DIE POLYKRISE UND IHRE LÖSUNG

DIE POLYKRISE UND IHRE LÖSUNG

Seit es Parteien gibt, ist die repräsentative Demokratie ein Erfolgsrezept. Sie bewährte sich in der Lösung der meisten großen Herausforderungen. Gab es ein gesellschaftliches Problem, konnte(n) entweder die regierende(n) Partei(en) es korrigieren, bzw. wenn die Bürger nicht diesen Eindruck hatten, wählten sie sie ab und wählen eine andere Partei, der sie zuschrieben, dass sie es besser machen würde: ein Lehrbeispiel für einen ausgleichenden Systemkreislauf.

Wenn ein Problem entsteht (+), führt eine Korrektur zu seiner Abschwächung oder Lösung (–): je mehr (+), desto weniger (–).

Ausgleichender Systemkreislauf, mit einer Waage versinnbindlicht: Je mehr, desto weniger (+ –› –). System-Archetyp nach Peter Senge, Die fünfte Disziplin.

Nun zeichnet sich aber seit mehr als einem halben Jahrhundert ab, dass diese Art und Weise der Problemlösung durch Wahlen den gegenteiligen Effekt hat: die Probleme werden nicht kleiner, sondern größer. Die Ursache dafür sehe ich in einem fundamentalen Lern- und Entwicklungsstau: die Menschen sind so gewöhnt, einander und ihrer Umwelt als Zweiheit zu begegnen, dass sie nicht wahrhaben (wollen, können), dass diese Spaltung zwischen mir und ihnen, zwischen Mensch und Welt die wahre Ursache des Schlamassels ist. Denn sowohl für die Menschen untereinander wie für ihr Verhältnis zur Umwelt bestätigt sich immer schmerzhafter die Erkenntnis von Gregory Bateson:

The unit of survival is organism plus environment. We are learning by bitter experience that the organism which destroys its environment destroys itself.

„Die Einheit des Überlebens ist Organismus plus Umwelt. Wir lernen durch bittere Erfahrung, dass der Organismus, der seine Umwelt zerstört sich selbst zerstört.“

Das Selbe gilt für die Menschen untereinander: sie lernen durch bittere Erfahrung, dass eine Gesellschaft, deren Individuen die Gesellschaft zerstören das Ganze zerstören (ich belasse die Bezeichnung Gaia):

Mit anderen Worten: eine vom Menschen losgelöste UMwelt gibt es nur theoretisch. Faktisch (systemisch) gesehen, gibt es nur die eine Welt, deren untrennbare Teile (Subsyteme) Mensch und Natur sind. So lange wir das nicht in seiner ganzen Tragweite realisieren, bleiben wir auf dem Selbstzerstörungskurs; sozial und ökologisch.

Im einen Fall sieht der Mensch (Subjekt) seine Umwelt als Objekt und Ressouce, die er dank seiner Macht rücksichtslos unterdrücken und ausbeuten kann („macht euch die Erde untertan und herrschet…“). Im anderen Fall sieht er die arbeitenden Menschen als Objekte und Ressource zur rücksichtslosen Ausbeutung (möglichst weit weg, in den Ländern des globalen Südens). Beide Formen der Unterdrückung und Ausbeutung manifestieren sich am krassesten im Wirtschaftsleben (Jean Ziegler nannte es deshalb ein „kannibalisches System“). Die Haltung und die Verhaltensweisen sind aber substanziell die gleichen zwischen Männern und Frauen, Reichen und Armen, Mächtigen und Schwachen, Menschen und Tieren usw.

Sowohl die ökologische als auch die soziale Krise haben also darin ihre Ursache, dass die Einheit von Mensch und Erde, von Individuum und Gesellschaft nicht erkannt, nicht gespürt und nicht gelebt wird. Deshalb agieren diejenigen Menschen, die so agieren können – vorwiegend Männer – so brutal und zerstörerisch, wie sie das eben tun. Aber der Bumerang kehrt zurück…

Hier liegt der grundlegende Lern- und Entwicklungsstau der Menschheit des 21. Jahrhunderts. Sie muss auf einer vollbewussten Ebene (wieder) realisieren, was für Naturvölker immer schon Realität war (1): die Einheit von Mensch und Umwelt, die wie selbstverständlich zu einem liebevollen, pflegenden, sorgenden, vorausschauenden, verantwortungsvollen und nachhaltigen Umgang der Menschen untereinander und mit ihrer nicht-menschlichen Umwelt führt.

