VON NIXON BIS TRUMP…

Am 17. Juni 1972, heute vor 50 Jahren, entdeckte ein Wachmann im Watergate-Gebäude, der Zentrale der Demokratischen Partei, einen Einbruch. Der Rest ist Geschichte.
Wo sind die Parallelen, wo die Unterschiede zu heute?
In den 70ern gab es in dem Teil der Welt, der sich als „zivilisiert“ bezeichnete einen unausgesprochenen Konsens darüber, was Tatsachen und was Phantasien waren, über das moralisch Gebotene / Verbotene, über das ethisch Tolerable / Intolerable. Ich kann mich an diese unausgesprochenen und expliziten Gebote und Tabus aus meiner Kindheit und Jugendzeit noch deutlich erinnern. Es gab durchaus einen persönlichen und politischen Opportunismus, der mir Brechreiz verursachte, aber er hatte Grenzen. Es gab Differenzen zwischen politischen Gegnern, Intrigen zuhauf, aber niemandem fiel es ein, die Faktizität an sich in Frage zu stellen. „Alternative Fakten“ wären jenseits jeder Vorstellungskraft gewesen. Entwicklungen wie derzeit in den USA, wo öffentlich von einer ganzen Partei und Millionen ihrer blinden Anhänger Fakten geleugnet werden, wo sie entgegen jeder Evidenz von einer „gestohlenen Wahl“ überzeugt sind, wären zu Nixons Zeiten undenkbar gewesen. Genauer gesagt, nicht diese oder jene Fakten werden angezweifelt; die Faktizität an sich wird bestritten – dass es so etwas wie unleugbare Tatsachen, Zahlen und Fakten überhaupt gibt, wenn sie dem widerspricht, was man selbst dafür halten möchte. „Ich mach’ mir die Welt wide-wide-wie sie mir gefällt.“
Diese Spaltung im Fundament menschlicher Kommunikation, im Konsens über intersubjektive Tatsachen, führt dazu, dass die Menschen nicht mehr miteinander reden können. So ist die US-amerikanische Gesellschaft inzwischen auch weitaus gespaltener als seinerzeit. Und das in einem Grad, dass insbesondere die republikanischen Wählergruppen überhaupt keine andere Meinung als die eigene mehr hören, geschweige denn sich damit auseinandersetzen wollen. Und wenn diese Meinung noch so eklatant allen Fakten widerspricht – umso schlimmer für die Tatsachen! Denn Fakt ist nicht, was Fakt ist, sondern, was wir dafür erklären. Was Andere hingegen behaupten, ist nichts als Erfindung und Verleumdung.
Deshalb geht es auch bei den derzeit laufenden Anhörungen zum Sturm auf das Kapitol nicht um Faktensuche. Es gibt überwältigend viele Fakten, die die Verantwortung Trumps mehr als eindeutig untermauern. Das Problem ist: kein Republikaner will sie hören! Jedes Medium, jede Person, egal: wer nicht auf Trumps Seite ist, ist Teil des feindlichen Lagers und wird ignoriert. So geht Trumps giftige Saat üppig auf, wonach es nur seine Wirklichkeit gibt. Dem stimmt man entweder zu (und ist damit auf seiner Seite) oder auch nicht (dann gehört man zum feindlichen Lager). Willfährige Gefolgsleute hier, Gegner dort. Wer nicht für mich ist, ist gegen mich. Der Umgang Trumps, der Republikanischen Partei und ihrer Millionen Anhänger mit allen Anschuldigungen, und seien sie noch so faktenmäßig belegt, macht den Verfall der amerikanischen Gesellschaft während des letzten halben Jahrhunderts überdeutlich.
Die Partei hatte vor einem halben Jahrhundert noch ein Gespür für das moralisch und demokratiepolitisch Tragbare. Ihre Repräsentanten hatten noch einen Rest von moralischem Rückgrat. Sie waren dem Präsidenten nicht bedingungslos ergeben, sondern grenzten sich an einem bestimmten Punkt doch eindeutig und unwiderruflich von ihm ab. Die Institutionen und Abläufe funktionierten bei der Watergate-Krise so, wie es die Gründungsväter für etwaige Fehlentwicklungen und Krisen vorgesehen hatten, die sie sich als Menschen des 18. Jahrhunderts (!) ausmalen hatten können. Das oft zitierte Prinzip der „Checks and Balances“ brachte Nixon schlussendlich zu Fall.
