VON DEN UTOPIEN ZUR GESELLSCHAFTLICHEN rEVOLUTION

VON DEN UTOPIEN ZUR GESELLSCHAFTLICHEN rEVOLUTION

Zwei Journalistinnen von FUTURZWEI berichteten dieser Tage von einem spannenden Projekt, genannt "Zukunftsbilder der Nachhaltigkeit". Sie setzten sich in zwanzig Treffen mit über zweihundert jungen Leuten zwischen 15 und 26 Jahren zusammen und stellten allen die gleichen zwei Fragen: "Wie stellt ihr euch die Zukunft vor? Und wenn die Zukunft besser werden könnte als die Gegenwart, wie sähe sie dann aus?" Es war nicht das erste derartige Projekt in Deutschland, aber das Ergebnis war wie bei allen anderen äußerst ernüchternd: Die jungen Menschen waren nicht bereit, sich eine bessere Zukunft auszumalen.

"Die Relativierung der eigenen Wünsche und der anderer, das schnelle Verwerfen von Träumen und das soziale Ersticken von Utopien sind Elemente, die in allen Gesprächen auftauchen und sich zu einer zentralen Erkenntnis unserer Reise verdichten: Wie schwer es für die meisten ist, sich eine positive Zukunft vorzustellen. Sich vorzuwagen in Gedankenwelten eines 'Alles könnte anders und besser sein'. Bei den vorsichtigen Versuchen, sich die Zukunft positiv auszumalen, begegnen uns immer wieder peinlich berührtes Lachen und Sätze wie: 'Das ist doch vollkommen naiv.' oder 'Jetzt mal ganz realistisch, das wird nix.' Von einer besseren Zukunft zu träumen, fühlt sich für viele der Jugendlichen ungewohnt, alltagsfern und irgendwie unzulässig an." (ebd.)

Die Enttäuschung ist deutlich herauszuspüren. Doch wenn das die – soziale Gruppen und Schichten übergreifende – Realität ist, frage ich mich, an wen sich der Aufruf richtet:

"Ohne eigene und gemeinsame Vorstellungen davon, wohin es in Zukunft gehen soll, ohne ein Bildinventar der Zukunft, werden wir nicht einmal uns selbst davon überzeugen können, dass es eine gute Zukunft gibt. Geschweige denn andere. Also: Lasst uns das Träumen, das Imaginieren von Utopien wieder gesellschaftsfähig machen und politisch; ernsthaft, selbstbewusst und angstfrei über unsere Best-Case-Zukunft sprechen. Sonst kann es sie nicht geben." (ebd.)

ES FÜHRT KEIN WEG ZUR UTOPIE

Diese jungen Leuten spüren offenbar instinktiv: Es führt kein Weg zur Utopie. Darum hat es keinen Sinn, von einer besseren Zukunft zu träumen. Es bleibt ein Traum – bzw. der Traum artet beim Versuch seiner Realisierung zum Albtraum aus. Dass die beiden Groß-Utopien des 20. Jahrhunderts in einem Meer aus Blut untergegangen sind, war kein Lapsus, der mit mehr Geschicklichkeit vermieden werden hätte können.

Woher kommt die Vorstellung, wohin es in Zukunft gehen soll? Sie entstammt der Phantasie eines Menschen und den persönlichen Werthaltungen (was ist gut? was wäre wünschenswert?). Aus diesen beiden formt sich das "Bildinventar der Zukunft", das den derzeitigen Verhältnissen als utopischer Alternativentwurf gegenübergestellt wird. Utopien imaginieren auf der Basis individueller Vorstellungen eine gemeinsame Zukunft. Was ich für richtig und gut halte, soll für auch für dich, soll für alle das Richtige und Gute sein. Dabei gehen aber von Anfang an die Vorstellungen diametral auseinander: Was Linken gut und notwendig erscheint – Einkommensgerechtigkeit, höhere Steuern, staatlicher Interventionismus… – ist für Marktliberale eine Horrorvorstellung, und vice versa. Es kann somit in Anbetracht gegensätzlicher und vollkommen unvereinbarer Vorstellungen und Werthaltung nur um eins gehen: Wer setzt sich durch? Und schon sind wir beim Thema Macht. Und wo Macht ist, ist auch Gewalt. (Für beide, Macht und Gewalt, gibt es in etlichen Sprachen ein und denselben Begriff: force.)