Die Illusion der Getrenntheit von Mensch und Erde bzw. Individuum und Gesellschaft ist von ihren fatalen Konsequenzen aber eine höchst wirkmächtige. Sie führt zu ökologischen und sozialen Krisen, derer die Parteien und Regierungen offensichtlich nicht mehr Herr werden. Sie stehen also vor der Entscheidung, andere Korrekturen als die bisherigen zu suchen. Sie versuchen das Neue aber mit den alten Mitteln zu finden und umzusetzen, was nicht funktionieren kann. Denn was bislang immer Teil der Lösung war, ist nun selbst Teil des Problems.

Denn die Klientel der Politiker, die Wählerschaft, ist ihr Leben lang gewohnt, auf dem bewährten Weg Korrekturen herbeizuführen: durch Wahlen. Sie kennt nichts anderes. Wenn die amtierenden politischen Entscheidungsträger also sichtlich der ökologischen und sozialen Probleme nicht mehr Herr werden, versucht ein großer Anteil der Wähler, darauf zu reagieren wie früher: mit ihrem Wahlverhalten jene anderen Parteien und Politiker zu stärken, die ihnen versichern, es gebe gar kein Problem, und nichts brauche sich zu ändern.

Systemwissenschaftlich gesehen, hat sich durch die Größe und Komplexität der ökologischen und sozialen Probleme eine Polykrise ergeben, die auf die Schnelle und durch oberflächliche Maßnahmen nicht lösbar ist. Das ergibt bei der gewohnten und bewährten Form der politischen Problem-Korrektur eine Wirkungs-Verzögerung (deren Ursache in der Tiefe und Komplexität der Krise bzw. in dem genannten Lern- und Enticklungsstau liegt). Die (ungewollten) Konsequenzen dieser Verzögerung sind eine weitere Zuspitzung der ökologischen Krisen (Klimakrise, Artensterben…) und eine weitere Verschärfung der gesellschaftlichen Krisen.

Global gesehen, treffen beide Krisen in der Klimamigration zusammen: Die Klimakrise raubt den Menschen des globalen Südens den Lebensraum, also bleibt ihnen nur, in den globalen Norden zu fliehen. Während heute noch die wirtschaftliche Migration in den reicheren Norden das Hauptmotiv für die Migration ist, wird in den kommenden Jahrzehnten die Klimamigration enorm zunehmen und wiederum die Staaten des Nordens in ihrer bisherigen Verfassung erschüttern (Verfassung im doppelten Sinn des Wortes).

Die ökosoziale Polykrise kann wiegesagt mit den bisherigen demokratischen Instrumenten (adaptives Wahlverhalten) nicht mehr gelöst werden. Die demokratische Korrektur (Wahlen) wirkt nicht ad hoc. Das grundlegende Hindernis dafür ist der beschriebene Lern- und Entwicklungsstau, dessen lebenspraktische Konsequenz hieße: Du musst dein Leben ändern. Aber nichts scheint vielen bedrohlicher als das. Dieser Selbstbetrug führt i.d.F. dazu, diese Lebensänderung nicht als Rettung des guten Lebens zu erkennen, sondern als seine Bedrohung. Doch sie wird kommen, by design or by disaster; entweder in gute Bahnen gelenkt oder durch den ökologischen und sozialen Zusammenbruch.

So aber verstärkt die „Verzögerung“ der Korrektur die vielfältigen ungewollten Konsequenzen und damit das Problem, die Polykrise. Aus dem ursprünglich ausgleichenden Kreislauf Problem –› Korrektur, + –› – entsteht ein selbstverstärkender Kreislauf: Je größer das Problem, desto größer die ungewollten Konsequenzen der anachronistischen Lösungsversuche und desto größer wiederum die Krise (+ –› +).

