PARTEIEN: TEIL DES PROBLEMS, NICHT TEIL DER LÖSUNG

[Update 17.4.2019: Ich bereite eine Buchpublikation zu dem Thema vor. Stay tuned… Kostprobe hier; letzter Abschnitt.]
Wenn eine politische Partei in der Krise ist, ist es eine Parteikrise. Wenn alle Parteien mehr oder weniger in der Krise sind, dann ist das eine Systemkrise – eine Krise des Parteien-Systems. Die politische Entwicklung weist seit Jahren in die Richtung einer fundamentalen Krise des Parteiensystems. Wobei die Parteien na nur wenige überzeugte Anhänger haben; die meisten empfinden sie als die Kröte, die man halt schlucken muss, wenn man eine Demokratie haben will. (Wir sehen ja da… und da… die "Alternativen".)
Welche sind die Krisensymptome?
- Die traditionellen Volksparteien sind haben abgewirtschaftet und dümpeln auf Rekordtiefs herum,
- Erfolge haben hingegen radikale Parteien und Rattenfänger, die mit ihrem hohlen Versprechen, endlich mit dem "Sumpf" aufzuräumen die Wähler anlocken,
- Erfolge haben Personen-zentrierte Parteien, die sich als "Bewegungen" gerieren, und
- Politiker, die sich von den traditionellen Parteien abgrenzen – inhaltlich und von ihrem Vorgehen her.
Wer auch nur kurz überlegt, findet selbst zu jedem Punkt Beispiele. Oberflächlich gesehen, ist die Krise einem Versagen der Politiker geschuldet, für das sie nun die Rechnung präsentiert bekommen. Man kann das Problem jedoch auch grundsätzlicher betrachten, als systemische Krise und als einen sich anbahnenden Paradigmenwechsel: als Geburtswehen von etwas grundlegend Neuem, für das die Parteiendemokratie nur eine Vorstufe war. Denn wie sagte Nietzsche so treffend? "Das waren Stufen für mich, ich bin über sie hinaufgestiegen – dazu mußte ich über sie hinweg. Aber sie meinten, ich wollte mich auf ihnen zur Ruhe setzen…"
ES HAT SYSTEM, ES IST SYSTEM
Woher kommt der massive Vertrauens- und damit Legitimationsverlust der Politik? Warum wenden sich so viele Menschen von der Politik ab, ja sogar von der Demokratie? Grob gesagt, weil sie sich nur noch um sich selbst dreht. Sie ist selbstreferenziell geworden. Politischen Einfluss erlangt ausschließlich, wer sich in den Parteien mit bedingungsloser Loyalität und spitzen Ellbogen nach oben kämpft. (Die politischen Karrieren parteiloser Quereinsteiger sind meist von kurzer Dauer; sie bestätigen die Regel.) Wer eine Stufe auf der Leiter der Macht weitergeklettert ist, hat kein anderes Interesse als weiter nach oben zu kommen oder oben zu bleiben. Diesem Primärziel werden alle anderen untergeordnet, sodass Politik zu Opportunismus und PR verkommt. Kein Politiker riskiert eine Wahl oder gar seine Karriere durch langfristig notwendige, kurzfristig aber schmerzhafte Entscheidungen.
Wie im vorigen Kapitel ausgeführt, ist für politische Arbeit Entscheidungskompetenz unabdingbar. Politik braucht Macht. Was wäre ein machtloser Politiker? Ein Widerspruch in sich. Macht ist die Ressource politischen Handelns schlechthin. Dieses Faktum ist aber nicht nur statisch zu betrachten; es entwickelt eine typische systemische Dynamik: Je mehr Machtressourcen, desto mehr Gestaltungsmöglichkeiten. Macht bringt Einfluss bringt Macht.
Über die Ursachen von Freiheit und gesellschaftlicher Unterdrückung,
Damit drängt sich die Macht, das Mittel-zum-Zweck jedoch in den Vordergrund. Das Mittel-zum-Zweck wird zum Selbstzweck. Es ist eine Zielverschiebung von Aufgabenbewältigung zu Machtvergrößerung, und das bedeutet: von Sachthemen zuParteien- und Politikerinteressen.
