USA 2020: GERADE NOCH DAVONGEKOMMEN?

USA 2020: GERADE NOCH DAVONGEKOMMEN?

Die USA sind knapp an einer zweiten Amtszeit Trumps vorbeigeschrammt. Kein Anlass, die Demokratie zu feiern.

Dass Trump die Wahl verloren hat, ist für viele ein Beweis, dass die amerikanische Demokratie mit ihrem berühmten System der „checks and balances“ sogar einem Präsidenten standgehalten hat, der vier Jahre lang tagein, tagaus wie ein Berserker versucht hat, ihre Institutionen und Verfahren zu zerschlagen. Bravo, ein Hoch auf die Demokratie!

Und was, wenn Trump es doch wieder geschafft hätte? Wenn er und seine Anhänger heute feiern würden und er sein Zerstörungswerk weitere vier Jahre fortsetzen könnte? Hätte sich dann die US-Demokratie in vier Jahren als unerschütterlich erwiesen (weil eine dritte Amtszeit laut Verfassung unmöglich ist)? Eine schwache Argumentationslogik…

Die Frage, wie resilient die Demokratie ist entscheidet sich nicht damit, dass sie vielleicht nach jahrelangen Attacken am Ende doch noch knapp mit einem blauen Auge davonkommt. Sie entscheidet sich daran, ob Personen, die sie nur benutzen, um sie auszuhöhlen und zu zerstören überhaupt an die Macht kommen können (vgl. meine früheren Blogbeiträge hierzu). Wenn ein Trump, Bolsonaro, Johnson, Erdogan, Orban… demokratisch völlig „korrekt“ an die Macht kommen können, ist an den Strukturen und Verfahren, die das ermöglichen, wo nicht gar begünstigen etwas grundlegend verkehrt.

Aaaber darf man das überhaupt so sagen? Ist es nicht der Wille des jeweiligen Volkes, dass diese Herren nun an der Macht sind? Und zählt es nicht zu den grundlegenden Spielregeln der Demokratie, dass man die Entscheidungen der Mehrheit auch dann akzeptieren muss, wenn sie einem nicht passen?

Hier liegt offenkundig ein Problem vor: Was, wenn ein demokratisch korrekter Prozesses einen Hitler an die Macht bringt? Oder um es nicht ganz so zuzuspitzen: Ist eine demokratische Wahl auch dann als legitim anzusehen, wenn sie jemanden an die Macht bringt, der die Demokratie zertrümmern wird? Muss man zähneknirschend zur Kenntnis nehmen, dass die demokratische Selbstabschaffung der Demokratie eben leider „dazugehört“, als ihre Achillesferse sozusagen? Shit happens!?

Ich meine, nein. Aber wenn man überzeugt ist, dass unter bestimmten Umständen nicht der Wille der Mehrheit über dem einer Minderheit steht, gibt es im Rahmen des Modells „repräsentative Demokratie“ keine demokratische Lösung mehr. Alle Denkmöglichkeiten führen letztlich zu einem mehr oder weniger gewaltsamen Putsch und zur Diktatur der vermeintlich Klügeren. Dies ist das Demokratie-Dilemma: dass unter Umständen auch die Falschen mehrheitlich gewählt werden können.

DAS SYSTEM IST DAS PROBLEM

Dieses Dilemma ist Teil der „System-DNA“ aller Parteien. Was die US-Republikaner in zynisch-opportunistischer Machtpolitik im vergangenen Jahrzehnt auf die Spitze getrieben haben, ist +/- die Macht-Logik jeder Partei. Wenn eine Partei an die Macht kommen bzw. an der Macht bleiben will, muss sie – ungeachtet ihrer Programmatik – Macht zu ihrem primären Ziel erklären. Diesem Apriori der Macht muss sie alles übrige unterordnen. Mit den denkwürdigen Worten Jean-Claude Junckers: „Wir Regierungschefs wissen alle, was zu tun ist, aber wir wissen nicht, wie wir danach wiedergewählt werden sollen.“ Warum treffen beispielsweise die Regierungen angesichts der bevorstehenden Klimakatastrophe mit ihren verheerenden ökologischen und i.d.F. ökonomischen und sozialen Konsequenzen nicht die überlebensnotwendigen Entscheidungen? Weil sie einen erheblichen Teil ihrer Wählerbasis damit vor den Kopf stoßen und vielleicht die nächste Wahl verlieren würden! Weil sie wiedergewählt werden wollen, wiedergewählt werden müssen, wenn sie etwas entscheiden können sollen. Darum müssen sie den Wahlerfolg, der jeder Politik als Apriori zugrunde liegt über alles übrige stellen.

