Licht der Laterne. Wenn er tatsächlich dort liegt, ist das zielführend. Wenn der Schlüssel aber ganz wo anders liegt, die Suche aber dennoch im Altbekannten weiterbetrieben wird, wird das Vergangene zum Korsett für die Zukunft; dann wird die dringende gesellschaftliche Evolution unmöglich (und der Druck im Kochtopf steigt und steigt…). Was so fremd klingt, wird auch leicht als "utopisch" abgetan. Dabei ist es das Allerutopischste, zu glauben, dass es mit "Europa" so weitergehen kann wie bisher.
Die Menschheit entwickelt sich weiter. Was lange Zeit als völlig normal galt, wird irgendwann als nicht mehr zeitgemäß und überwindungsbedürftig empfunden. Sklaverei, Hexenverbrennungen, religiöser Zwang, Gewalt, Krieg, die tradierten gesellschaftliche Rollenbilder, männliche Dominanz und weibliche Unterordnung etc. etc. – : all das war lange selbstverständlich und quasi-natürlich. Bis es eben überlebt war.
Genauso überlebt und potentiell hochgefährlich sind heute die Nationalstaaten und die davon abgeleiteten Einrichtungen wie die EU. So gut wie alle ökologischen, wirtschaftlichen, politischen und geistigen Krisenphänomene haben ihre Ursache darin, dass an den gewohnten, vertrauten Vorstellungen von Staat und Wirtschaft festgehalten wird. Darum ist es höchste Zeit, dass wir auf die beschriebenen drei Realitäten hinschauen, hinspüren, und insbesondere dann tun, was sie uns sagen.

Vorschlag für eine neue Europaflagge (Übergangslösung HpR 2018)
[Revidierte Fassung vom 9.1.2018]
[Diese in kürzeren Abständen erscheinenden Beiträge setzen sich mosaikartig zu einem neuen Gesamtgesellschaftsmodell zusammen. Sie sollen dessen organische Schlüssigkeit und universelle Anwendbarkeit zeigen. Ihr eigentlicher Sinn und Zweck ist jedoch die Umsetzung dieses Modells – im Kleinen wie im Großen. Dafür müssen Sie weiter verbreitetwerden. Vielen Dank dafür im Voraus!