Durch die Verzögerung der Problemlösung entstehen ungewollte Konsequenzen, die das Problem noch vergrößern; versinnbildlicht durch eine Lawine (+ –› +). Abb. nach Senge.

Wie sollen nun die gewählten Entscheidungsträger damit umgehen? Sie müssten den Wählern die Augen öffnen, dass wir alle um diese Veränderungen nicht herumkommen können; dass es also das einzig Sinnvolle sei, sie mutig anzugehen, so lange wir die Korrekturen noch gestalten können, denn dies sei die einzige Perspektive für ein langfristiges Wohlergehen der Menschen und der Erde ist.

Hier aber kommt eine fatale Eigenschaft der repräsentativen Demokratie ins Spiel: Wahlen sind faktisch ein Beliebtheitswettbewerb. Gewählt wird, wer sich bei den Wählern beliebt macht; wer sich unbeliebt macht, wird nicht (mehr) gewählt. Die Parteiendemokratie baut auf einem Macht-Apriori auf: erst muss man Wahlerfolge haben, dann kann man Politik machen. Das führt zum Juncker-Dilemma: „Wir Regierungschefs wissen alle, was zu tun ist, aber wir wissen nicht, wie wir danach wiedergewählt werden sollen“ (Jean-Claude Juncker). Im Umkehrschluss: Wer gewählt werden will, darf nicht tun, wovon er weiß, dass es richtig und nötig wäre, sofern das seine Wahl gefährden könnte.

Es gäbe für die Polykrise also grundsätzliche, langfristige und nachhaltige Lösungen. Aber sie würden eine Veränderung unseres Umgangs mit der Welt und mit den Mitmenschen erfordern. Sie würden 1. ein Bewusstsein der wahren Ursachen der Probleme und ihrer Wechselwirkungen – ein Verständnis ihrer Komplexität – voraussetzen, und 2. tiefgreifende Kurskorrekturen benötigen, die dieser Komplexität gerecht werden. Das Blöde daran ist: das geht keinesfalls auf die Schnelle, und es geht nicht leicht. Eine wirklich grundlegende Lösung der ökosozialen Krise führt zwangsläufig zu Schwierigkeiten, d.h. zu einer zeitweiligen „Verzögerung“.

Denn innerhalb des Parteien-Paradigmas weiterzuwursteln, ist selbst eine Scheinlösung. Statt Partei A als Alternative Partei B zu wählen, ist eine Scheinlösung. Jede Parteien-Alternative zu wählen, ist eine Scheinlösung. Denn jede Wahlentscheidung, gleich für welche Partei, bestärkt und verstärkt die Parteien-Dynamik des Macht-Apriori, die jeder Partei immanent ist. Und die Nebenwirkung dieser symptomatischen Demokratie-Lösungen, die nur an den demokratiepolitischen Symptomen ansetzen, ist eine Fortschreibung und Verschärfung der gesellschaftlichen und ökologischen Polykrise.

Ein Problem und seine (grundsätzliche) Lösung ergeben einen ausgleichenden systemischen Kreislauf („Waage“) – es sei denn, eine Verzögerung tritt ein („Spalt“). Abb. nach Senge.

Das stellt Politiker vor eine schwierige Entscheidung: Wollen sie tatsächlich für grundsätzliche, aber mühsame und teilweise schmerzhafte Lösungen ihre Wahl riskieren? Sägen sie sich möglicherweise den Ast ab, auf den sie sitzen? Oder setzen sie auf Wahlerfolg, was für sie unliebsame, grundsätzliche Lösungen ausschließt und symptomatische Lösungen erfordert?

Ich fürchte, die politische Entwicklung der letzten Jahrzehnte gibt darauf eine eindeutige Antwort: Scheinlösungen. Oder politisch gesprochen: Populismus.

