ZUR VERTEIDIGUNG DES RECHTSSTAATS

Am 19. Februar 2025 haben sechs Bürgerrechtsorganisationen eine gemeinsame Erklärung zur anstehenden Bundestagswahl veröffentlicht: "Gegen die Angriffe auf den demokratischen Rechtsstaat!" Die dort geäußerten Sorgen um die Rechtsstaatlichkeit teile ich ohne Einschränkung: die Infragestellung der Grund-/Menschenrechte, martialische Law-and-Order-Forderungen, exekutiven Ungehorsam (also die Strategie, Gerichtsentscheide schlicht zu ignorieren) usw. usf.
Unbehaglich wird mir hingegen, wenn ich ihre Methode kritisch betrachte: wie sie dem Problem beizukommen versuchen: durch Argumentieren. Die Argumente an sich unterstütze ich hundertprozentig, aber ich bin überzeugt: diese Methode verfehlt ihr Ziel.
Die Annahme, dass die Wählerklientel der Populisten für solche Argumente noch empfänglich wäre, ist ja schon höchst zweifelhaft – ebenso die Annahme, dass die Populisten dadurch ins Grübeln kämen, geschweige denn, dass sie sich durch solche Argumente von ihren Angriffen auf die Rechtsstaatlichkeit abbringen ließen. Es ist ja ihr politisches Erfolgsrezept, das ihnen zunehmend Wahlerfolge bringt – weltweit. Sie triggern bei ihrer Wählerschaft Instinkte und Emotionen und lenken diese geschickt in die politisch gewünschten Bahnen. Und bei den Wahlen kassieren sie den Erfolg dieser Strategie. Am Anfang steht die Wechselwirkung (die systemische Dynamik) Politiker 🔄 Wahlvolk; ihre gesteigerte Form: Populisten 🔄 Gefolgschaft, und ihre extreme: Demagogen 🔄 Mob. Das heißt: Populisten existieren nur durch ihre Anhängerschaft; Demagogen schaffen sich ihre Gefolgschaft, von der sie selbst geschaffen werden. 🔄
Warum ist aber ein – offenbar immer größer werdender – Teil der Gesellschaft so empfänglich für den Populismus, oder konkreter: Warum hat ein immer größer werdender Teil der Gesellschaft kein Problem damit, wenn Migranten, Muslime, Juden, sexuelle und andere Minderheiten verächtlich gemacht, benachteiligt und verfolgt werden? Warum werden Antisozialität und Unmenschlichkeit bei so Vielen konsens- und anschlussfähig? Sicher nicht weil sie zu wenig über Grundrechte, Rechtsstaatlichkeit etc. nachgedacht haben.
Sie spüren es nicht, sie spüren sich nicht
Es ist kein primär intellektuelles Defizit, das sich hier manifestiert; es ist ein emotionales und moralisches. Sie spüren es nicht, sie spüren sich nicht. Da rührt sich nichts in ihrer Brust, wenn geflohene Menschen im Meer treiben und ertrinken; da rührt sich nichts in ihrer Brust, wenn die nächste Flüchtlingsunterkunft angezündet wurde; da rührt sich nichts in ihrer Brust, wenn ein Synagoge verschmiert oder ein jüdischer Friedhof geschändet wurde; da rührt sich nichts in ihrer Brust, wenn bestimmte Menschen bespuckt, geschlagen, gejagt, ja: umgebracht werden… Sie empfinden nicht nur keine Abscheu, sie freuen sich geradezu darüber!
