„NUR WEITER SO!”

„NUR WEITER SO!”

Geschockt?

Was war eure spontane Assoziation: Klimaerwärmung? Regierungskoalition? Einwanderung? Politischer Rechtsruck? Rente? Sozialabbau? Was noch darf alles nicht einfach so weitergehen?

Aber es ändert sich nichts. Kosmetik bestenfalls. Aber grundlegend, wie es notwendig wäre? Nope. Nada.

Dabei kannst du sprechen mit wem du willst: Niemand sagt, es könne gern so weitergehen. Außer du erwischst einen "Kriegsgewinnler", einen Profiteur dieser Verhältnisse, einen zynischen Nutznießer, der aus jeder Krise für sich noch Kapital zu schlagen versteht.

Da stellt sich mir die Frage: Wenn eigentlich die allermeisten wissen, dass sich vieles fundamental ändern muss, warum tun sie nichts? Eine mögliche Antwort ist: wegen dem Teufelskreis der Ohnmacht. Sie können nichts ausrichten. Vielleicht haben sie's auch schon ohne Erfolg versucht oder sogar eine aufs Dach gekriegt. Das hat sie frustriert. Das wollten sie sich nicht noch einmal einhandeln. Also haben sie sich auf ihre Couch vor den Fernseher zurückgezogen, wo sie den Weltuntergang sarkastisch bei Bier und Chips kommentieren. Was den Weltuntergang freilich überhaupt nicht beeinflusst. Der geht einfach weiter: Noch mehr Krisen, noch mehr Katastrophen, noch mehr Ohnmacht, noch mehr Frust, noch mehr…. Ist ja durchaus irgendwie verständlich, wenn man's auch nicht gutheißen muss.

DAS ERGEBNIS: WEITER SO.

Das Ergebnis: Weiter so. Noch mehr vom Selben. Alles läuft weiter wie gehabt, so wie es nicht soll.

Neulich habe ich ein ausgezeichnetes Buch gelesen: Das demokratische Weltparlament, Eine kosmopolitische Vision. Jo Leinen und Andreas Bummel stellen darin überzeugend alle Streitthemen und Krisenfelder dar, die bindender globaler Absprachen bedürften. Fixer Normen, Grundrechte und -pflichten, die nur von einem Weltparlament beschlossen, nur mit einem weltweit anerkannten Gericht wie dem Internationalen Gerichtshof entschieden und nur von einer weltweit legitimierten Exekutive durchgesetzt werden können. Nur ein Schlagworte: Klimaerwärmung, Menschenrechte, Turbokapitalismus, Steuerparadiese, Abrüstung etc. etc. Die Liste ist schier endlos, weshalb der Wälzer auch 400 Seiten stark ist. Im letzten Teil geht es um die Möglichkeiten einer Umsetzung, die von den Mächtigsten dieser Welt ständig blockiert wird. Deshalb nennen Leinen und Bummel vier für eine Kursänderung notwendige Faktoren:

  1. Die schleichende Revolution – die geistige Transformation der Gesellschaft;
  2. die Revolution von unten – NGOs, Graswurzelbewegungen, Bürgerproteste…;
  3. die Revolution von oben – aufgeklärte Eliten, die wissen, was es geschlagen hat, und
  4. globale Katastrophen ungeahnten Ausmaßes, die die Menschheit zur Räson bringen.

Wer auf 4. warten möchte, bitte die Hand heben. Wie? Niemand? Warum unternimmt dann keiner was? Wenn die Alternative Weiter so ist? Wenn es wie bei der Klimaerwärmung schon unwiderruflich zu spät sein könnte und ein Plan B nicht existiert? „Es gibt für Unzählige nur ein Heilmittel – die Katastrophe”, schrieb Christian Morgenstern. Es scheint, dass er recht hatte. Offenbar brennt das Feuer noch nicht genug am Dach. Dann muss es leider erst noch schlimmer werden, ehe es besser werden kann. Die Krise ist es, die den Wandel erzwingt. Je fundamentaler der notwendige Wandel, desto schwerwiegender müssen die Krise und der Leidensdruck sein (Punkt 4), damit ein Paradigmenwechsel stattfindet, wenn man ihn nicht freiwillig und aus Einsicht vollzieht (Punkte 1 bis 3). Mit Michail Gorbatschows legendären Worten, die er vor fast drei Jahrzehnten bei seinem DDR-Besuch als Wink mit dem Zaunpfahl an die Regimeführung richtete: „Gefahren warten nur auf jene, die nicht auf das Leben reagieren."

