#unteilbar: EINE VIERTELMILLION MENSCHEN – UND DAS WAR’S?

Mely Kiyak hat die jüngste ihrer ausgezeichneten Kolumnen ("Melys Deutschstunde") überschrieben mit "Bewegung in liebevolle Hände abzugeben". Sie beklagt darin, dass das zivilgesellschaftliche Engagement kaum einen Einfluss auf die Politik hat:
"Wo bleiben denn die Bundesregierung, die Parteienforscher, die Bundeszentrale für politische Bildung? Man lässt das verpuffen. Man lässt dieses ganze Engagement, das sich unabhängig von parteipolitischer Präferenz für das Grundgesetz ehrlich interessiert und die Grundrechte einfach nur sehr ernst nimmt, einfach verpuffen."
Ja, so ist das leider: EINE VIERTELMILLION MENSCHEN demonstriert für die liberale, pluralistische Demokratie; EINE VIERTELMILLION MENSCHEN demonstriert, dass sie sich nicht von neurechten Hetzern auseinanderdividieren lassen – und es geht im politischen Alltagsgeschäft unter. Man hat offenbar andere Sorgen. Wichtigeres zu tun. Was auch immer; Fakt ist: Kein Mensch, der irgendwo was zu sagen hat knüpft daran irgendwie an. Und das ist einerseits tragisch.

ZIVILGESELLSCHAFT: WAS ANDEREN NUR LEID TUT…
Andererseits kann es ein Weckruf sein. Ein Weckruf an die Zivilgesellschaft: Wer sich auf die Politik verlässt, ist verlassen. Die Politik ist nur noch mit sich selbst beschäftigt. Sie ist selbstreferenziell geworden. Die Parteien sind nicht mehr Teil der Lösung, sondern selbst Teil des Problems.
"Zivilgesellschaft", das sind die mündigen Bürger, die sich ihrer gesellschaftlichen Verantwortung bewusst sind und diese ergreifen. Es gibt viel zu viele Menschen, die ihr Herz ausgelagert haben und darum weder sich noch andere spüren. Sie sitzen überall an den Schalthebeln. Sie haben die Macht, und sie halten sich für unverwundbar – bis sie fallen. Es sind die politischen und wirtschaftlichen Eliten, deren Legitimität nun erodiert ist. Und die sie weiter erodieren, indem sie sich an die Macht klammern, Macht und nichts als Macht, mehr Macht, noch mehr, und bloß keine Macht einbüßen. Das ist ihr einziger Lebensinhalt, und das drückt der Gesellschaft und der Erde den Stempel auf.
"Zivilgesellschaft", das sind die Menschen, die ihr Herz nicht abgespalten und ausgelagert haben. Die ihr Herz am rechten Fleck haben. Menschen, die sich spüren, die andere spüren. "Mir tut vieles weh, was anderen nur leid tut": dieses Lichtenberg-Wort ist ihr Leitmotiv. Es tut ihnen nicht nur leid, wenn ein hoffnungsloser Asylant sich in der Gefängniszelle, in die man ihn zu Unrecht gesteckt hat selbst verbrennt; es tut ihnen weh. Es gut ihnen nicht nur leid, wenn der Fossilenergie-Komplex den Hambacher Forst abholzen lassen will; es tut ihnen weh. Es tut ihnen nicht nur leid, wenn Muslime, Juden und andere erkennbare Gläubige auf der Straße angepöbelt, bedroht oder verprügelt werden (wenn nicht Schlimmeres); es tut ihnen weh. Es tut ihnen nicht nur leid, wenn zahllose Schweine und Rinder zu Tausenden unter grauenhaften Bedingungen in Massenställen zusammengepfercht dahinvegetieren, es tut ihnen weh. Es tut ihnen nicht nur leid, wenn systemrelevante Banken nach der Finanzkrise mit Steuergeld gerettet werden, während jeder kleine Schuldner, der seinen Verpflichtungen nicht nachkommen kann gepfändet wird; es tut ihnen weh. Und so weiter und so fort. Gleich ob sie gläubig oder ungläubig sind, sie haben ein Wort so vollkommen verinnerlicht, dass es Teil ihres Wesens geworden ist: "Was ihr dem geringsten meiner Brüder getan habt, das habt ihr mir getan."
WIR NEHMEN DIE DINGE SELBST IN DIE HAND
Darum empören wir uns. Denn "die Zivilgesellschaft", das sind wir alle. Wir, die Bürger. Wir, die einzig wirklichen Souveräne. Wir empören uns. Wir gehen auf die Straße. Wir bekennen Farbe. Wir schreien laut hinaus, wo wir stehen, was wir für richtig halten und was für falsch. Und wir lassen uns nicht bieten, dass diese Demonstration unserer Überzeugungen, unserer Gefühle und unseres Willens einfach verpufft.
Das gemeinsame Ideal ist da, so vielfältig wie einheitlich. Es braucht jetzt nur ein Ziel, auf das es ausgerichtet wird. Dann bekommt es Zug, dann zieht es uns in die Zukunft. Die Bürgerbewegung der DDR hatte ein solches Ziel, die Occupy-Bewegung hatte es, der Arabische Frühling hatte es… Wenn der richtige historische Moment, der kairos gekommen ist, ist so eine Bewegung nicht mehr aufzuhalten, dann kann sie Berge versetzen.
Jeden Tag mehren sich die Zeichen, dass dieser kairos da ist, dass die repräsentative Demokratie sich in ihrer bisherigen Form totgelaufen hat, dass wir nicht mehr länger abwarten dürfen. Wir dürfen unseren politischen Repräsentanten nicht mehr länger zuschauen, wie sie aus kurzsichtigem Parteiopportunismus und machtpolitischem Nutzenkalkül das Weltklima unwiderruflich aus dem Gleichgewicht bringen, politische Konflikte bis zu Kriegen in Kauf nehmen oder gar provozieren etc. etc. Wir, die Menschen, die das Herz auf dem rechten Fleck haben, wir nehmen denen, die es von sich abgespalten und ausgelagert haben haben das Heft aus der Hand. Wenn wir, die Zivilgesellschaft, nicht wollen, dass die Gesellschaft aufgrund der parteipolitischen und medialen Eigendynamik nach rechts driftet und sich spaltet, dann können wir das jederzeit stoppen. Wenn wir nicht wollen, dass 1% der Bevölkerung über so viel Vermögen (und damit so viel GeldMacht) verfügt wie die "unteren" 60% zusammen, wenn wir nicht wollen, dass ein Top-Manager an einem Tag so viel Rente kassiert wie Normalbürger in ein, zwei Monaten verdienen, dann können wir das jederzeit stoppen. Nicht indem wir dafür demonstrieren. Das hatten wir schon, und es hat zwar für Medienapplaus gereicht, aber nicht für politische Veränderungen. Indem wir es selbst entscheiden.
EINE ZIVILGESELLSCHAFT, DIE DIE GRUNDSATZENTSCHEIDUNGEN SELBST TRIFFT
Wir erleben gerade im ganzen deutschsprachigen Raum erlebt, wie fruchtbar die Initiative Deutschland bzw. Österreich spricht ist (in der Schweiz läuft die Aktion noch). Vor einigen Monaten ging ein Aufruf an Menschen mit unterschiedlichsten Einstellungen durch die Medien, sich für Zweiergespräche zu melden. Gesprächspartner mit diametral entgegengesetzten Ansichten würden zusammengebracht werden, um die Sicherheit ihrer "Echokammer" zu verlassen und zu diskutieren. Ich verfolge die Nachlese dieser Diskussionen seit Wochen in den Zeitungen (Die Zeit, Der Standard). Es gibt Teilnehmerpaare, die einander zu ihrer Überraschung trotz Gegensätzlichkeit näher gekommen sind als erwartet; andere haben wenigstens abgeklärt, wo sie unverrückbar stehen. Was aber allen gemeinsam ist: Sie waren allesamt froh, ihre Echokammer verlassen zu haben. Sie haben mit jemandem geredet, den sie bislang nur vom Hörensagen kannten, oft als Feindbild. Sie verstehen nun andere Standpunkte, Hoffnungen, Ängste… als die eigenen, und zwar nicht nur mit dem Kopf, sondern auch mit Herz und Bauch. Ich lese immer wieder, dass die Gesprächspartner sich wieder treffen wollen. Aber allesamt haben sie diese Initiative als große Bereicherung empfunden.
Diese Aktion geht in die selbe Richtung wie die Bürgerversammlungen in Irland. Diese Art von Versammlungen ist dort institutionalisiert und ein fester Bestandteil der Demokratie. Diese Art von Versammlungen ist dort institutionalisiert und ein fester Bestandteil der Demokratie. Die 99 Teilnehmer werden zu bestimmten Diskussionsthemen als repräsentativer Bevölkerungsquerschnitt ausgelost, um über Themen wie die Legalisierung der Abtreibung, Klimawandel, eine Wahlreform, die Überalterung Irlands… zu beraten. Die Diskussion – z.B. über das Abtreibungsthema – findet mit Experten, Medizinern, Ethikern, Juristen, Frauen, die abgetrieben haben und Frauen, die nicht abgetrieben haben statt. Das gewährleistet offenen Informations und Gedankenaustausch. der ganze Prozess dauert 1 Jahr, pro Monat müssen die Teilnehmer ein Wochenende investieren. Zum Schluss schicken sie ihre Empfehlung ans Parlament.