Heute ist das Gegenteil der Fall. Die Anhörungen zum Sturm auf das Kapitol bringen einmal mehr die restlose Korrumpiertheit der Republikaner ans Licht. Seit seiner Kandidatur für diese Partei 2015 stellt er ihre Repräsentanten wieder und wieder vor die Wahl: seid ihr für mich oder gegen mich? Wollt ihr als meine willenlosen Werkzeuge Macht und Geld behalten oder wollt ihr von mir vernichtet werden? So gut wie vollzählig – von vereinzelten Ausnahmen wie John McCain abgesehen – verkauften sie als Antwort ihre Seele an das Böse. (Anders kann man Trump kaum sehen, wenn man seine Präsidentschaft Revue passieren lässt. Anstatt diese Unterstellung mit zahllosen Beispielen zu belegen, fordere ich schlicht auf, ein einziges Gegenbeispiel zu bringen, ein einziges Beispiel, wo nicht das Böse in Wort und Tat aus ihm gesprochen hätte.)
Diese Partei hat kein Gespür mehr für das moralisch und demokratiepolitisch Vertretbare. Schlimmer noch: sie spüren nicht bloß das moralisch und demokratiepolitisch Vertretbare nicht mehr, sie wollen es nicht mehr spüren, sie verweigern sich jedem moralischen Empfinden.
Deshalb wendet sich die überwältigende Mehrheit der Republikaner nicht einmal heute (2022) von Trump ab, ungeachtet seines irrlichternden Furors und seiner ziellosen Zerstörungswut. Sie sind mit ihm auf Gedeih und Verderb vereint im Kampf gegen Wahrheit und Fakten, gegen Gerechtigkeit, Liberalität, Sozialität… Ihre mächtigen Repräsentanten kehren die Macht, die die Demokratie ihnen verschafft hat gegen sie selbst. Sie belegen tagein, tagaus, dass die Väter der US-Verfassung doch nicht für alles vorgesorgt hatten. Die Vereinigten Staaten sind unchecked & unbalanced.
In dieser oder jener Zeitung las ich letztes Jahr nach der Abwahl Trumps, dass die US-Demokratie damit gerade noch einmal davongekommen sei und so ihre Bewährungsprobe bestanden habe. O nein; keine Rede von „gerade noch einmal davongekommen“. Die Checks and Balances hatten sich, wie spätestens im Jänner dieses Jahres erschreckend klar wurde, gerade nicht bewährt. Es war die Repräsentative Demokratie, die damit offensichtlich gescheitert war. Sie hatte zuvor, 2016, einmal mehr die „Falschen“ an die Macht gebracht. Nur weil jetzt die „Richtigen“ gewählt wurden, heißt nicht, dass wieder alles in Butter wäre. Mir graut schon vor den kommenden Wahlen 2024, wo es zweifellos ein folgenreiches Wiedersehen mit Trump geben wird. Die Krise ist nicht schon ausgestanden, wenn Trump endgültig weg vom Fenster ist; sie ist erst dann ausgestanden, wenn niemand wie er mehr Präsident werden kann.
Wenn dem so ist – wovon ich überzeugt bin –, dann hat das Konsequenzen, die weit über die USA und die dortigen politischen Verhältnisse hinausgehen. Dann ist das Problem nämlich generell nicht bloß der eine oder andere ungeeignete Politiker (den man abwählen könnte). Dann ist das Problem auch nicht bloß die eine oder andere Partei (auch hier wäre eine Abwahl die Lösung). Dann sind das eigentliche Problem die Wahlen selbst, die manchmal die Richtigen an die Macht bringen, öfter die weniger Richtigen, und immer öfter auch die gefährlich Falschen.
„Richtige“ Politiker und Parteien würde ich solche nennen, die das langfristige Wohl der Menschheit und der Erde über den eigenen kurzfristigen Vorteil und über Partikularinteressen stellen; „falsche“ Politiker und Parteien vice versa.
Hier liegt die Crux: Parteien und Politiker sind per definitionem Repräsentanten ihrer Wählergruppen und deren Partikularinteressen. Daher die Idealvorstellung, die Macht der Vertreter dieser Partikularinteressen laufend zu kontrollieren und die gegensätzlichen und meist unvereinbaren politischen Bestrebungen irgendwie auszutarieren – Checks and Balances eben.
Eine repräsentative Demokratie benachteiligt systemisch Parteien und Politiker, die das kurzfristige Wohl ihrer Wähler-Klientel dem langfristigen Wohl des Großen Ganzen unterordnen. Sie werden nämlich nicht wiedergewählt. Sie werden von den Wählern dafür abgestraft, dass sie ihre Partikularinteressen ignoriert haben. Wahlgewinner sind hingegen immer häufiger jene Politiker, die ihre Wählergruppen nicht enttäuschen und deren kurzsichtige Partikularinteressen obenan stellen. Politik ist immer Klientelpolitik.