All das ist keine Frage politischer Ansichten (vgl.o.); es ist eine moralische, emotionale, menschliche und zwischenmenschliche Frage – um nicht zu sagen: es ist Ausdruck einer totalen moralischen, emotionalen, menschlichen und zwischenmenschlichen Verkommenheit.1
Das (langfristige) Grundproblem: Bildungsversagen
Dieses Defizit ist weder vom Himmel gefallen noch angeboren. Es wurde erlernt. Eine solche Haltung wurde von den Eltern vorgelebt und übernommen.2 Sie wurde im Freundeskreis so gelebt. Sie wurde in der Schule weiter befestigt – nicht so wie Lesen, Schreiben und Rechnen etc.; die werden ja ausdrücklich als Lehrstoff unterrichtet. Jenes (zwischen)menschliche Defizit ist vielmehr die große Leere rund um jene Lehrinhalte. Es ist die Wüste, die den Bunker des rein wissensorientierten Unterrichts umgibt. Moral, Empathie, Gemeinsinn… müssen 1. in der Kindheit erlebt und 2. gepflegt und genährt werden. Genau wie der Verstand. Genau wie handwerklich-praktische Fähigkeiten. Lässt man diesen Acker brach liegen, breitet sich Unkraut aus, das alle anderen Keime erstickt.
Um nicht missverstanden zu werden: Ich rede nicht von Moralisieren, vom Eintrichtern ethischer Regeln (bis hin zum bürgerlichen Verfassungskonsens; vgl.o.) und von Sozialdressur. Diese Dressur zum "richtigen" Sozialverhalten ist ein Prokrustesbett.3 Und das Aufnötigen von Regeln und Verhaltensweisen bleibt genau da, wo es herkommt: äußerlich. Damit teilt es das Schicksal des übrigen Unterrichtsstoffs: er bleibt in weiten Teilen etwas Äußerliches, das die Heranwachsenden notgedrungen schlucken (wenn sie nicht dagegen rebellieren). Es bleibt jedenfalls etwas, womit sie sich nicht identifizieren. Und wirkmächtiger noch ist der performative Aspekt dieses Unterrichts: dass das Unterrichtsgeschehen auf den unverrückbaren Schienen des Lehrplans abläuft, wo ein Abweichen und Ausscheren unmöglich ist. Er ist ein Prokrustesbett, in das alle Menschen gezwängt werden und das nicht einmal diejenigen unversehrt verlassen, die keine Verstümmelungen erleiden mussten. Denn was alle implizit gelernt haben, war: entscheidend im Leben ist schlucken ohne mucken. Es zählt nicht wer du bist, sondern was du leistest, d.h. was du zu schlucken imstande bist. Erwünscht und geduldet wird – in der Schule wie im Leben – nur, was in das Prokrustesbett passt. Pass dich an, füge dich, sei ein "Leistungsträger", und hüte dich im Übrigen davor, den Rahmen des Prokrustesbetts zu überschreiten, dann hast du Erfolg. Das Ergebnis eines angepassten, konditionierten, entfremdeten und verstümmelten Bildungswesens4 sind Anpassung, Selbstkonditionierung, Selbstentfremdung und Selbstverstümmelung seiner Opfer. Und alle halten dieses System für das Normalste der Welt. "Rekursivität: Die Gesellschaft produziert die Schule, die wiederum die Gesellschaft produziert" (Edgar Morin). 🔄
Genau diesen Eindruck habe ich derzeit von großen Teilen des Wählervolks der Rechtsradikalen und der rechtskonservativen5 Mitte: dass sie nun froh sind, endlich den ganzen unwillig geschluckten Gutmenschen-Mist, all die unangenehmen Normen, Regeln und Tabus wieder ausspucken und in den Müll schmeißen zu können. Sie hatten sich ohnehin nur äußerlich daran gehalten, ohne sich mit dem Zeug zu identifizieren. In den letzten Jahren hatten sie einen wachsenden Widerwillen gegen sie entwickelt, ja geradezu einen Hass, wenn das von der Norm Abweichende unverschämt selbstbewusst daherkam (Stichwort: Pride Parade…). Jetzt können sie ihrem Ego hemmungslos freien Lauf lassen und diese ihre "Freiheit" mit Zähnen und Klauen gegen jeden Widerspruch verteidigen.