Das tun sie, weil es derzeit Teil der politischen Spielregeln ist. Aber warum eigentlich? Warum soll dieses Votum nicht bindend sein? Warum soll bei den Politikern nicht dann nur noch die Umsetzung liegen?
Die Zeit
Ich lese immer wieder, dass eigentlich vier Fünftel der Bevölkerung kein größeres Problem mit dem Migrationsthema hat, aber ein Fünftel die ganze Republik politisch vor sich hertreibt. Die überwältigende Mehrheit der Bevölkerung ist gegen rechts – und muss betreten zuzuschauen, wie die Politiker unbeeindruckt weiter nach rechts steuern. Nun hätten die vier Fünftel Gelegenheit, nicht nur zu demonstrieren. Die Zivilgesellschaft könnte sich des Themas annehmen, es in repräsentativ ausgelosten Bürgerversammlungen in allen Richtungen vertiefen, diskutieren und am Ende beschließen. Dann ist Schluss mit dem jämmerlichen ParteiPolitSpektakel um "die Flüchtlinge", "den Islam"…: "Der Souverän hat entschieden."
Die fundamentalen gesellschaftlichen Grundsatzentscheidungen selbst zu treffen: das kann das Ziel für die Zivilgesellschaft sein, auf das sie wartet. Eine Viertelmillion Menschen, gute Menschen, Menschen mit dem Herz auf dem rechten Fleck – das ist für diese Initiative erst der Anfang. Millionen müssen es werden, die der Politik die Richtlinienkompetenz entziehen, ums sie selbst zu übernehmen. Für Liberalität, für Gerechtigkeit, für Sozialität. Für Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit.