WER HAT DIE MACHT – DIE BÜRGER ODER DIE MÄRKTE?

Wer hat die Macht? Diese Frage habe ich mir auch gestellt, als ich am Wochenende folgende Meldung las, die durch alle Medien ging:
Die sogenannten „Wirtschaftsweisen“ haben die Politik aufgefordert, das Arbeitszeitgesetz zu lockern. „Flexiblere Arbeitszeiten sind wichtig für die Wettbewerbsfähigkeit deutscher Unternehmen“, sagte Christoph Schmidt, der Vorsitzende des Gremiums, der WELT AM SONNTAG. „Firmen, die in unserer neuen digitalisierten Welt bestehen wollen, müssen agil sein und schnell ihre Teams zusammenrufen können. Die Vorstellung, dass man morgens im Büro den Arbeitstag beginnt und mit dem Verlassen der Firma beendet, ist veraltet.“
Auch in seinem Jahresgutachten hatte der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, so der offizielle Name des Gremiums, eine Flexibilisierung des Arbeitszeitgesetzes gefordert. Das Papier hatten die Ökonomen in dieser Woche Bundeskanzlerin Angela Merkel übergeben.
„Der Arbeitnehmerschutz in Deutschland hat sich bewährt, aber er ist teilweise nicht mehr für unsere digitalisierte Arbeitswelt geeignet“, begründet Schmidt den Vorstoß in der WELT AM SONNTAG. „So brauchen Unternehmen beispielsweise Sicherheit, dass sie nicht gesetzwidrig handeln, wenn ein Angestellter abends noch an einer Telefonkonferenz teilnimmt und dann morgens beim Frühstück seine Mails liest. Dies würde nicht nur den Firmen helfen, sondern auch den Mitarbeitern, die mit der digitalen Technik flexibler arbeiten können.“
Mich hat diese Meldung weiter und weiter beschäftigt weil ich sie (vgl. FGB) im größeren Zusammenhang sehe. Es lohnt sich, sie nicht wie ein Gewerkschafter reflexartig vom Tisch zu wischen, sondern etwas sorgfältiger zu betrachten.
FRISS, VOGEL, ODER STIRB
Das heutige Arbeitsrecht in Mitteleuropa erscheint uns so „normal“, dass man sich keine Vorstellung von den vollkommen rechtlosen Arbeitsverhältnissen des vorletzten und noch des letzten Jahrhunderts machen kann. Man kann sie aus Sicht der Arbeiter einfach zusammenfassen: „Friss, Vogel, oder stirb.” Nimm die Arbeit, die du angeboten bekommst, und nimm sie so, wie du sie angeboten bekommst, oder scher dich zum Teufel und verhungere. Es warten genügend andere auf deinen Arbeitsplatz.
Ein krasses Beispiel: Die französische Philosophin Simone Weil, damals noch Lehrerin, setzt sich 1934/35 bewusst harter Fabrikarbeit aus. Sie notiert die Erlebnisse bei ihrem Akkord-Fließband-Job (soweit sie dazu vor körperlicher und seelischer Erschöpfung an den Abenden noch in der Lage ist) in einem Tagebuch, ist jedoch kaum noch fähig, das Erlebte auch zu reflektieren. Ihr Biograph Jacques Cabaud schreibt:
„Manchmal macht ihr die körperliche Anspannung beinahe Spaß; an ändern Tagen erschöpft die Arbeit an der Maschine sie so sehr, daß ihr die Tränen über die Wangen rinnen. Dieses ständige Verausgaben ihrer Kräfte läßt jedoch in ihr ein Gefühl der Selbstentfremdüng wachsen, in dem sie gleichsam der zermürbenden Tätigkeit eines anderen Menschen zusieht. Die Atempause am Samstagnachmittag und Sonntag ist zu kurz, um sich von der Anstrengung der Woche zu erholen. Die Weihnachts- und Neujahrstage bringen keine Erleichterung: Simone erkältet sich, hat Fieber und leidet unter unerträglichen Kopfschmerzen. Noch immer fühlt sie sich krank, als sie am Mittwoch, dem 2. Januar 1935, die Arbeit bei Alsthom wieder aufnimmt. Trotz ihrer Kopfschmerzen gelingt es ihr anfangs noch, das Auf- und Abladen der Maschinenteile vor dem Schmelzofen zu bewältigen. Aber sie mutet sich zu viel zu, und bald verbrennt sie sich vor Müdigkeit immer wieder die Hände. Schließlich kommt der Augenblick, in dem sie nicht mehr genug Kraft findet, die Ofentür herunterzulassen. Die Werkstücke im Ofen scheinen schon verloren. Da kommt ihr ein Arbeitskamerad zu Hilfe.“
Am Morgen des 9. Januar gerät das Haar einer Kollegin in einem Maschine; Glück im Unglück: die Kopfhaut ist noch dran, nur eine große kahle Stelle bleibt. Am Nachmittag steht die Frau wieder an ihrem Arbeitsplatz.