Je weniger die Politik zum Ziel hat, etwas Sinnvolles für die Gesellschaft zu leisten, und je mehr sie nur noch das Mittel hierfür im Auge hat, nämlich die Macht, desto mehr erodiert sie ihre eigentliche Legitimationsgrundlage. Die Parteien-Politik höhlt sich also – aus einer ihr selbst innewohnenden Dynamik – immer mehr selbst aus bis sie irgendwann in sich zusammenbricht. Die Krisensymptome, die das ankündigen sind nicht mehr zu übersehen.
Solchen Diagnosen wird reflexartig entgegengehalten, dass die Konkurrenz zwischen den Parteien dafür ja eine Gegendynamik sei. Wenn Partei A nur noch für ihren Machterhalt arbeitet und die Gesellschaft dabei aus den Augen verliert, verliert sie das Vertrauen der Wähler, sodass bei den nächsten Wahlen Partei B die Mehrheit erlangt. Aber auch Partei B, C, D usw. haben diese selbstzerstörerische Eigendynamik, sodass das eigentliche Problem nur von A zu B, C, D… verschoben wird, aber in keiner Weise gelöst. Die Implosion der Parteiendemokratie wird nur aufgeschoben, nicht aufgehoben.
Zu der beschriebenen Erosions-Dynamik jeder Partei kommt durch die Konkurrenz zwischen den Parteien jedoch eine zweite, die typische selbstverstärkende Dynamik des Wettrüstens: A fühlt sich von B bedroht und versucht durch Aufrüstung der Bedrohung Herr zu werden, was B als Bedrohung durch A empfindet, die er seinerseits durch noch größere Aufrüstung beantwortet. Jeder Machtgewinn des einen bedeutet ein Machtdefizit für seine Konkurrenten, das diese umgehend zu kompensieren versuchen. Beide schaukeln sich in einer Rückkopplung bis an ihre Ressourcen-Limits auf – oder bis zum Showdown. Wer also an der Macht ist, kann systemisch nur danach streben, diese Macht zumindest zu behalten, wenn möglich jedoch noch zu vergrößern. Das Gleiche gilt für seine Rivalen und Untergebenen, die ihn stürzen wollen und deshalb von ihm klein gehalten werden müssen.

DER KONSTRUKTIONSFEHLER DER PARTEIENDEMOKRATIE
Wenn Parteien primär auf Macht hinarbeiten (ohne welche sie nichts bewirken könnten), ist logisch, dass dieses Streben nirgends von selbst Halt macht. Es kann keinen Punkt geben, an dem eine Partei sagen würde: Genug, so reicht es völlig; mehr Macht brauchen wir nicht. Alles was für ihre Macht relevant ist versuchen Parteien unter ihre Kontrolle zu bringen. Zudem, täte es Partei X nicht, dann täte es die Parteien-Konkurrenz, und dann hätte man das Nachsehen. – Kurz, es kann in diesem System kein Stopp! und kein Genug geben.
Weil die Gesamtressourcen – die Wählerstimmen – immer 100% betragen, ist das Buhlen um die Macht ein Nullsummenspiel. Je mehr Macht die Partei A erlangt, desto weniger bleibt für Partei B, C, D… Jeder Erfolg, jeder Machtzuwachs für eine Partei ist zugleich ein Machtverlust für alle anderen. Das kleinste Bisschen Macht, das man nicht zu ergattern in der Lage ist reißen andere an sich; da bleibt nichts übrig. Man braucht nicht über die Charakterschwächen („Machtgeilheit“ u.ä.) der Politiker zu spekulieren, um ihr Verhalten zu erklären. Sie stehen unter dem systemischen Zwang, ihre Macht zu vergrößern bzw. zu verhindern, dass die Mitbewerber punkten.
An die Stelle der Konkurrenz um die besten gesellschaftlichen Lösungskonzepte schiebt sich somit die Konkurrenz um Macht. Die Politik wird selbstreferenziell. Wenngleich das System der Parteien-Politik nur systemkompatible Menschentypen – Machtmenschen – anzieht und diese Eigenschaft – Machtgier – verstärkt, kann es nicht anders funktionieren. Diese Dynamik ist systemimmanent. Das ist der Konstruktionsfehler der Parteien-Demokratie schlechthin.
