RECHTE ODER LINKE “ALTERNATIVEN”? – VOM REGEN IN DIE TRAUFE

RECHTE ODER LINKE “ALTERNATIVEN”? – VOM REGEN IN DIE TRAUFE
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Wir leben in einer Epoche der „Alternativlosigkeit“. Schon Ende der 70er Jahre prägte Margaret Thatcher den Slogan „There is no alternative“ — es gebe keine Alternative zu dem von ihr vertretenen neoliberalen Marktfetischismus (Liberalisierung + Deregulierung + Privatisierung). Der US-Politologe Francis Fukuyama verstieg sich 1992 sogar zu der These, nach dem Kollaps des Sozialismus sei „Das Ende der Geschichte“ angebrochen; wir stünden vor dem — nunmehr alternativlosen — Siegeszug der freien Marktwirtschaft. „Alternativlosigkeit“ wurde 2010 zum „Unwort“ des Jahres 2010“ gekürt, mit der Begründung, der Begriff suggeriere, „dass es bei einem Entscheidungsprozess von vornherein keine Alternativen und damit auch keine Notwendigkeit der Diskussion und Argumentation gebe. Behauptungen dieser Art (…) drohen, die Politikverdrossenheit in der Bevölkerung zu verstärken.“

VORWÄRTS IN DIE VERGANGENHEIT!

Damit traf die Jury der Gesellschaft für deutsche Sprache, die das Unwort jedes Jahres kürt den Nagel auf den Kopf. Wenn den Menschen ständig von konservativen und (dem Namen nach) sozialdemokratischen Politikern eingehämmert wird, es gebe keine Alternative zu ihrer markfetischistischen Politik, dann bedeutet das: Genau so wie bisher wird es weitergehen. Auch wenn wahrhaftig nicht alles schlecht war an der Entwicklung der letzten Jahrzehnte, kommt diese Aussicht einer gefährlichen Drohung gleich (man denke bloß an die Klimaerwärmung, an die globale Ausbeutung der Natur und der Menschen…).

Der Frust und und die Wut über jene Volksvertreter, die alle möglichen Interessen, aber nicht primär die ihrer Wähler vertreten und das dann als „alternativlos“ rechtfertigen hat praktisch in ganz Europa und in den USA nationalistische / chauvinistische / faschistoide Demagogen gefördert bzw. an die Macht gebracht. Sie versprechen, genau diese vorgebliche Alternativlosigkeit zu widerlegen: „O doch, es gibt eine Alternative — uns! Wir sorgen wieder für Sicherheit, für klare Verhältnisse, schwarz-weiß, gut-böse, für einfache Lösungen komplexer Probleme!“ Während sie — wie derzeit in Österreich — einerseits den antisozialen marktfestischistischen Kurs forcieren, beschäftigen sie andererseits die Aufmerksamkeit der Bevölkerung mit Attacken gegen die vermeintlich Schuldigen an allen Missständen (Flüchtlingen, Sozialschmarotzern…). Diese Taktik ähnelt nicht zufällig der Strategie Hitlers in den 30er Jahren. Und heute wie damals ist die unausgesprochene Devise: „Vorwärts in die Vergangenheit!“.

Doch nicht nur die Melange aus Markfetischisten und (Ultra)Rechten sucht ihr Heil in der Vergangenheit. Auch deren schärfste Kritiker, die noch verbliebenen Linken. Sogar zahlreiche kritische Intellektuelle finden die einzige Zukunftsperspektive in einer Rückbesinnung (!) auf sozialistische Rezepte. Entschuldigend wird höchstens eingeräumt, man habe halt bisher den Sozialismus mit suboptimalen Mitteln umzusetzen versucht, aber eigentlich kämpfe er ja für das Wohl der Menschen. Und welche Alternative gebe es zum enthemmten globalen Kapitalismus als den Sozialismus? — Man könnte das als „die zynische Dialektik der Alternativlosigkeit“ bezeichnen: von der kapitalistischen zur sozialistischen Alternativlosigkeit, vom Regen in die Traufe.

FATALE RECHTE UND LINKE UTOPIEN

Sowohl die rechten als auch die linken Heilsversprechen sind Rückentwicklungen in bereits überwundene gesellschaftliche Entwicklungsstufen; sie sind Regressionen. Was aber noch folgenschwerer ist: Sie sind beide Utopien.

Wikipedia definiert "Utopie" als "Entwurf einer fiktiven Gesellschaftsordnung, die nicht an zeitgenössische historisch-kulturelle Rahmenbedingungen gebunden ist." Jemand denkt sich eine – seiner maßgeblichen Meinung nach – ideale Gesellschaft aus und überlegt dann, wie unsere gegenwärtigen Verhältnisse an seine Vorstellungen angepasst werden könnten.

Das scheint auf den ersten Blick nichts Schlechtes zu sein. Bloß dass der Ansatzpunkt der Überlegungen eben nicht in der realen Welt liegt, sondern in der Vorstellungswelt, und die Wirklichkeit wird beim Versuch, sie an das Ideal anzugleichen stets mehr oder weniger vergewaltigt. So wie Brecht ironisch über Herrn Keuner schreibt:

"Ich mache einen Entwurf von ihm", sagte Herr K., "und sorge, daß er ihm ähnlich wird." "Wer? Der Entwurf?"

"Nein", sagte Herr K., "Der Mensch."

Treffender könnte man den utopistischen Ansatz nicht definieren: Ich mache mir einen Entwurf der Gesellschaft und sorge dafür, dass sie ihm ähnlich wird. "Und bist du nicht willig, so brauch ich Gewalt!" Der hehre Zweck – die "klassenlose Gesellschaft", das "rassisch gereinigte Volk" oder was auch immer – heiligt die Mittel, die zu seiner Durchsetzung notwendig sind.

Darum haben alle Utopien beim Versuch ihrer Verwirklichung zwangsläufig in Diktaturen und Massenmord geendet: die französische Revolution, der Sozialismus, das Dritte Reich…, um nur einige zu nennen. So konnten sich Intellektuelle wie Jean-Paul Sartre dazu versteigen, den Stalinismus incl. GULAG gutzuheißen und zu rechtfertigen – als notwendige Übergangsstufe zum „wahren Sozialismus“ – und politische Mörder (RAF) zu unterstützen. Und das Konzept des "Islamischen Staats" ist ebenfalls nichts anderes als eine Gesellschaftsutopie, die für ihre Umsetzung ohne zu Zögern über Leichen geht.

Das waren allesamt keine Ausrutscher, das waren keine menschlichen Fehler, das war nichts, was man „nächstes Mal besser machen“ könnte: das war systemisch unvermeidlich. Und deshalb ist es auch jetzt vorhersehbar, dass jede rechte wie linke Utopie wieder dort enden wird wo sie noch immer geendet hat: in ideologischer Gleichschaltung, in autoritären und korrupten Staatsstrukturen und im wirtschaftlichen Zusammenbruch — wenn nicht auch in Gewalt und Krieg. „Immerhin hat das den Staat zur Hölle gemacht, daß ihn der Mensch zu seinem Himmel machen wollte” (Hölderlin, Hyperion).

EVOLUTION STATT REVOLUTION

Karl Popper erteilte allen Gesellschaftsutopien eine klare Absage:

Die offene Gesellschaft und ihre Feinde

Aber was ist eine „Vernunft“, die gegen Gefühle ausgespielt wird? Und außerdem: Ein kritischer Rationalismus mag zwar ein intellektuelles Abkühlbecken sein, aber Ansatzpunkte, wie man die heutigen ökosozialen Probleme lösen kann liefert auch er keine. Man kann sich eben eine bessere Welt nicht ausdenken (und wenn man es dennoch versucht… — s.o.). Man kann sie aber sehr wohl an dem ablesen und abspüren, was bislang schon aus den gesellschaftlichen Bedürfnissen der Menschen entstanden ist bzw. worum sich die Menschen noch bemühen.

Utopien postulieren eine Idealgesellschaft und versuchen dann, die Realität an ihr ausgedachtes Bild anzupassen — „und bist du nicht willig, so brauch ich Gewalt!“ Es ist ein mechanistischer Ansatz. Er wirkt von außen auf die gesellschaftlichen Verhältnisse ein als wäre sie eine Maschine. An vielen populären Metaphern z.B. aus der Wirtschaft wird das deutlich — sie stammen großteils aus dem Bereich der Physik / Technik:

  • Die Wirtschaft ankurbeln (dann brummt sie)
  • Wachstums-Lokomotive
  • Turbo-Kapitalismus
  • Schuldenbremse
  • Jobmotor
  • An der Zinsschraube drehen
  • Konjunkturspritze
  • Turbulenzen auf den Finanzmärkten
  • Börsencrash
  • Kursstürze
  • Der Dow Jones bricht ein
  • Die Finanzmärkte fluten
  • Überhitzte Konjunktur
  • Liquiditätsblase
  • Geld in den Markt pumpen
  • Die Ausgaben drosseln
  • Den Geldhahn aufdrehen

– womit die Aufzählung bei weitem nicht erschöpft ist; man braucht nur den Medien aufmerksam zuzuhören.

Ein mechanistisches Weltbild führt zu mechanistischen Welterklärungen und damit zu mechanistischen Metaphern. Die Wahl der Metaphern ist aber keineswegs nur eine akademische Frage. Wenn wir mit einem mechanistischen Weltbild ebensolche Metaphern prägen, so prägt das einerseits unseren (mechanistischen) Blick auf die Welt, andererseits aber auch unsere (mechanistischen) Zugänge zur Wirtschaft, zur Politik, unsere Herangehensweisen und Problemlösungsansätze, kurz: Es prägt unseren täglichen Umgang mit der Welt und den Menschen. Ein Unternehmen z.B. soll dann eben „wie eine gut geölte Maschine“ funktionieren, ein Team „reibungslos“ und „wie ein Uhrwerk“, es geht um „Druck-Machen“, „anfeuern“, „Gas geben“, um „Hebelwirkungen“ u.ä.m. Und am Ende steht die Vorstellung einer Gesellschaftsumgestaltung durch „social engineering“. So wie man in den Wald ruft, so hallt es auch zurück.

Ein materialistisch-mechanistisches Welt- und Menschenbild führt zu einem materialistisch-mechanistischen Umgang mit Erde und Mensch. Wir sehen die Folgen. Und dazu tragen Metaphern in hohem Umfang bei, denn sie wirken weniger auf den Verstand als auf die unbewussten Gefühle. Daher werden sie strategisch immer eingesetzt, um Menschen zu manipulieren (man achte auf die trainierte Rhetorik vieler Politiker; Elisabeth Wehling hat dieses „Framing“ anschaulich beschrieben).

Die oben genannten rechten und linken Utopien sind nur die Extreme dieses äußerlich-mechanistischen Ansatzes. Er ist aber überall dort am Werk, wo wir Menschen, Organisationen, Staaten und letztlich der Erde so gegenübertreten als wären sie etwas Unlebendiges, Mechanisches, das wir völlig von ihnen losgelöst von außen manipulieren und umgestalten können. Das Bewusstsein, sich ihnen als Ich gegenüberstellen zu können ist notwendig für jede Objektivität. Doch diese Subjekt-Objekt-Spaltung muss auch wieder überwunden werden, und zwar durch ein erhöhtes Bewusstsein, durch wahrnehmende Empathie, durch empathisches Wahrnehmen.

REVOLUTION ODER EVOLUTION

Damit ist keine gefühlsduselige, nebulose Sentimentalität zu assoziieren, keine geringere Wachheit und Aufmerksamkeit, sondern ganz im Gegenteil einer gesteigerte, ein Sich-Hineindenken und -Hineinfühlen in das, was die Menschen in der Gesellschaft brauchen. So wie ein äußerlich-mechanistischer Ansatz mit innerer Logik in gewaltsamer Veränderung der Verhältnisse, also in Revolution mündet, so führt der das empathische Wahrnehmen dazu, dass ich die Menschen quasi von innen erlebe. So wird mir bewusst, wie sich die Gesellschaft aus sich heraus entwickeln will (und sich deshalb früher oder später, d.h. mit mehr oder weniger Leid, auch entwickeln wird). Es führt zu einer Evolution. Ja, man kann sagen: Eine Revolution findet immer nur dann statt, wenn die Impulse zu einem gesellschaftlichen Evolutionsschritt nicht wahrgenommen oder unterdrückt wurden.

Wie ich in diesen Essays (und in FGB) vielfach klar zu machen versucht habe, gibt es nur dreierlei solcher gesellschaftlichen Bedürfnisse, die sich konstruktiv als Fortschrittsimpulse bzw. destruktiv als Ursachen gesellschaftlicher Spannungen und Unruhen zeigen. In liberalen Gesellschaften, wo die Menschen ihre Lebensverhältnisse so beeinflussen können wie sie es brauchen haben sich jene drei Impulse in hohem Umfang realisiert:

  • FREIHEIT in allem, was die Identität der Menschen betrifft (Religion, Sprache, Kultur, Meinungsäußerung…) und hinsichtlich aller Institutionen des geistigen Lebens (insbesondere Bildung, Forschung, Konfessionen…). Man braucht sich nur die derzeitigen politischen Krisenherde zu vergegenwärtigen, um zu erkennen, wie viele von ihnen auf Unterdrückung sprachlicher, ethnischer, kultureller, religiöser… Minderheiten zurückgehen — auf Unfreiheit im Geistesleben.
  • GLEICHHEIT als Basis des Rechtslebens ist der zweite Grundimpuls. Keine Gesellschaft ist stabil, wo das Gerechtigkeitsempfinden der Menschen grundlegend verletzt wird, wo große Ungleichheit, Freunderlwirtschaft oder gar Korruption herrscht, wo alle gleich sind, aber manche doch gleicher…
  • BRÜDERLICHKEIT oder Gemeinwohl als Grundsatz der wirtschaftlichen Wertschöpfung ist der dritte Grundimpuls. Das ist nicht moralisch gemeint, sondern so, dass Strukturen zur Preisbildung geschaffen werden, wo alle Betroffenen (Stakeholdergruppen) ihre Bedürfnisse geltend machen können. In den Auseinandersetzungen treffen die Egoismen der Beteiligten aufeinander und bewirken ein Aufwacherlebnis für die Bedürfnisse der Anderen. Die elementaren Bedürfnisse Anderer kann man nur so lange ignorieren und mit Füßen treten als sie anonym und weit weg sind. Also gilt es sie an den Tisch zu holen, damit sie ihre Bedürfnisse sichtbar und spürbar machen können. Brüderlichkeit wird hierfür nicht utopistisch vorausgesetzt; sie entsteht systemisch im Zuge dieser Auseinandersetzungen. (Die sogenannte „Flüchtlingskrise“ ist die jüngste Auswirkung einer globalen Wirtschaft, die die Wertschöpfung in die Finanzmärkte „pumpt“ (!) und die globalen Ressourcen „aussaugt“. Es ist doch offensichtlich: Wo Ausbeutung herrscht, sodass die Menschen nicht mehr genug zum Leben haben, da stehen sie auf und rebellieren gegen diese „kannibalische Weltordnung“ [Jean Ziegler]).

Unterdrückung, Ungerechtigkeit und Ausbeutung sind die drei Hauptgründe für soziale Unruhen bis zu (Bürger)Kriegen. Man wird in so gut wie allen aktuellen Krisenherden die Wurzeln der Konflikte in einem oder mehreren dieser Gründe finden. Diese werden so lange nicht zur Ruhe kommen bis die ihnen zugrundeliegenden sozialen Grundimpulse sich ausleben können: FREIHEIT im geistigen, GLEICHHEIT im rechtlichen und BRÜDERLICHKEIT im wirtschaftlichen Leben.

DER DREIFACHE KOMPASS

FREIHEIT, GLEICHHEIT, BRÜDERLICHKEIT: sie sind die gesellschaftlichen Evolutionsimpulse des 21. Jahrhunderts. Sie sind der dreifache Kompass für alle Bemühungen einer gesellschaftlichen Veränderung, im Großen wie im Kleinen. Sie bieten eine Orientierung für die Leitbilder und Normen von Unternehmen, Organisationen, Einrichtungen aller Art und Größen, für die Ausrichtung ihrer Strategien, für die Gestaltung ihrer Strukturen und Prozesse usw. Und ich werde nicht müde, es zu unterstreichen: Das ist kein idealistisches Wunschdenken, keine Utopie (vgl.o.); das sind unsere grundlegenden gesellschaftlichen Existenzbedingungen. Je mehr sie erkannt, erspürt und umgesetzt werden, desto friedlicher ist eine Gesellschaft — hier und jetzt.

Nicht in einem „Retrotopia“ (Zygmunt Bauman), in einer utopistischen Rückwendung zu einer (niemals existenten) „heilen Welt“, nicht in rechten oder linken Ideologien, die das Leben längst widerlegt hat liegen die Lösungen für unsere Probleme. Sie liegen darin, die drei gesellschaftlichen Evolutionsimpulse im doppelten Sinn des Wortes zu realisieren. Denn was werden will, wird werden — mit unserer Unterstützung oder gegen unseren Widerstand: „Ziehe! Sonst wirst du geschleift“ (Hugo von Hofmannsthal). Noch haben wir die Wahl.

[Diese in kürzeren Abständen erscheinenden Beiträge setzen sich mosaikartig zu einem neuen Gesamtgesellschaftsmodell zusammen. Sie sollen dessen organische Schlüssigkeit und universelle Anwendbarkeit zeigen. Ihr eigentlicher Sinn und Zweck ist jedoch die Umsetzung dieses Modells — im Kleinen wie im Großen. Dafür müssen Sie weiter verbreitet werden. Vielen Dank dafür im Voraus!]

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ZUR VERTEIDIGUNG DES RECHTSSTAATS

ZUR VERTEIDIGUNG DES RECHTSSTAATS

Am 19. Februar 2025 haben sechs Bürgerrechtsorganisationen eine gemeinsame Erklärung zur anstehenden Bundestagswahl veröffentlicht: "Gegen die Angriffe auf den demokratischen Rechtsstaat!" Die dort geäußerten Sorgen um die Rechtsstaatlichkeit teile ich ohne Einschränkung: die Infragestellung der Grund-/Menschenrechte, martialische Law-and-Order-Forderungen, exekutiven Ungehorsam (also die Strategie, Gerichtsentscheide schlicht zu ignorieren)

By Hanspeter Rosenlechner