Was tun, wenn die Erhalter des Status quo alles beim Alten belassen wollen und jeden Versuch einer systemrelevanten Veränderung unterdrücken? Dann finden sich stets einige Radikale, die das nicht akzeptieren. Sie sind auch bereit sind, zu anderen Mitteln zu greifen, um ihr wunderschönes Zukunftsbild zu verwirklichen – wie in Goethes Erlkönig: "mich reizt deine schöne Gestalt; / Und bist du nicht willig, so brauch’ ich Gewalt."

Eine subjektive Vorstellung des Wertvollen und Erstrebenswerten wird dann mit Unterstützung Gleichgesinnter Andersgesinnten aufgezwungen als wäre sie etwas objektiv Richtiges. Radikale Veganer zerstören Metzgereien. Gender-Aktivistinnen sprengen Uni-Vorlesungen von zu wenig Gender-sensible Professoren. Studenten verfolgen auf einem anonymen Blog einen Berliner Politologen mit gehässigen Diffamierungen, die an Rufmord grenzen. Islamisten zwingen "Ungläubigen" ihren religiösen Rigorismus auf. Autonome besetzen Häuser und liefern sich bei deren Zwangsräumung Straßenschlachten mit der Polizei. – Bis zum stalinistischen und zum Nazi-Gesinnungsterror ist es da kein substanzieller, nur noch ein gradueller Unterschied. Weil das "Bildinventar der Zukunft" nicht organisch aus der Gegenwart gewachsen ist, verhält es sich zum Leben wie die Vorstellung eines fertigen Bonsai zum Sprössling: Jeder Trieb, der nicht ins Bild passt wird zurechtgebogen, angebunden oder weggeschnitten. Da eine utopisches Zukunftsbild etwas Ausgedachtes, nicht aus der Lebenswirklichkeit heraus Gewachsenes ist, kann kein organischer Weg vom Heute in diese Zukunft führen.

WAS WERDEN WILL

Wer etwas Heilsames in der Gesellschaft bewirken will, darf nicht bei seinen eigenen Vorstellungen anfangen. Er muss bei den Menschen ansetzen. Die soziale Grundfrage ist nicht: "Was halte ich für das Richtige und Gute?", sondern: "Was will aus den Menschen entstehen? Was halten sie für das Richtige und Gute? Und was kann ich beitragen, damit das, was um mich herum werden will auch werden kann?" Es ist, bildhaft gesprochen, eine Art Hebammenkunst: soziale Mäeutik. Eine Hebamme bringt nicht ihr eigenes Kind zur Welt; sie hilft der werdenden Mutter, deren Kind zu gebären.

Für eine solche Haltung braucht es ein so hohes Maß an Selbstlosigkeit, wie es nur selten anzutreffen ist. Kein Wunder, jeder identifiziert sich mit seinen Idealen und Werten. Sie einfach beiseitezuschieben, um das entstehen zu lassen, was die anderen für richtig und gut halten ist ein totaler Verzicht auf jede inhaltliche Einflussnahme. Die Menschen können sich dann ja auch für etwas entscheiden, was man selbst für grundfalsch und schlecht hält! Und das soll man dann verwirklichen helfen als ob's einen überhaupt nichts anginge? Da kann ja weißgottwas herauskommen!

Bis zu einem gewissen Grad, ja. Aber wenn man das soziale Leben beobachtet, werden bestimmte wiederkehrende Muster erkennbar. Insbesondere dort, wo das, was werden will an seiner "Geburt" gehindert wird:

  • Wo immer die Menschen daran gehindert werden, ihre Religion / Kultur / Traditionen zu leben, ihre Muttersprache zu sprechen, ihre Meinung zu äußern, kurz: wo immer das geistig-kulturelle Leben sich nicht frei entfalten kann, gärt es. Da schwelen Konflikte, die früher oder später aufflammen und explodieren. – Die dem realen Leben abgelesene Konsequenz ist im Umkehrschluss: Je freier das geistige Leben sich entfalten kann, desto weniger religiöse, ethnische, nationalistische… Konflikte gibt es. Freiheit des Geisteslebens ist ein gesellschaftliches Grundbedürfnis. Darum haben alle Gesellschaften, wo es den Bürgern möglich ist ein liberales, pluralistisches Geistesleben bereits erreicht und verfassungsmäßig verankert.
  • Wo immer Menschen aus irgendwelchen Gründen diskriminiert werden, wo immer Ungerechtigkeit herrscht, ist das ein ständiger Herd von Unmut, Zorn und Auseinandersetzungen. Den Menschen werden Rechte vorenthalten, die für alle gleich gelten müssen. Menschenrechte gelten für alle Menschen – sonst hießen sie ja nicht so. Wenn „alle gleich, aber manche gleicher sind“, wo Recht käuflich ist, wo einem Teil der Bürger ihre Menschenrechte nicht vollumfänglich zugestanden werden, kurz: wo immer das Prinzip der Gleichheit im Rechtlichen missachtet wird, wird das elementare Gerechtigkeitsgefühl der Menschen verletzt, und die Menschen begehren dagegen auf. Soziale Verhältnisse, die auf Ungleichheit bauen sind eine Zeitbombe. – Umgekehrt: Die gesellschaftliche Koexistenz verläuft umso friedlicher, je konsequenter das Gleichheitsprinzip im Rechtlichen auf alle Menschen Anwendung findet, ohne Ansehen ihrer Herkunft, ihrer Hautfarbe, ihres Geschlechts, ihrer Religion, ihrer Gruppenzugehörigkeiten, ihrer Ethnie, ihres Vermögens etc. etc.
  • Wo immer die existentiellen Bedürfnisse der Menschen nicht befriedigt werden weil die wirtschaftlichen Verhältnisse ihnen ein Einkommen vorenthalten, von dem sie in Würde leben könnten, da herrscht Not, Elend, Unzufriedenheit, Verzweiflung und ohnmächtige Wut… Unsere „kannibalische Weltordnung“ (Jean Ziegler) ist institutionalisierte Menschenverachtung, glorifiziert als die bestmögliche Welt, die die freien Märkte schaffen. Welche verheerenden ökosozialen Folgen die Anwendung des Freiheitsprinzips auf die Wirtschaft anstatt auf das geistige Leben hat, sieht jeder, der nicht (seelen)blind durchs Leben geht. „Freiheit in der Wirtschaft“ bedeutete Herrschaft des Egoismus der Wenigen um den Preis des Elends der Vielen. Wirtschaftsliberalismus ist Faustrecht. Es ist das faktische Recht des Stärkeren, Schwächere aus zynischem Eigeninteresse daran zu hindern, ihre Lebensverhältnisse zu verbessern. „[…] Zwischen dem Starken und dem Schwachen, zwischen dem Reichen und dem Armen, zwischen dem Herrn und dem Diener ist es die Freiheit, die unterdrückt, und das Gesetz, das befreit“ (Henri Lacordaire). Je existenzieller die Bedürfnisse, desto lauter schreien sie nach wirtschaftlichen Verhältnissen, in denen sie befriedigt werden können. Sie schreien (nicht nach moralisch-ethischer, sondern) nach struktureller Brüderlichkeit im wirtschaftlichen Leben.

FREIHEIT – GLEICHHEIT – BRÜDERLICHKEIT

Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit sind also die realen gesellschaftlichen Grundbedürfnisse der Menschen. Sie sind keine idealistische, weltfremde Utopie; sie sind Realität, hier und jetzt, in jedem Menschen. Sie streben nach Verwirklichung, und wo immer man sie daran hindert, flammen Wut, Empörung, Aggression und Gewalt auf, bis zum (Bürger)Krieg. Ihnen zur Geburt zu verhelfen ist deshalb auch die Konfliktprävention schlechthin. Man entzieht den Auseinandersetzungen den Zündstoff, und sie schlafen ein wie ein Feuer, bei dem man kein Holz nachlegt.

Diese "Geburtshilfe" ist die Fortsetzung der gesellschaftlichen Evolution. Die Demokratie ist genausowenig die letzte Stufe der sozialen Entwicklung wie der Homo sapiens sapiens der Endpunkt der Menschheitsevolution ist. Den drei Grundbedürfnissen immer mehr zu ihrer Geburt zu verhelfen wird freilich vieles auf den Kopf stellen, was uns heute selbstverständlich erscheint. Bessergesagt, es wird die Verhältnisse vom Kopf auf die Füße stellen. Es wird die ausgedachten Konzepte zurück auf den Boden der menschlichen Lebensrealität holen. Ohne eine gewaltsame Revolution zu entfachen, wird es unabsehbare, sozusagen "revolutionäre" Auswirkungen haben: Es wird eine rEvolution.