JEDE PARTEI IST PER SE POPULISTISCH
Das bleibt freilich nicht ohne Nebenwirkungen. Gerade in den letzten Jahren war im politischen Konkurrenzkampf mit den „Populisten“ ein Verfall zu beobachten, wie man ihn nicht für möglich gehalten hätte. Offenbar zögern Politiker keiner Couleur mehr, die Prinzipien ihrer Partei und die eigenen – wenn sie je welche hatten – über Bord zu werfen, sofern das Wählerstimmen verspricht. Einer der fundamentalen Ansprüche eines Menschen an sich selbst und an andere ist wohl, zu versuchen, das Richtige zu erkennen und zu tun. Der Mensch ist fehlbar und schwach. Oft erkennt er das Richtige nicht, oder er weiß zwar, was das Richtige wäre, tut es aber trotzdem nicht (vgl. Ovid: „Video meliora, proboque; deteriora sequor”, „ich sehe das Bessere und heiße es gut; [doch] folge ich dem Schlechteren“). Die Allermeisten sind sich dennoch „des rechten Weges wohl bewusst”: Sie wissen, dass sich nicht besser handeln können als nach bestem Wissen und Gewissen. Ermöglichen und fördern Parteien durch ihre Strukturen und Abläufe ein Handeln nach bestem Wissen und Gewissen? Oder be- und verhindern sie es?
Eine Partei, die sich auf die Fahnen schriebe „Uns geht nichts über das individuelle moralische Urteil unserer Mitglieder!“ wäre ein Widerspruch in sich. Es ist konstitutiv für Parteien, dass sie individuelles moralisches Urteilen und Handeln nicht tolerieren. Es würde sie in so viele Teile zerreißen wie sie Mitglieder haben. Es widerspricht dem Grundprinzip einer Parteilinie. Darum kann sie nur existieren, wenn sie ihr Programm über die individuellen Überzeugungen ihrer Mitglieder stellt. Sie würde sich selbst auflösen, würde sie ihre Mitglieder nicht konsequent und kompromisslos daran hindern, nach bestem Wissen und Gewissen zu handeln. Wer es trotzdem versucht (und das nicht nur heimlich), gilt als „Parteirebell“, als „Querkopf“ und „Abtrünniger“, und entweder kann er auf Kurs (d.h. zum Schweigen) gebracht werden, oder er wird eliminiert. Parteien sind somit geradezu Verhinderungsmechanismen dafür, dass ihre Mitglieder nach bestem Wissen und Gewissen entscheiden und handeln.
Ein Parteimitglied, das plötzlich allen Ernstes erklären würde, dass es ab sofort konsequent seinem Gewissen folge und nur noch das tue, was es für gut und richtig halte würde wohl im ersten Moment für verrückt gehalten. Im zweiten würde die Partei mutmaßen, diese Aktion sei das Vorspiel für einen vor laufenden Kameras inszenierten fliegenden Wechsel zur Konkurrenzpartei oder für einen Parteiaustritt. Würde sich beides nicht bestätigen, würde man wohl nur auf Quärulantentum und Rebellengeist schließen. Und entweder würde so jemand von leitenden Funktionären zur Besinnung gebracht oder aus der Partei ausgeschlossen werden. Das hat zur Folge, dass bei Parteien an allen Schalthebeln ihrer Macht gehorsame Parteisoldaten sitzen, die wiederum nur andere loyale Parteisoldaten nach oben kommen lassen. (In Österreich etwa kommt man auf keinen einflussreicheren Posten im Staats- oder staatsnahen Bereich ohne Parteibuch, ohne Zugehörigkeit zu dieser oder jener Partei- oder parteinahen Organisation (Kammern, Gewerkschaften, Bünde, Verbände, Burschenschaften…). Im sogenannten „Proporzsystem” ist das institutionalisiert: Es regelt genau, wie viele Posten und Gremien-Sitze z.B. im Stiftungsrat des österreichischen Rundfunks (ORF) jede Partei beanspruchen kann. Ausgewählt wird somit nicht nach Kompetenzen, sondern nach parteitaktischen Gesichtspunkten.)