Sachpolitik wäre es, grundsätzliche Lösungen anzugehen (schlimmstenfalls um den Preis der Macht). Machtpolitik heißt, den Wahlerfolg (die Macht) an die erste Stelle zu setzen – durch Populismus und Scheinlösungen – um den Preis grundsätzlicher Lösungen für die Polykrise.

Dieser Konstruktionsfehler ist der Parteiendemokratie systemimmanent. Selbst wenn das Gewicht politischer Tätigkeit früher noch mehr als heute bei Sachpolitik lag, wurde diese schon immer durch den Zwang konterkariert, sie auch den Wählern so zu verkaufen, dass man sich damit nicht zu unbeliebt machte. Die Parteien sind prinzipiell gezwungen, ein Programm zu erarbeiten, das ihnen Wählerstimmen bringt. Der Wahlerfolg war allerdings früher noch eindeutiger Mittel zum Zweck, während er heute fast ausschließlich zum Selbstzweck geworden ist. Das Uneigentliche (das Mittel: Wahlerfolg) hat sich vor das Eigentliche (die Problemlösung durch Sachpolitik) geschoben und es schließlich ersetzt. Heute ist die Devise nur noch: Wie müssen wir uns nach dem Wind drehen, um möglichst viele Wähler zu gewinnen? Eine weitere logische Folge davon ist, dass diese rückgratlose, machttaktische, opportunistische Politik auch auf den den Charakter der Politiker zurückwirkt und ihn versaut.

Scheinlösungen haben freilich – da sie das Problem nur symptomatisch angehen – Nebenwirkungen, die auf eine Verschlimmerung des ursprünglichen Problems hinauslaufen.

Die Verzögerung bei grundsätzlichen Lösungen („Spalt“; + –› –) führt zu einem Ausweichen auf symptomatische Lösungen, deren Nebenwirkungen das Problem 1. verschärfen („Lawine“; + –› +) und 2. grundsätzliche Lösungen noch mehr erschweren. Abb. nach Senge.

Wolf Biermann hat diese Paradoxie vor Jahrzehnten in einem seiner Chansons pointiert formuliert:

„Wer sich nicht in Gefahr begibt, der kommt drin um.“

Nicht der riskiert alles, der sich den Unsicherheiten, Unwägbarkeiten und Risiken eines echten, grundlegenden Lösungsweges für die komplexen Probleme der Polykrise aussetzt. Nein, wer nichts riskiert, wer es vorzieht, mit populistischer Spin-Politik (im Verbund mit gleich opportunistischen Spin-Medien) durch Scheinlösungen und Propaganda Wahlen zu gewinnen, der riskiert alles.

So entwickelt sich in der ganzen komplexen Gemengelage eine fatale selbstverstärkende Eigendynamik, nämlich eine Polarisierung der politischen Parteien an der Wegscheide von Sachpolitik und Populismus, grundlegenden Lösungen und Scheinlösungen. Diese Dynamik wirkt aber ihrerseits wieder auf andere Parteien zurück, die versuchen, der populistischen Propaganda etwas Substanzielles entgegenzustellen: Sie sehen sich machttaktisch am absteigenden Ast, denn – vgl.o. – da Wahlen ein Beliebtheitswettbewerb sind, machen sie sich mit unangenehmen, unerfreulichen Vorschlägen a priori unbeliebt. Also schrecken sie vor machttaktisch allzu riskanten Lösungen zurück. Sie schwenken mehr und mehr auf den machttaktisch opportuneren populistischen Kurs ein, um überhaupt noch politische Macht zu behalten (vgl.o. Macht-Apriori). Damit verschiebt sich der gesamte politische Diskurs und die gesamte politische Dynamik weg von Sachpolitik in Richtung Populismus. Ob dieser nun ein rechter ist wie aktuell in vielen Staaten Europas oder ein linker wie in Südamerika, hängt von der jeweiligen gesellschaftlichen Situation ab. Beiden Populismen ist gemeinsam, dass sie grundlegende Lösungen auf dem Altar ihres Machtgewinnes / Machterhaltes opfern. Gemeinsam mit Spin-Medien entfachen sie durch agitatorische, polarisierende, hetzerische Rhetorik einen selbstverstärkenden populistischen Spin, mit dem sie die Bevölkerung verblöden und verhetzen.

Teufelskreis des Populismus: Spin-Politiker –› Spin-Medien –› Spin-Politiker. Die Bevölkerung ist deren (dankbares) Opfer.

Dies führt zur nächsten systemischen Eskalation (ja, es ist komplex): Je mehr nun die seriösen Gegner der Populisten gegen sie Stellung beziehen, desto mehr bestätigen sie deren Propaganda („Systempolitiker“, „Systemmedien“…) und verstärken deren Widerstand. Was faktisch in einem Dauer-Wahlkampf mündet bzw. in einem internalisierten Dauer-Plebiszit bei den Lösungs-Abwägung (2).

Aus diesem Teufelskreis gibt es mit den bisherigen politischen Strukturen und Verfahren, d.h. mit den Mitteln der Parteiendemokratie, mit Wahlen, keinen Ausweg mehr. Die früher bewährte politische Standard-Problemkorrektur, andere Parteien zu wählen führt nicht mehr von einer Sachpolitik zu einer anderen, hoffentlich erfolgreicheren. Populistische Parteien zu wählen, führt heute zu Spin-Politik, Scheinlösungen, gesellschaftlicher Polarisierung, Hetze, Dämonisierung der politischen Gegner, Menschenverachtung, zu Erosion und Zerstörung der Demokratie mit demokratischen Mitteln, zu weichem und schließlich zu hartem Autoritarismus. Und es führt in letzter Konsequenz zu einer für die Zukunft der Menschheit und der Erde existenzgefährdenden Verschärfung der Polykrise.

Wer‘s nicht glaubt, möge die politische Entwicklung der Parteienlandschaft in Europa überschauen: Am äußerst rechten Ende des parteipolitischen Spektrums erstarken zunehmend neofaschistische Parteien; die früheren („bürgerlichen“) Parteien der Mitte erleiden herbe Stimmenverluste, versuchen dem Machtverlust mit den Mitteln der „erfolgreichen“ rechten Konkurrenz beizukommen und werden selbst zu Spin-Parteien, die mit Spin-Medien Spin-Politik betreiben; das bestärkt nun gerade die Wählerschaft der Rechten in ihrer Wahlentscheidung, und sie wählen justament weiter rechts – den Schmid, nicht den Schmidl –; und wer in dieser Situation noch versucht, mit Rückgrat Sachpolitik zu treiben, gerät zwangsläufig ins Juncker-Dilemma. Je heftiger die Linksliberalen sich gegen die Rechten einsetzen, desto mehr fühlen sich diese bestätigt und legen noch eins drauf, was wie linksliberale Gegenseite wiederum zu noch größerem Protest veranlasst –: das archetypische Muster einer Eskalations-Dynamik.

Eskalations-Dynamik: A und B versuchen jeder für sich, ein Gleichgewicht herzustellen („Waage“), das aber von der jeweils anderen Seite, die dasselbe versucht, durch deren Aktivitäten verhindert wird. Das Ergebnis ist statt zwei ausgleichenden (+ –› –) eine gemeinsame aufschaukelnde Dynamik: Je mehr A, desto mehr B, desto mehr A… (+ –› +).

Dem Parteien-Macht-Apriori ist systemimmanent, dass Parteien nach und nach das Mittel (Wahlerfolge) zum Zweck machen und dieser schließlich zum losgelösten Selbstzweck degeneriert: Wahlerfolg um jeden Preis. Die Frage ist dann nicht mehr ob, sondern nur noch, wann die ökonomischen und politischen Krisen sich so zuspitzen (Finanzkrisen, Inflation, Heilsbringer- / Führerkult…), dass das Ganze vom Populismus in den Totalitarismus kippt.