Für die gesellschaftliche rEvolution sind Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit der dreifache Kompass. Mit diesem Kompass kann jeder Mensch in seinem jeweiligen Lebens- und Einflussbereich loslegen:

  • Schulen? So wenig Bürokratismus wie nötig, so viel Freiheit wie möglich! Du willst deine Frömmigkeit oder deinen Agnostizismus leben? Ohne Einschränkungen! Hetero? Lesbisch? Schwul? Sonstwas? Freiheit für jede sexuelle Identität! Dein Nachbar hat andere Ansichten? Hurra, das macht das Leben bunt! Ein neuer Impuls? Es lebe die Eigeninitiative! Eine neue Idee? Hoch die Phantasie! (Auch die Phantasie, weitere solche Beispiele zu finden.)
  • Ausverkauf von Gemeingütern – Boden, Wasser… – an Konzerne und Investoren? Keine Chance! Freunderlwirtschaft, Protektionismus, "My country first"? No way! Sonderregelungen für den Dorfkrösus oder den XY-Konzern? Da führt kein Weg hin! "Die Kleinen hängt man, die Großen lässt man laufen"? Niemals! Schikanen, Diskriminierung, Erniedrigung, Ungerechtigkeit…? Nicht mit mir! – Gleiche Anerkennung, gleiches Recht und gleiche Pflichten für alle, ohne Ansehen der Person, ihrer Identität, Ethnie, Herkunft… – egal ob "Kaiser, König, Edelmann, Bürger, Bauer, Bettelmann, Schuster, Schneider, Leinwandweber, Kaufmann, Doktor, Totengräber, klein und groß, Himmel und Schloss."
  • "Geiz ist geil"? Nur im Quoten-TV. Sich gedankenlos auf "Killer-Angebote" stürzen? Geht gar nicht! Ohne Skrupel jede Chance für den eigenen Vorteil nutzen, egal wer den Preis dafür zahlt? Unmöglich! – Preise, mit denen alle leben können, d.h. an deren Zustandekommen alle beteiligt werden. Ob bei Milch, Smartphones oder Parfums. (Dann erübrigt sich übrigens auch gleich der Klassenkampf.) Du vermeidest Plastikmüll? Du brauchst kein eigenes Auto weil du mit dem Rad oder mit den Öffis in die Arbeit fährst? Du kaufst nur lokale Produkte und solche aus dem Weltladen? Du isst kein Fleisch mehr, jedenfalls keines aus Massentierhaltung? Du machst einen Bogen um Einkaufszentren und Discounter? Wunderbar, Hut ab! Dir ist das alles schnurzegal? Nicht schlimm, du wirst deinen Gegenpart finden, und irgendwie werdet ihr euch auf korrekte Preise einigen, die du gut bezahlen kannst und von denen die Produzenten gut leben können, gleich wo sie arbeiten.

Man sieht auf den ersten Blick, welcher Gesellschaftsbereich in Mitteleuropa in seiner Evolution schon am weitesten fortgeschritten ist: das geistig-kulturelle Leben. Beim rechtlich-staatlichen Bereich hapert es noch da und dort (Stichwort Lobbyismus…). Am weitesten hinkt der Status quo im Wirtschaftlichen hinter den tatsächlichen Lebenserfordernissen hinterher. Aber wie dem auch sei, wer in seinem Einflussbereich den Kompass von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit nutzt, wird Mittel und Wege finden, diesen drei Grundbedürfnissen irgendwo zur Geburt zu verhelfen, und sei es noch so bescheiden. "Weder ist Hoffnung nötig, um zu beginnen, noch Erfolg, um durchzuhalten" (Wilhelm von Oranien).


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ZUR VERTEIDIGUNG DES RECHTSSTAATS

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Am 19. Februar 2025 haben sechs Bürgerrechtsorganisationen eine gemeinsame Erklärung zur anstehenden Bundestagswahl veröffentlicht: "Gegen die Angriffe auf den demokratischen Rechtsstaat!" Die dort geäußerten Sorgen um die Rechtsstaatlichkeit teile ich ohne Einschränkung: die Infragestellung der Grund-/Menschenrechte, martialische Law-and-Order-Forderungen, exekutiven Ungehorsam (also die Strategie, Gerichtsentscheide schlicht zu ignorieren)

By Hanspeter Rosenlechner