Diese Gesinnungsgemeinschaft ähnelt einer Religionsgemeinschaft oder einer Sekte. Auch dort kann nicht jeder Gläubige einfach daherkommen und sagen, er folge nun nicht mehr den Glaubensdogmen sondern nur noch seiner eigenen spirituellen Einsicht und seinem Gewissen. Die Katharer haben das im 13. Jahrhundert versucht; die Antwort der kirchlichen Macht war die „heilige Inquisition”. Entweder haben diese „Ketzer” ihrem „Irrglauben” abgeschworen, oder sie wurden gefoltert und auf dem Scheiterhaufen verbrannt. Genauso erging es späteren Abtrünnigen und Mystikern, aber auch Naturwissenschaftlern (Galilei…), die es wagten, sich auf eigene Einsichten zu berufen und dadurch die Deutungshoheit der Kirchenhierarchie in Frage zu stellen. Die katholische Kirche wäre nicht katholisch (das Wort bedeutet „allumfassend”), wenn sie nicht jedes primär am eigenen moralischen Urteil orientierte Verhalten unterdrücken würde. Sie würde sich ansonsten ihre eigene Existenzgrundlage unterminieren. Dasselbe gälte für eine „freie Partei” – also eine, die ihren Mitgliedern gestattet, frei nach bestem Wissen und Gewissen zu sprechen und zu handeln. Sie wäre eine contradictio in adiecto.
KOMPLEXITÄTSREDUKTION MAL ANDERS
Unter anderem ist es Sinn und Zweck von Parteien, die Komplexität der unzähligen Meinungen und Willensrichtungen auf ein überschaubares Maß zu reduzieren, zu vereinheitlichen, zu kanalisieren und auf ein Ziel zu fokussieren: Wahlen zu gewinnen. Sie haben, bildhaft gesprochen, eine kollektive und zentripetale Funktion. Deshalb stellen alle individuellen und zentrifugalen Kräfte eine Bedrohung für Parteien dar. Ergo müssen sie unterdrückt oder eliminiert werden.
Da es somit in Parteien nicht um individuelle Überzeugungen, sondern um die Parteilinie und um den Parteinutzen geht, um ihr Wachstum, um ihren Machtzuwachs, zählt dort nur, was diesen Zielen dient. Bekämpft wird hingegen, was diesem primären Zweck schadet. Das prägt klarerweise das Verhalten von Parteimitgliedern: Sie suchen gar nicht erst nach dem Richtigen, und sie tun auch nicht was sie für richtig halten. Sie erklären für richtig, was die Partei ihnen vorgibt, und sie tun, was die Partei von ihnen zu tun erwartet. Je mehr eine Partei Partei ist, desto mehr rottet sie systemisch das Streben nach Wahrheit und Moral aus und ersetzt es durch Linientreue und Gehorsam. Man blicke nur nach China…
Da die Existenz der Partei und ihrer Mitglieder von Machterhalt und Machtzuwachs abhängt, ist jede Partei bereit, sich das auf die Fahnen zu schreiben, was ihr Wählerstimmen (Macht) bringt. Das wird bei Wahlen überdeutlich: Geworben wird nicht damit, was man aus ehrlicher Überzeugung für das Beste für die Gesellschaft hält (und womit man ggf. weil es unpopulär wäre die Wahl verlöre). Geworben wird mit den Positionen, durch die man hofft, die meisten Wähler zu gewinnen. Geht diese Taktik auf, ist die Strategie bestätigt; hat das Rezept versagt, wird sofort diskutiert, wie das Programm nun abgeändert oder welche Köpfe ausgetauscht werden müssen, um nächstes Mal erfolgreicher zu sein. Es geht weder um ehrlich gemeinte Inhalte noch um deren authentische Vertreter. Es geht ausschließlich um Opportunismus.