„Für den Augenblick gilt nur eins: schneller und nochmals schneller zu arbeiten. Sie kann sich nicht leisten, sich mit etwas anderem abzugeben als mit der Arbeit unter ihren Händen; das war die einzige Voraussetzung für eine gute Stückzahl. Und ohne ausreichende Stückzahl keine Arbeit und damit am Ende kein Dach über dem Kopf und nichts zum Leben.”
Da Simone zu viel Ausschuss produziert und die geforderte Stückzahl von 10.000 nicht erreicht, wird sie gefeuert. Sie findet in einem Eisenwerk wieder Arbeit. Dort ergeht es ihr nicht anders, nicht zuletzt aufgrund ihrer körperlichen Ungeschicktheit und ihrer Beeinträchtigung durch chronische, schwere Kopfschmerzen.
„Am ersten Tag schafft sie unter äußerster Anspannung 400 Stück in der Stunde. Um vier Uhr kommt der Vorarbeiter (…) zur Abnahme. In sehr höflichem Ton äußert er: ‚Wenn Sie nicht 800 schaffen, kann ich Sie nicht behalten. Wenn Sie es in den nächsten beiden Stunden auf 800 pro Stunde bringen, kann ich Sie vielleicht behalten. Manche machen hier 1200 Stück!’ Innerlich kochend, arbeitet Simone unter Volldampf und bringt es auf 600. Der Vorarbeiter kommt zurück, zählt und erklärt, das sei nicht genug. Um sechs Uhr, in kalter Wut, sucht sie nach dem Abteilungsleiter und fragt ihn, ob sie am andern Morgen wiederkommen solle. ‚Kommen Sie mal auf jeden Fall; dann werden wir ja sehen’, ist die Antwort. Eins ist ihr klar: sie muß die Arbeitsleistung irgendwie steigern. Die Fabrik war ‚eine typische Strafkolonie (wahnsinniges Arbeitstempo, ewig zerschnittene Finger und rücksichtslose Kündigungen)’.”
Tempodruck, Leistungsdruck, und als ständiges Damoklesschwert die Kündigung. Da die Akkordarbeiter nach Stückzahlen bezahlt wird, hängt die Existenz der Arbeiter davon ab, dass sie sich diesem Druck widerstandslos unterwerfen. Aber nicht einmal dadurch haben sie ihr Geschick in ihrer Hand. Marode Maschinen, Nachlässigkeit bei der Versorgung mit notwendigen Werkzeugen u.ä. machen es unmöglich, die geforderten Stückzahlen zu erreichen. Ausbaden müssen sie es:
„Eine wegen ungenügender Wartung defekte Drehbank konnte den Arbeitsgang derart verlangsamen, daß der Arbeiter für weniger als das Existenzminimum arbeitete, da der Lohn von der Stückzahl abhing.”
Weil erlebt sich als vollkommen ausgeliefert, fremdbestimmt, aller Rechte und ihrer Würde vollkommen beraubt. Ihre nächsten Anstellung sucht sie – nach vielen frustrierenden Abweisungen – bei Renault. Als sie hört, dass der Personalchef geschminkte Frauen bevorzugt, lässt sie sich auf diese Demütigung ein (zum ersten und vermutlich letzten Mal in ihrem Leben geschminkt; #MeToo 1935) und bekommt den Job. Acht Jahre später schreibt sie in einem Brief an Pater Perrin rückblickend:
„Was ich da durchgemacht habe, hat mich so nachhaltig geprägt, dass, wenn mich ein Mensch, welcher auch immer, unter was auch immer für Umständen, ohne Brutalität anspricht, ich mich noch heute des Eindrucks nicht erwehren kann, dass es sich um einen Fehler handeln muss und dass der Fehler sich wohl leider gleich auflösen wird. Ich habe damals für immer den Prägestempel der Sklaverei aufgedrückt bekommen. (…) Seither habe ich mich immer als Sklavin gefühlt.“
DER PRÄGESTEMPEL DER SKLAVEREI
Stellvertretend für die Millionen und Abermillionen, die eine solche Arbeitssituation nur stumm durchlitten haben, macht dieses Dokument zweierlei eindrucksvoll deutlich: Zum Einen das Bestreben, den Menschen rücksichtslos zu mechanisieren. Zum Anderen wird offensichtlich, wie sich die totale Liberalisierung der Arbeitsverhältnisse für die Menschen auswirkt. Sie werden zu einem Rad in einer Maschinerie, zu einem Ding ohne Würde und ohne Rechte, reduziert auf Funktion und Output – zu modernen Sklaven.