AUF DAS LEBEN REAGIEREN!

Das ist das Stichwort: "Auf das Leben reagieren"! Auf das, was das Leben jedem von uns sagen will, was wir aber geflissentlich überhören. Nicht weil wir schwerhörig, sondern weil wir kleinmütig und bequem sind. Weil wir vielfach zwar wüssten, was richtig und notwendig ist, aber trotzdem keine Initiative ergreifen. Dabei kann nur das die Welt retten: INITIATIVE! "Auf das Leben reagieren!" Für die dringendsten, weil überlebenswichtigen Veränderungen braucht es keine Orientierung. Höchstens den einen oder anderen Hinweis, wo wir am wirkungsvollsten den Hebel ansetzen können. Klimaerwärmung und Abrüstung etwa. Für andere, die der eigentliche Motor hinter den beiden sind – Finanzkapitalismus z.B. – gilt es auf das Leben zu hören und zu reagieren. Denn was sagt uns das wirtschaftliche Leben? Dass es Milliarden Menschen niederwalzt und unter sich in Prekarität, Hunger und Elend begräbt bis alle Betroffenen in irgendeiner Form gleichberechtigt mitentscheiden und das verhindern können. Es gibt unzählige Beispiele von Handelskooperativen, die das in Eigeninitiative erfolgreich umgesetzt haben. Es gibt viele Wohnungsgenossenschaften, wo das praktiziert wird. Wie viele gestandene Unternehmen und Startups wirtschaften schon jetzt so, und wie viel mehr könnten es werden? Es gibt Menschen, die ihren eigenen Nutzen hinter den Gemeinnutzen zurückstellen. Denen ein faires wirtschaftliches Florieren zum Wohle aller Beteiligten wichtiger ist als ihre persönliche Profitmaximierung. Sie sind die ökonomische Avantgarde, sie sind die Zukunft. Und es gibt Menschen, die ihren Egoismus noch nicht so im Griff haben, die zuerst an sich denken und dann (vielleicht) ans große Ganze. Auch sie sind die Zukunft! Nur ist ihr Weg noch ein Stück weiter. Sie müssen erst hautnah erleben, welche Auswirkungen ihr Verhalten auf andere Wirtschaftsteilnehmer hat. Darum ist es notwendig, dass die Benachteiligten, Übervorteilten und Betrogenen auch etwas mitzureden haben. Dass sie ihr Veto einlegen können: Stopp! "Von diesem Preis für ein T-Shirt, für einen Liter Milch, für ein Kilo Kaffeebohnen kann ich nicht in Würde leben!" Und dann wird um einen fairen Preis gefeilscht wie früher am Markt. Und je länger diese Menschen – oder ihre Vertreter – ihre Lebenssituation deutlich machen, desto klarer wird denen, die am liebsten alles zum Nulltarif bekämen was das für Konsequenzen hat. Wie alles im Wirtschaftlichen zusammenhängt. Dass das wirtschaftliche Leben wie ein Mobile ist: Egal, was du an einem Punkt tust oder nicht tust, es hat auf das Ganze seine Auswirkungen. Das wird ein Lernprozess, aber der ist gesund. Die "Egoisten" lernen dabei, was die "Altruisten" jetzt schon können. Das notwendig, denn wie die "Egoisten" ansonsten agieren kennen wir zur Genüge; vielen Dank, mehr braucht es nicht. – Alle Stakeholdergruppen mit einzubeziehen heißt auf das wirtschaftliche Leben reagieren. — Aber es ist nicht das einzige. Das geistig-kulturelle Leben etwa ist es längst gewohnt, dass wir "Ohren haben, um zu hören". Darum wollen sich heute die meisten Menschen nicht mehr vorschreiben lassen, was sie zu denken haben, was