Ebenso das Verhalten von Politikern gegenüber Boulevardmedien. Je stromlinienförmiger sie sich ihnen gegenüber verhalten, je mehr sie sich in vorauseilender Konformität an deren Linie anpassen, desto mehr Macht spielen sie solchen Medien zu und desto mehr Macht entziehen sie sich selbst. Je abhängiger sie von „wohlwollender“ Berichterstattung werden, je weniger sie wagen, sich nötigenfalls gegen den Meinungs-Mainstream zu stellen, desto abhängiger werden sie von ihm und seinen medialen Sprachrohren, desto mehr agieren sie in vorauseilendem Gehorsam gegenüber den Medien – und desto mehr pervertieren sie die Demokratie zur Mediokratie. Die Medien wiederum stehen in einer unheiligen Allianz mit den Populisten: Indem sie über die neuesten verbalen Ausfälle und Schandtaten der Populisten berichten, generieren sie einerseits für sich Quote; andererseits verschaffen sie ihnen eine unbezahlbare Medienpräsenz und betätigen sich indirekt als ihre Wahlhelfer.
NIVEAU: RACE TO THE BOTTOM
Wäre das Sinnen und Trachten der traditionellen Parteien nicht primär an Macht ausgerichtet, sie könnten sich in den von ihnen diffamierten „Populisten“ wie in einem Vergrößerungsspiegel selbst wiedererkennen. Wenn die repräsentative Demokratie per se populistisch ist, dann sind das klarerweise auch alle Parteien.Es geht ihnen darum, mit kommunikativen / manipulativen Mitteln ihre Macht zu zu vergrößern. Was tun die vielgescholtenen Populisten? Dasselbe wie alle anderen Parteien, nur effektiver! Der einzige Unterschied ist ein gradueller – sie kämpfen mit Mitteln, die sich die anderen (noch) nicht erlauben wollen. Doch wie wir sehen, sinken die Hemmschwellen und Grenzen des Akzeptierten unaufhörlich. Jahrzehntelang galten im politischen Machtkampf trotz allem gewisse Tabus. Nun zeigt sich: Erfolgreich sind vor allem jene, die alle Tabus höhnisch mit Füßen treten. Dadurch setzt ein Race to the bottom ein, ein Wettlauf, wer mit noch brachialeren Mitteln die Wähler noch mehr beeindrucken und auf seine Seite ziehen kann – ganz wie das vor einigen Jahrzehnten im Unterhaltungsprogramm der Privatsender der Fall war. Binnen weniger Jahre waren eine Niveaulosigkeit und Abgeschmacktheit gang und gäbe, die kurz davor noch undenkbar gewesen wären. Und die öffentlich-rechtlichen Sender mit ihrem Kulturauftrag im Genick mussten ob wohl oder übel nachziehen, um nicht sämtliche Zuseher zu verlieren. Dieselbe Dynamik erleben wir im Niveauverfall von Facebook, Twitter & Co. Sie degenerieren zu Wut- und Lügen-Kloaken, aber genau das zieht die Menschen auch an. Wer Verleumdungen, Schmähungen, Falschnachrichten, Leaks, Hetztiraden… verbreitet, generiert damit die meiste Aufmerksamkeit, die meisten Clicks (Likes…) und das meiste Geld. Ein System, das jedes „Noch tiefer!” fördert und belohnt, kann nur noch tiefer sinken.
Und die nächste Konsequenz: Wenn mit derartigen Strategien Wahlen gewonnen werden können, liegt es 100%ig in der Logik der Machtpolitik, solche Methoden auch gezielt einzusetzen. Ergo werden sie auch eingesetzt – q.e.d. Je mehr dieser Verfall um sich greift, desto weniger spielen Parteiunterschiede noch eine Rolle; desto mehr geht es nur noch um Geifern, Johlen, Schenkelklatschen; desto mehr erstickt das System des Buhlens um die Wählersympathie an seinem eigenen Erfolg.
PARTEIENDEFORMATION
Summa summarum, wie Eisenspäne sich unter dem Einfluss eines Magneten ausrichten, so die Menschen unter dem Einfluss von Parteien. Das gilt nicht nur für ihren inneren, sondern auch ihren äußeren Einflussbereich. Je mehr Macht Parteien erlangen, umso mehr verderben sie die Gesellschaft.