Simone Weils Beispiel ist krass, und scheinbar hat es mit heutigen Arbeitsverhältnissen nur noch wenig zu tun (obgleich – wenn man Günter Wallraff hört…). Aber auch wenn viele von uns in Europa auf hohem Niveau jammern: Wo ist der (nicht bloß graduelle, sondern grundsätzliche) Unterschied zwischen damals und heute? Der Luxus eines gemeinsamen Mittagessens in der Familie ist ohnehin kaum jemandem möglich; abends trudeln die Eltern von der Arbeit und die Kinder aus der Tagesbetreuung ein, und dann ist Feierabend. Gemeinsames Abendessen, Ausklang. Immerhin: Papa / Mama sind physisch präsent. Aber wie viele Menschen sind jetzt schon beim Frühstück und Abendessen und am Wochenende nur körperlich zuhause anwesend, aber mit dem Kopf in der Firma? Wie viele essen mit ständigen nervösen Seitenblicken auf das Smartphone neben dem Teller weil jederzeit etwas vom Chef reinkommen kann? Werden sie auch noch zu einer „unheimlich dringenden und wichtigen“ Telefonkonferenz abkommandiert, sind sie nicht einmal mehr physisch präsent. Letzten Sommer war eine Familie bei uns auf Urlaub, wo der Vater sich nahezu täglich stundenlang in unser Speisezimmer zurückzog, um zu arbeiten, während sich seine Frau und seine Tochter die Zeit am Pool oder mit Spielen vertrieben. Er war für einen Finanzdienstleister tätig, der von ihm verlangte, auch im Urlaub ständig neue Projekte zu auszuarbeiten und laufende zu aktualisieren. Der Mann wirkte völlig erschöpft, ausgebrannt – ohne Hoffnung auf irgendeinen Ausweg aus diesem ruinösen Hamsterrad. „Ich muss das machen“, sagte er, „sonst…“ Wie alle anderen Weisungsempfänger auch. Wer kann es sich denn leisten, zu sagen: „Damit beschäftige ich mich morgen; jetzt hab ich Feierabend und genieße das Essen mit meiner Familie“? Oder „Tut mir leid, aber am Wochenende beantworte ich keine Mails“? Oder „Warum sollte ich das Handy im Urlaub nicht ausgeschaltet haben?“ Wer kann es sich leisten, solche Übergriffe zurückzuweisen, wenn das den Verlust des Jobs zur Folge hat? Wer zahlt dann die Miete, die Nachhilfestunden, den Kredit…? Ist nicht den meisten von uns nach wie vor „der Prägestempel der Sklaverei aufgedrückt“?
UNSER ARBEITSRECHT IST NICHT „NORMAL“
Weils Beispiel macht auch deutlich, welch wertvolle Fortschritte seitdem gemacht wurden. Es schärft den Blick dafür, worin dieser Fortschritt im Wesentlichen besteht: dass die Arbeit ein großes Stück weit aus dem Strudel der Marktdynamik, also aus der Wirtschaft herausgerissen wurde. Man hat die Arbeitsverhältnisse auf eine rechtliche Basis gestellt. Es ist nicht mehr nach dem Motto „friss, Vogel, oder stirb” der Willkür eines Fabrikherrn überlassen, wie viel, unter welchen Bedingungen und zu welchem Lohn er seine Arbeiter schuften lässt. Vielmehr müssen sich die Arbeitgeber nach Regeln richten, die aus Menschenrechten abgeleitet sind und nicht aus wirtschaftlichen Nutzenkalkülen. Das ist also – wie die Demokratie überhaupt – alles andere als „normal“, sondern eine nie zuvor dagewesene rechtliche Errungenschaft des 20. Jahrhunderts.