sie gut oder schlecht finden sollen, richtig oder falsch. Gäbe es das Urbedürfnis nach ungehinderter Kommunikation nicht, hätte Facebook nicht Milliarden Mitglieder. (Dass Fb durch sie Dollarmilliarden scheffelt, ist ein anderes Thema.) Wo immer das Freiheitsbedürfnis im geistigen Leben ignoriert, wo es gar unterdrückt wird, da revoltieren die Menschen: Im Gebrauch ihrer Muttersprache, in der Ausübung ihrer Religion, in ihren Sitten, Bräuchen und Traditionen… Diese Freiheiten sich entfalten lassen, heißt auf das geistige Leben reagieren. Auch das kann jeder da, wo er gerade steht, ganz nach dem Motto "Leben und leben lassen". "Was für eine himmelschreiende Ungerechtigkeit!" Wem ist dieser Schrei noch nicht aus tiefstem Herzen gedrungen? Ob es nun um Schieflagen bei der Einkommensverteilung geht ("Was?! Winterkorn bekommt an einem Tag mehr Rente als ich in 2 Monaten?!"). Oder um die Sozialhilfebezüge von X. Oder um die Polizei-Schikanen gegenüber "Ausländern". Oder um die ungerechten Bildungschancen ("bist du kein Akademikerkind…"). Oder um Karriere dank Schmiergeld. Oder um Näherinnen in Bangladesch, die um nicht einmal 10€ pro Monat (!) arbeiten müssen (tun sie es nicht, warten…). Oder, oder, oder… Jener Aufschrei muss also Ausdruck eines tiefverwurzelten, instinktiven Gerechtigkeitsbedürfnisses sein. Die Empörung gegen die Ungerechtigkeit wendet sich im Grunde gegen die flagrante Missachtung des Gleichheitsgrundsatzes. So verschieden die Menschen sind: im Grunde, jenseits alles Individuellen und Trennenden gibt es etwas, worin sie alle gleich sind – in ihrer Würde und in ihren Grundrechten. Die meisten Menschen spüren diesen quasi-natürlichen Anspruch jedes Mitmenschen auf Gleichbehandlung in sich, unabhängig von Hautfarbe, Geschlecht, Religion oder was auch immer. Und wenn sie genügend Zivilcourage haben, ergreifen sie für die Benachteiligten Partei, manchmal ohne Rücksicht auf eigene Verluste. Das ist das eigentliche, das "lebendige" rechtliche Leben. Und sich so zu verhalten heißt auf das rechtliche Leben reagieren. Gäbe es dieses wirklich lebendige rechtliche Leben nicht, hätten alle Gesetze keine reale Grundlage.

FREIHEIT, GLEICHHEIT, BRÜDERLICHKEIT

Zusammengefasst: Auf das gesellschaftliche Leben reagieren heißt

  • auf das geistige Freiheitsbedürfnis mit Leben und leben lassen antworten,
  • auf das rechtliche Gleichheitsbedürfnis mit persönlichem Einsatz für Gleichberechtigung ohne Ansehen der Person, und
  • auf das wirtschaftliche Bedürfnis nach Brüderlichkeit mit Kooperation.

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ZUR VERTEIDIGUNG DES RECHTSSTAATS

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Am 19. Februar 2025 haben sechs Bürgerrechtsorganisationen eine gemeinsame Erklärung zur anstehenden Bundestagswahl veröffentlicht: "Gegen die Angriffe auf den demokratischen Rechtsstaat!" Die dort geäußerten Sorgen um die Rechtsstaatlichkeit teile ich ohne Einschränkung: die Infragestellung der Grund-/Menschenrechte, martialische Law-and-Order-Forderungen, exekutiven Ungehorsam (also die Strategie, Gerichtsentscheide schlicht zu ignorieren)

By Hanspeter Rosenlechner