Je mehr sich das Ziel so verschiebt, desto selbstreferenzieller wird Politik und desto weniger geht es um die Bevölkerung. Was dieser natürlich nicht verborgen bleibt, umso weniger, je unsäglicher das Politspektakel wird und je fadenscheiniger die Phrasendrescherei (powered by NLP). Also entzieht sie der Politik, von der sie sich verraten und verkauft fühlt das Vertrauen. Egal was die „korrupten Politiker“ und „die Lügenpresse“… dann noch sagen: es wird ihnen nicht mehr geglaubt. Es wird als hohles Taktieren, Beschönigung und Lüge abgelehnt schon allein weil sie, „die Eliten“ es sind, die es sagen. Der Faden ist gerissen, die Demokratie ist erodiert, und der dumpfe Groll über „die da oben“ schwemmt Personen an die Macht, die die demokratischen Prozesse nur dazu benutzen, um die Demokratie zu untergraben und mehr oder weniger zu beseitigen. Wenn viele Menschen aus Frust Protestparteien wählen, so geschieht dies ohne echte Hoffnung darauf, dass diese irgend etwas anders oder besser machen würden, kämen sie erst an die Macht. Es ist mehr ein Ausdruck der ohnmächtigen Wut als der Überzeugung.
Die Dysfunktionalität des Parteiensystems ist weniger zufällig, noch liegt sie bloß an den „falschen” Personen. Sie ist nicht akzidenziell, sie ist substanziell, sie liegt in ihrem systemischen Wesen. Darum wird man den Untergang der Parteien vielleicht noch eine Weile hinauszögern, aber nicht aufhalten können.
Das haben freilich auch schon Politiker der einstigen Großparteien gemerkt. Der Trend geht dahin, das sinkende Schiff zu verlassen bevor es einen mit in die Tiefe zieht und „Bewegungen” zu gründen. Angefangen haben damit rechtsgerichtete Parteien, die sich durch dieses Etikett als Nicht-Parteien von den etablierten Parteien abgrenzen wollten. Bereits 1995 stylte Jörg Haider die FPÖ von einer „Partei” zur „Bewegung” um und verordnete ihr den Namen „Die Freiheitlichen – F”. Letztens haben auch die „Altparteien”, wie sie nun denunziert werden, zu realisieren begonnen, dass sie keine Zukunft mehr haben. Sie versuchen, sich als „Bewegung” neu zu erfinden. Emanuel Macron und Sebastian Kurz haben selbst noch in dem alten System Karriere gemacht und es bis zu Ministerposten gebracht, ehe sie ihre einzige Zukunfts-Chance erkannten: „Bewegungen”! Macron gerierte sich als Erneuerer, indem er die Partei verließ und eine „Bewegung” („La République en marche”) gründete; Kurz schmiedete seine nach ihm benannte „Bewegung” gar innerhalb seiner eigenen Partei und wurde von ihr dafür mit opportunistisch-masochistischem Enthusiasmus zum Chef gekürt. Beide hatten offenbar realisiert, dass die oben beschriebene Eigendynamik der Parteien sie von innen zerfressen hatte. Deshalb setzten sie auf eine „Frischblutinjektion” aus parteilosen Quereinsteigern. Und hatten Erfolg. – An dem, woran dem Wählervolk genügt, ist die Größe seines Hungers nach Erneuerung zu ermessen…
Denn wirklich neu ist auch bei diesen „Bewegungen” gar nichts. Faktisch sind sie ja Parteien; sonst dürften sie gar nicht zu Wahlen antreten. Ihre Programme – ein Cocktail aus alten Dogmen und Rezepten – werden von der Parteispitze vorgegeben und durchgesetzt. Die Quereinsteiger werden wie zuvor von der Parteispitze ausgewählt. Und wozu eigentlich Parteilose, wenn sie dann erst wieder auf das Prokrustesbett eines Parteiprogramms gefesselt sind und nicht nach bestem Wissen und Gewissen agieren können?
Die „Bewegungen” sind das letzte Aufbäumen des Parteienwesens vor seinem endgültigen Zusammenbruch. Aber sie lassen den sich anbahnenden Paradigmenwechsel erahnen. Um dem diesbezüglichen Buchabschnitt von FGB nicht vorzugreifen, hier nur als Denkanregung: Welche systemischen Auswirkungen hätte es, wenn anstelle des bisherigen Verfahrens
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[Auszug aus FGB. Editiert im März 2019. Konkreteres in FGB: Das Manifest]