Womit ich wieder am Ausgangspunkt bin: Mit einer Verteidigung der Rechtsstaatlichkeit und der Menschenrechte an diese Leute heranzutreten, geht ihnen beim einen Ohr hinein und beim anderen hinaus. Ihr Defizit ist kein oder nicht in erster Linie ein intellektuelles, wenngleich ihrem Denken auch eine fatale Unterkomplexität zuzuschreiben ist. Das Rechtsleben ist Ausdruck des Rechtsempfindens, und das Rechts- und Unrechtsempfinden wurzelt im moralischen Kern des Menschen. Wessen moralischer Kern verdorben ist, wer nur über ein amputiertes Rechts- und Unrechtsempfinden verfügt (nämlich nur bei sich und den Mitgliedern seiner In-Group), wer nicht spürt, was "Menschenwürde" heißt, bei dem verhallen auch Vorträge über ihren Wert und über die Wichtigkeit von Menschrechten und Rechtsstaatlichkeit ungehört.
Die (langfristige) Lösung: eine grundlegende Bildungsreform
Wenn die (wirkliche) Wurzel der moralischen und sozialen Krise also ein Bildungsversagen ist, darf auch eine (wirkliche) Lösung nicht das Pferd am Schweif aufzäumen: bei juristischen Plädoyers für Grundrechte und Rechtsstaatlichkeit. Die Entwicklung des moralischen Empfindens und des Gemeinsinns sind entscheidend. Jeder Ethik-Unterricht in der Oberstufe kommt deshalb um Jahre zu spät. Er verfehlt den für Moral, Gerechtigkeit, Fairness… entscheidenden Bereich des Menschen: sein Herz. Moralische und soziale Empfindungen werden um Jahre früher grundgelegt. Wer Gerechtigkeit, Gemeinsinn, Achtung, Sozialität… bei Erwachsenen vorfinden will, muss bei den Kindern ansetzen. Und eben nicht im Sinne eines Unterrichtsfachs "Ethik" oder "Staatsbürgerkunde", nicht als "Wissen" über die Ethik, sondern von Kindheit an als pädagogische Nährung und Pflege der Gerechtigkeitsliebe, der Gemeinwohlliebe, der Abneigung (Abscheu, Ekel) vor Ungerechtigkeit, Intoleranz, Gewalt, Grausamkeit… Kurz: nur die bewusste und methodische Förderung der moralischen Entwicklung und der Herzensbildung wird die moralische und soziale Krise langfristig lösen können.
Mit anderen Worten, es geht um eine grundlegende Bildungsreform. Keine Reform der Lehrpläne und angewandten Methoden, sondern der Methode der Methode. 🔄
Es handelt sich um eine Reform, die nicht programmatischer, sondern paradigmatischer Natur ist […].
Alle bisher entworfenen Reformen haben sich um dieses schwarze Loch gedreht, in dem das tiefe Bedürfnis unseres Geistes, unserer Gesellschaft, unserer Zeit und damit auch unseres Bildungswesens liegt. Sie haben die Existenz dieses schwarzen Lochs nicht wahrgenommen, weil sie aus genau jener Art von Denken hervorgehen, die reformiert werden muss.
Die Bildungsreform muss zur Reform des Denkens führen, und die Reform des Denkens muss zur Bildungsreform führen. (Edgar Morin)
Ein Teil der "Reform des Denkens" soll dieser Essay sein, der die Aufmerksamkeit auf jenen Bereich lenkt, der dem Denken per se fremd ist und sich ihm deshalb nur allzu leicht entzieht: das Empfinden. Denken erhellt Empfinden erwärmt Denken. 🔄
Für die Bundestagswahl am kommenden Sonntag wird das nicht mehr von Relevanz sein, ebensowenig für die nähere Zukunft. Aber grundlegende Lösungen sind langfristige Lösungen, und es sind keine direkten (mechanischen, eindeutigen, eindimensionalen, geschlossenen), sondern indirekte (komplexe, vieldeutige, vieldimensionale, offene) Lösungen. Ein über Generationen gewachsenes, verstetigtes und bestätigtes Problem 🔄 braucht auch mindestens eine Generation zum Umlernen. Je früher wir es angehen, desto früher erreichen wir das Ziel.
Hanspeter Rosenlechner