Genau dieser Fortschritt ist es, den die Neoliberalen wieder rückgängig machen wollen. Sie wollen durch unermüdliches Lobbying erreichen, dass die Arbeitsverhältnisse (d.h. die Rechte der Arbeitnehmer) wieder von den Märkten (d.h. von der jeweiligen Dynamik der Wirtschaft) bestimmt werden. Das etikettieren sie mit dem positiv besetzten Begriff „Flexibilisierung“ (oder möchte irgend jemand unflexibel sein?!). Wenn Manager es für wirtschaftlich notwendig halten, sollen sie ihren Untergebenen das Recht auf Feierabend und arbeitsfreies Wochenende legal entziehen dürfen. Das Recht, zu bestimmten Zeiten über sich selbst bestimmen zu dürfen soll nicht mehr unbedingt gelten, sondern nur noch bedingt. Wann, entscheiden die Vorgesetzten nach Gutdünken.
Man kann das wie zumeist als Widerstreit von Interessen sehen: Die Unternehmen haben ein Interesse daran, möglichst umfänglich über die Arbeitskraft ihrer Mitarbeiter zu bestimmen; letztere haben ein Interesse an Arbeitsverhältnissen, die solche Übergriffe verhindern. Es sieht also so aus als bestünde das Problem nur darin, dass wie oft im Leben ein Egoismus gegen den anderen steht. Aber wie ich durch die kursiv gesetzten Gegenüberstellungen schon angedeutet habe, geht es hier um weit mehr als deinen Eigennutzen vs. meinen – um weit mehr als solche Symptome. Es geht um das System und um das hinter ihm stehende Paradigma:
DAS PRIMAT DES RECHTS ÜBER DIE KONZERNE
Im 20. Jahrhundert hat sich ein eigenständiger Rechtsstaat gegenüber der Wirtschaft etabliert, der ihr gegenüber – im Auftrag des Souveräns, des Bürgers – souverän agieren kann. Er kann ihr insbesondere die Spielregeln vorschreiben. Der Staat hat gegenüber der Wirtschaft das Primat inne.
Darum ist genau die Erodierung dieses Primats das Haupt-Ziel der Wirtschafts-Lobbyisten; darum zielen genau auf seine Aushöhlung und Zerstörung all die sogenannten Freihandelsabkommen. Bei TTIP, TISA, CETA et cetera geht es ja nicht eine Befreiung des Handels (der ist längst global vernetzt), sondern um eine Befreiung der Konzerne von rechtsstaatlichen Einschränkungen. Es geht letztlich um die Umkehrung des Primats des Staats (der 99%) über die Wirtschaft (dem 1%); insbesondere – da sie sich um die Billionen institutioneller Investoren dreht – über die Finanzwirtschaft.
Forderungen nach „Flexibilisierung“ der Arbeitszeit u.ä. sollten also im größeren Zusammenhang gesehen werden. Es geht um weit mehr als um Symptome wie dass „Firmen (…) agil sein und schnell ihre Teams zusammenrufen können“ (…) oder dass „ein Angestellter abends noch an einer Telefonkonferenz teilnimmt und dann morgens beim Frühstück seine Mails liest.“ Es geht um die systemische Ökonomisierung unseres ganzen Lebens, und es geht darum, was prinzipiell für die Arbeitsverhältnisse maßgeblich ist: wirtschaftliche oder (menschen)rechtliche Erwägungen. Und letztlich geht es um die Frage: WER HAT DIE MACHT – DIE BÜRGER ODER DIE MÄRKTE?
(Teile dieses Beitrags sind einem Kapitel aus FGB entnommen – ein kleiner Vorgeschmack also auf einige Grundgedanken und praktische Perspektiven, die sich aus ihnen ergeben. Herzlichen Dank an meine Frau Eva-Maria für wertvolles Feedback und Input!)
***
[Diese in kürzeren Abständen erscheinenden Beiträge setzen sich mosaikartig zu einem neuen Gesamtgesellschaftsmodell zusammen. Sie sollen dessen organische Konsistenz und universelle Anwendbarkeit zeigen. Ihr eigentlicher Sinn und Zweck ist jedoch die Umsetzung dieses Modells – im Kleinen wie im Großen. Dafür müssen Sie weiter verbreitet werden. Vielen Dank im Voraus!]