Das erklärt, warum die Demokratie am besten nach den größten Krisen funktioniert – zumindest in jenen Ländern, wo sie genügend Wurzeln geschlagen hat in der kurzen Zeit ihres Bestehens. Die Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg werden in Mitteleuropa immer wieder wie eine „goldene Zeit“ der Demokratie beschworen, wo die Politiker halt noch Persönlichkeit hatten und von einem anderen Kaliber waren als heutzutage… Der Wiederaufbau nach der totalen Zerstörung war nur durch Konsensbereitschaft über Parteigrenzen hinweg möglich war. Es gab, gesamtgesellschaftlich gesehen, so gut wie keine gegensätzlichen und einander ausschließenden Gruppeninteressen wie ein halbes Jahrhundert später. Die Überwindung der Not und das Interesse am Wiederaufbau schweißten die Menschen zusammen. Politiker konnten nur unter der Voraussetzung gewählt werden und sich i.d.F. nur profilieren, dass sie diese gruppenübergreifenden Interessen vertraten und umsetzten.
Je besser es den Menschen aber geht, desto weniger gesamtgesellschaftliche Interessen gibt es. Jede Bevölkerungsschicht hat ihre eigenen Interessen, die denen der anderen zuwiderlaufen. Je stärker diese Gruppeninteressen sich geltend machen, desto weniger können Politiker an gesamtgesellschaftliche Interessen appellieren, sofern sie Wahlen gewinnen wollen, d.h. desto weniger wollen sie das auch. Die anteilsmäßig stärksten Interessengruppen der Bevölkerung nötigen Politiker mehr oder weniger dazu, sich als deren
Interessenvertreter zu inszenieren, ihrer Partikularinteressen – und gleichzeitig gesamtgesellschaftliche Interessen hintanzustellen, und seien sie ökologisch oder sozial noch so existenziell.
Die Konsequenz davon ist, dass heutzutage derjenige Wahlen gewinnt, der diese Schwachstelle im System am besten ausnutzt: Politiker, die es schaffen, die Partikularinteressen ihrer Wählergruppe am trickreichsten anzusprechen und am perfidesten für sich zu nutzen. Die Art Politiker, die emotionalisiert, manipuliert, polarisiert. Die Art Politiker, die sich als erhaben über jegliche Fakten erweist. Muss ich Namen aufzählen? Und muss ich diesen (Erfolgs)Typus Politiker benennen?
Sie bloß als „Populisten“ zu diffamieren, wäre zu kurz gegriffen. Es würde anderen Politikern erlauben, sich in moralischer Überlegenheits-Attitüde von „den Populisten“ abzugrenzen – obwohl sie ihre Wahlen mit genau den selben Mitteln gewonnen haben (wenn auch in vorsichtigerer „Dosierung“). Wer gewählt werden will, muss die Gruppeninteressen einer hinreichend großen potentiellen Wählerschaft ansprechen. Die politische Landschaft teilt sich also in drei Lager: Rechtspopulisten, Linkspopulisten – und Zentrumspopulisten.
Von Nixon bis Trump und darüber hinaus…: Wenn wir das Bild der USA richtig deuten wollen, müssen wir es als Vergrößerungsspiegel unserer eigenen demokratischen Verhältnisse erkennen. Die USA führen seit Jahren vor, was in liberal-pluralistischen Demokratien noch schlummert und in illiberal-uniformistischen Regimen bereits Realität ist: die Instrumentalisierung von Wahlen zur Zerstörung der Demokratie. Die USA sind ein Bild dessen, wohin es auch bei uns gehen wird, wenn wir das Grundübel der Demokratie-Krise nicht erkennen und ersetzen: die Wahlen.
Sowohl Legislativen als auch Exekutiven können so umgestaltet werden, dass die Gesellschaft als Ganzes sich mit ihnen identifiziert (was durchaus Ausnahmen zulässt, die die Regel bestätigen). Die Legislative kann – auf jeder Ebene: national, regional, lokal – eine echte Vertretung der Gesamtinteressen der Gesellschaft werden. Und auch eine Exekutive – ich vermeide das Wort „Regierung“ bewusst –; auch eine Exekutive ist möglich, die in unpolitischen Sachentscheidungen den Interessen der Gesellschaft dient. Wie konkret, habe ich in meinem Manifest umrissen; ich beschreibe es nochmals ausführlicher in einem bald folgenden Beitrag.