Hier liegt der Hund begraben – die systemische Selbstkorrumpierung der Parteiendemokratie. Ihr (vorläufiger) Tiefpunkt sind jene Republikaner, die ihren Teufelspakt mit Trump geschlossen haben und seine Lügen und Diffamierungen eyes wide shut bis zum heutigen Tag teilen und aggressiv verteidigen.

Das prägt die Politik jeder Partei, jedes Politikers, jeder Politikerin – mehr oder weniger; je nach Anstand. Denn entsprechend ihrer jeweiligen politischen Ausrichtung – konservativ, links, rechts, grün… – nominiert jede Partei ihre machttaktisch vielversprechendsten Spitzenkandidaten, die bei den Wählern am besten ankommen. Sie setzt Themen auf ihre Agenda, mit denen sie sich Wahlerfolge erhofft. Sie setzt sich politische Ziele, von denen sie sich Wahlerfolge verspricht. Sie entscheidet sich für politische Strategien, die Wahlerfolge versprechen. Sie entscheidet im politischen Alltag primär so, dass diese Entscheidungen Wahlerfolge versprechen. Erst muss die jeweilige Wählerklientel bedient werden, dann kommt – je nach politischer Ausrichtung – der Rest (Klima, Soziales…) Denn wer nicht gewählt wird,…

Mit dem Primat des Wahlerfolges setzen die Parteien eine fatale Eigendynamik in Gang. Der Wahlerfolg– ursprünglich nur Mittel zum Zweck (diese oder jene Politik umsetzen zu können) – wird zum Selbstzweck. Dieser Selbstzweck korrumpiert nicht nur aufgrund der menschlichen Schwächen der Regierenden, sondern systemisch jegliche Politik gewählter Politiker.

DIE LÖSUNG DES GORDISCHEN KNOTENS

Zum Dilemma des Macht-Apriori scheint es keine demokratische Alternative zu geben – jedenfalls nicht im Sinne der Parteien-Demokratie, die geradezu als Synonym von Demokratie gilt. Dabei gibt es eine solche demokratische Alternative – die anstehende Weiterentwicklung der Demokratie. Sie hat sich schon in der attischen Demokratie vor zweieinhalb Tausend Jahren bewährt und auch Jahrhunderte lang im Venedig: das Losverfahren. Man braucht nur die Erfahrungen des 20. und 21. Jahrhunderts zu nützen, um es an die Gegebenheiten und Erfordernisse der Moderne anzupassen. Terry Bouricius, ein jahrzehntelanger politischer Praktiker und Weggefährte von Bernie Sanders hat das gemeinsam mit David Schecter sowohl für die Legislative als auch für die Exekutive erfolgreich geleistet.

Alle Funktionen, die irgendwie mit Macht verbunden sind, sind dabei ausgelost – z.B. aus einem Wählerverzeichnis. Wer Macht hat, darf diese nur durch Zufall und nur befristet zugesprochen bekommen haben. Es darf keinen Weg geben, sich durch irgendwelche Taktiken und Machinationen – und seien es demokratisch „korrekte“ – politische Macht zu verschaffen.

Wer hingegen sein besonderen Kenntnisse und Fähigkeiten gesellschaftlich geltend machen will, soll das ruhig dürfen, darf jedoch keine Macht haben außer der der besseren Argumente.

Dies führt zu folgenden Vorschlägen für eine neue Legislative bzw. Exekutive:

EINE NEUE LEGISLATIVE

  1. In einem ausgelosten Agenda-Rat kommen Gesetzgebungs-Themen aus verschiedenen Quellen zusammen. Er entscheidet dann, für welche Themen Gesetze geschrieben oder geändert werden müssen. Die Bürger haben ein Petitionsrecht, um Gesetzgebungen einzuleiten.
  2. Sobald ein Thema ausgewählt ist, wird nach Freiwilligen für den Entwurfs-Ausschuss gesucht. Sie erarbeiten einen Gesetzentwurf. Die diversen Interessengruppen können alles daran setzen, ihre Überzeugungen und Anliegen zu Gesetzen zu machen: sie haben keinerlei Einfluss auf die spätere Entscheidung.
  3. Für jede Gesetzesvorlage prüft ein ausgeloster Ausschuss den Entwurf der Interessengruppen, nimmt Expertenaussagen entgegen, hält Anhörungen ab, ändert und kombiniert Gesetzentwürfe und entscheidet mit Mehrheit über endgültige Vorlagen, die in die Abstimmungsphase gehen.
  4. Jeder Gesetzentwurf kommt in eine – jeweils neu ausgeloste – gesetzgebende Versammlung. Deren Mitglieder treffen sich bis zu einer Woche lang, hören sich Pro- und Contra-Argumente an und beschließen – ohne interne Debatte – in geheimer Abstimmung.

