ROTZSCHLEUDERN
Die Reaktionen auf die Durchsuchungen und Beschlagnahmungen bei der Letzten Generation verschlagen mir schier die Sprache. Kostproben aus der ZEIT:
1.) Deutsche Polizeigewerkschaft
„Die Justiz greift durch, das ist das richtige Signal eines wehrhaften Rechtsstaates“, sagte Gewerkschaftschef Rainer Wendt. „Die Bevölkerung, die unter dem Straßenterror dieser selbst ernannten Klimaretter täglich tausendfach leidet, wird endlich als das tatsächliche Opfer dieser Kriminellen wahrgenommen“, fügte er hinzu.
2.) Gewerkschaft der Polizei
Der Rechtsstaat setze ein klares Zeichen gegen diejenigen, die die Demokratie diskreditieren und die Gesellschaft spalten wollten, schrieb sie in einer Mitteilung. Dort hieß es weiter: „Aus unserer Sicht erfüllt die Letzte Generation längst die Charakteristika einer kriminellen Vereinigung.“ Es sei konsequent, genau hinzuschauen, „wo das Geld zur Finanzierung der Straftaten herkommt“.
3.) Bundesbildungsministerin Bettina Stark-Watzinger (FDP) twitterte: „Klimaschutz ist ein richtiges und drängendes Anliegen. Klimaschutz gegen Rechtsstaat, Demokratie und die Bevölkerung dagegen nicht.“
Diese ans Hetzerische grenzende Stimmungsmache gegen die Letzte Generation reiht sich in die Stimmungsmache gegen die Grünen ein, die CDU/CSU und FDP seit der Graichen-Affäre gegen Wirtschaftsminister Habeck betreiben:
„Die Koalition versinkt im Chaos dieses Gebäudeenergiegesetzes“, monierte Merz. Die Regierung rief er auf: „Ziehen Sie dieses vermurkste und verkorkste Gesetz zurück!“
Was daran „vermurkst“ und „verkorkst“ sein soll, braucht nicht mehr begründet und zur Diskussion gestellt zu werden. Es geht nicht um Bedeutung, sondern um Wirkung. Ditto auf Twitter:
„Das Heizungsgesetz ist nicht zu reparieren. Auch der FDP-General @DjirSarai stellt klar: Es braucht ein neues Gesetz. Um es mit einem Wort des Kanzlers zu sagen: Dieses Gesetz ist „bekloppt.“ Die Koalition ist zerstritten. Die Bürger sind verunsichert“, so @csu_bt-Chef Dobrindt.“
Was an dem Gesetz reparaturbedürftig oder gar irreparabel sein soll? Interessiert überhaupt nicht! Hauptsache, es ist wirkungsvoll diffamiert. „Bekloppt“? Damit ist die Grenze zur Argumente-befreiten Polemik überschritten – wieder mal. Die Verunsicherung der Bürger – wenn es sie überhaupt gibt – ist keine Feststellung eines bestehenden Faktums, sondern das Ergebnis solcher Beiträge. Die – eigentlich gar nicht verunsicherten – Bürger sollen durch derartige Ansagen verunsichert werden. Dann sind sie leichter zu ködern und zu manipulieren. Verunsicherte und verängstigte Menschen sind die leichteste Beute für populistische Demagogen. Diese schaffen die Verunsicherung, indem sie sie als bereits bestehend hinstellen.
Wenn ich jetzt versuchte, die bewusste Tendenziosität bzw. Realitätsferne solcher Meldungen aufzudröseln, wäre ich auf verlorenem Posten. Während ich da sitze und überlege und schreibe und revidiere, ist der Zug schon weitergefahren. Man ist bei jedem Versuch, kontrafaktische oder gezielt irreführende Meldungen zu widerlegen immer in der Situation des Hasen, der in dem betrügerischen Wettlauf von den Igeln mit dem Spruch „Ich bin schon da!“ hin und her gehetzt wird bis er tot zusammenbricht.
Der Punkt ist: Es geht diesen Leuten nicht mehr um die Bedeutung desssen, was sie über die Medien hinausposaunen. Es geht ihnen nicht um die „Musik“, sondern um die „Lautstärke“, nicht um die öffentliche Darstellung des eigenen Standpunkts, um einen Wettstreit der besseren Argumente, um Für- und Widerrede, um Hinterfragen und Widerlegen. Nein, es geht allein um die Wirkung dieser Äußerungen.
Diese Ansagen werden lanciert. Das Wort ist stammverwandt mit „Lanze“ und bedeutet im wörtlichen Sinn werfen, zielgerichtet schleudern – wie einen Speer eben. Es geht nicht um ihren Gehalt, sondern um ihre Zielgenauigkeit und Wucht. Um zu treffen, um zu verletzen, um zu vernichten, um den Kampf zu gewinnen.
Twitter ist geradezu prädestiniert für diese Art der performativen, also Wirkungs-orientierten Kommunikation. Dieses Medium – dieser Algorithmus – ist Performanz in Reinkultur: Kurzmitteilungen, in ihrer Länge extrem beschränkt, den anderen Benutzern umso prominenter präsentiert, je mehr Aufmerksamkeit sie wecken, je mehr Erregung sie provozierten, d.h. je mehr Klicks sie so generieren, d.h. je mehr gezielte Werbeeinnahmen sie ermöglichen. Twitter ist der ideale Ort, um mit minimalem Aufwand maximale Wirkung zu erzielen, indem man seine Feindbilder anrotzt. Das Gelächter der Sympathisanten ist groß, das Geschrei der Gegner ebenso; der gewünschte Erfolg – die Polarisierung und Lagerbildung – ist erreicht.
Wenn Gewinnen alles ist, um jeden Preis, dann rechtfertigt dieses Ziel alle Mittel, auch die unseriösesten, unfairsten, widerlichsten. Das erleben wir zunehmend im öffentlichen Diskurs: Der Erfolg der Attacken und Kampagnen rechtfertigt offenbar jedes noch so abstoßende Mittel. Jedes. In der öffentlichen Auseinandersetzung fliegen nicht mehr nur Pfeile oder Speere; es fliegt der Rotz. Anders kann ich so widerliche Äußerungen wie die oben zitierten nicht mehr beschreiben. Merz, Söder, Dobrindt, Lindner und wie sie alle heißen (bzw. Kickl, Waldhäusl, Landbauer… in Österreich): sie rotzen hemmungslos gegen ihre politischen und weltanschaulichen Gegner. Und klatschen sich bei jedem Treffer lachend auf die Schenkel.
Der Rotz bleibt dann so schön eklig an den Opfern kleben, egal ob an den Attacken was dran ist oder ob sie zusammenphantasiert sind. Mit dieser Anrotzerei können sich all jene prächtig identifizieren, die so eine abstoßende Taktik nicht reflektieren. Wer sie reflektiert, ist zwar von den Anrotzern abgestoßen, aber die Reflektierenden sind sowieso eine Minderheit und deshalb nicht die Klientel der Rotzbuben.
Das Anrotzen ist aber kein Selbstzweck zur bloßen Gaudi. Es ist ein taktisches Mittel zu dem Zweck, Mehrheiten hinter sich zu scharen. Wahl-Mehrheiten. Der erhoffte Wahlerfolg rechtfertigt für die Rotzschleudern jedes Mittel. Je näher die Wahlen rücken, desto hemmungsloser rotzen sie die politischen Gegner an. Je wirkungsvoller das Anrotzen ist, desto mehr wird angerotzt. Denn nur die eigene Moral könnte davon abhalten, anstatt zu diskutieren die Gegner einfach anzurotzen. Ist diese moralische Hemmschwelle erst einmal ruiniert, rotzt es sich hingegen ganz ungeniert. 🤢