Wiegesagt, wenn derzeit zu beobachten ist, dass 1. die rechten und rechtsextremen Parteien einen beängstigenden Zulauf haben; wenn 2.) die Mitte-Parteien deren Populismus kopieren (was sich als Schuss nach hinten entpuppt); und wenn sich 3.) die verbleibenden authentischen politischen Kräfte dieser Scheinlösungs-Dynamik gar nicht mehr entziehen können –: dann steht es schlecht um die Parteiendemokratie. Dann kann aber nicht das System, in diese ausweglose Situation geführt hat auch seine Lösung sein. Der parteipolitische Konkurrenzkampf führt nur noch weiter in die Eskalation und noch weiter in die ökosoziale Krise. Aus dieser parteipolitischen Konkurrenzsituation, aus dieser sich immer weiter aufschaukelnden Konfliktdynamik kann keine ausgleichende Dynamik mehr entstehen. Auch deshalb, weil jeder erdenkliche neue Vorschlag einer Partei aus Prinzip von ihrer Gegenseite diffamiert würde. Wo opportunistische Machttaktik die Diskussion beherrscht, ist keine sachliche Auseinandersetzung mehr möglich. Was Partei A an Vorschlägen und Kritik gegenüber Partei B äußert: es wird von B ungeprüft als Aktion der gegnerischen Seite diffamiert – und abgeschrieben.

Meiner Überzeugung nach besteht der einzige Ausweg aus dieser systemischen Konflikteskalation in einer systemischen Loslösung von deren Wurzel: dem Parteien-Paradigma. Innerhalb des Parteien-Denkens es prinzipiell keinen Ausweg aus der Parteien-Polarisierung und -Esakalation geben, bestenfalls eine graduelle Verbesserung. Man muss aus den Parteien gänzlich heraustreten und nicht bloß behaupten, sachlich, unabhängig, unparteilich, überparteilich… zu argumentieren. Man muss es tun: man muss tatsächlich einen Ausgangspunkt außerhalb aller Parteien einnehmen, um sachlich gehört zu werden. Es muss ein „fester Punkt“ gefunden werden, von dem aus die Welt aus den Angeln gehoben werden kann, d.h. wo eine politische Hebelwirkung – nicht der mächtigsten Konfliktpartei, sondern der gesamten Zivilgesellschaft möglich wird: eine Hebelwirkung des Souveräns einer Demokratie.

Der meiner Überzeugung nach einzige wirkliche Ausweg aus dem Demokratie-Dilemma sind parteienlose, gewichtet-repräsentativ ausgeloste demokratische Institutionen: eine Losdemokratie.

Parteiendemokratie als symptomatische Lösung mit fatalen ökologischen und sozialen Nebenwirkungen – Losdemokratie als grundlegende Lösung.

Nur eine Losdemokratie führt systemisch zu zu politischem Handeln nach bestem Wissen und Gewissen, zu Sachpolitik, zu grundlegenden Lösungen. (3)

Daraus folgt: nur durch eine Losdemokratie können die dringendst notwendigen grundlegenden Lösungen für die ökologische und soziale Polykrise des 21. Jahrhunderts gefunden werden. Freilich wie bei jeder grundlegenden Lösung eines tiefgehenden, komplexen Problems nicht ohne offene Fragen, Unwägbarkeiten, Risiken, Schmerzen… – – but consider the… Alternative.


(1) vgl. Eduardo Kohn, Wie Wälder denken. Anthropologie jenseits des Menschlichen (Matthes & Seitz 2023) und Philippe Descola, Die Formen des Sichtbaren. Eine Anthropologie der Bilder (Suhrkamp 2023).

(2) vgl. Hedwig Richter & Bernd Ulrich, Demokratie und Revolution. Wege aus der selbstverschuldeten ökologischen Unmündigkeit (Kiepenheuer & Witsch 2024), S.86.

(3) Ich habe das Konzept einer Losdemokratie nach Terry Bouricius zuletzt in diesem Blog-Beitrag genauer erklärt. Bouricius hat es (auf Englisch) in seinem Blog dargestellt, wo er die einzelnen Kapitel seines Buchprojektes vor-veröffentlicht, um es bis zu seiner Publikation mit Feedback weiter zu verbessern.

Hanspeter Rosenlechner

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By Hanspeter Rosenlechner