Dieses Procedere wird von einem Regelrat im Detail ausarbeitet und ggf. optimiert. Ein Kontrollrat wacht über seine korrekte Einhaltung und Umsetzung. Zusammengefasst:

EINE NEUE EXEKUTIVE

Wie sähe eine Exekutive aus, die auf dem Losverfahren aufbaut? Von den Denkschema „Regierung“ wird man sich dabei ebenso lösen müssen wie von der Überzeugung, Parteien seien konstitutiv für eine liberale Demokratie.

  • Ein ausgeloster Einstellungsausschuss stellt die Führungskräfte der Exekutive an. Er prüft i.d.F. auch die Posten-Entscheidungen der leitenden Exekutiv-Organe bzgl. der zweiten Führungsebene.
  • Die Leiter der Exekutive sind in ihrem jeweiligen Ressort verantwortlich für die Umsetzung der Gesetze. Sie haben aber keine Richtlinienkompetenz. Sie regieren nicht; sie verwalten. Die Qualität ihrer Arbeit wird regelmäßig evaluiert (s.u.), sodass von vornherein keine Notwendigkeit einer Befristung ihrer Amtstätigkeit besteht. Sie können ja nötigenfalls entlassen werden.
  • Kontrolliert werden die erste und zweite Führungsebene während ihrer Aktivität von einem ausgelosten Aufsichtsrat, der entweder auf eigene Initiative in ihre Tätigkeit interveniert oder aufgrund anderer Beschwerden.
  • Sollte eine Entlassung zur Diskussion stehen, prüft eine ausgeloste Schiedsstelle die Faktenlage und Argumente, und entscheidet.
  • Ein ausgeloster Revisionsausschuss kontrolliert, ob sich der Aufsichtsrat an seine Verfahrensregeln hält.
  • Diese Verfahrensregeln werden im Detail von einem Regelrat ausgearbeitet und weiter optimiert.

Zusammengefasst:

Wo eine Professionalisierung sinnvoll ist, sind die ausgelosten Mitglieder der Organe einige Jahre im Amt. Sie werden aber nur zeitversetzt ausgewechselt. Im Detail kann man beide Procedere hier studieren:

LEGISLATIVE : http://kairos.social/public/An_Idealized_Design_for_the_Legislative.pdf

EXEKUTIVE: http://kairos.social/public/An_Idealized_Design_for_Government._Part.pdf

All die Krebsgeschwüre der Parteien-Demokratie – opportunistisches Taktieren, Korruption, Parteibuchwirtschaft, Nepotismus, Populismus… – sind damit ein für allemal beseitigt, ohne dass die Demokratie in ihrem liberal-pluralistischen Kern angetastet würde. Gesetze werden – nachdem alle Gesichtspunkte zusammengetragen und abgewogen wurden – nach bestem Wissen und Gewissen beschlossen. Für die Personen, die mit ihrer Umsetzung betraut werden, sind sachlich-fachliche Kriterien und echte Kompetenzen entscheidend.

Wenn man Los-basierte demokratische Institutionen und Verfahren mit dem aktuellen Verfallszustand der Parteien-Demokratie vergleicht, geschweige denn mit den „illiberalen Demokratien“, wird man mit einem großen Aufatmen sagen: Endlich eine Lösung!

Ich frage mich: Wenn man die politischen Entwicklungen in den USA und im Rest der Welt mit diesen beiden Vorschlägen vergleicht –: welche strukturellen Probleme würden sie nicht lösen?!

Das Losverfahren kann jederzeit überall dort eingesetzt werden, wo Verfassung und Gesetze es erlauben. Und wo es noch nicht möglich ist, muss der zivilgesellschaftliche Druck so lange wachsen, bis die derzeitigen Entscheidungsträger sie entsprechend ändern. Sicher, das wird nicht ohne größere Konflikte abgehen – die Parteien und ihre Repräsentanten werden nicht einfach so politisches Harakiri begehen! Aber es braucht nur 3 ½ Prozent der Bevölkerung, nur dreieinhalb Prozent! Seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts sind „keine Kampagnen [gescheitert], nachdem sie die aktive und nachhaltige Beteiligung von nur 3,5% der Bevölkerung erreicht hatten – und viele von ihnen waren mit weit weniger erfolgreich“ (Erica Chenoweth). 3,5% einer Gemeinde, 3,5% eines Bundeslandes, 3,5% eines Staates!

Wenn das nicht ermutigend ist…? 😊


Dieser Essay ist Teil eines gesamtgesellschaftlichen Entwicklungskonzeptes, das ich in meinem Manifest ausführlicher dargestellt habe.

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By Hanspeter Rosenlechner